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Sehen Sie Napoleon nun in dem nächsten Buche, mit Blindheit geschlagen, sich in die Eisfelder Rußlands hineinwagen, tollkühner, als es der wahnsinnige Karl XII. gewesen. Napoleon, der die Geographie aller Länder des bewohnten Erdballes derart beherrschte, daß ihm keine Falte des Geländes, keine Vizinallandstraße, keine Erträgnisquelle, sei es in bezug auf Lebensmittel, Kleidung, Futter, Unterkunft oder was sonst ein Heer braucht, verborgen blieb, dieser umfassende Geist setzt nun eine halbe Million Menschen und 160 000 Pferde gegen ein unermeßliches, menschenarmes, arktisches Reich ohne Straßennetz, ohne Magazine, ohne schiffbare Flüsse und eisfreie Häfen in Bewegung.
Alles war zu verlieren, zu gewinnen nichts. So verliert er alles. Mit Moskau verbrennt mehr als eine große Stadt. Beresina ist eines der größten Erlebnisse des größten Volkes auf Erden; es ist noch mehr, es ist das erste Wanken des größten aller Menschen, Napoleons.
Wie konnte er die Wirklichkeit so verkannt haben, er, der den Geist des Realen so sehr liebte und die Ideologie, die rein gedankliche Übermacht so haßte?
Von wem, wenn nicht von ihm, habe ich die ungeheure Liebe zu allem, was wirklich ist, vom schmutzigsten Winkel im Marais in Paris und dem schmutzigsten Winkel in der Seele eines Gobseck oder einer Madame Marneffe bis zur wirklichen, fleischgewordenen Seelenfigur meiner Seraphita? Napoleon ist mein Vater, und ich bin sein Sohn.
Dieser Geist des Realen ist unsere Gottheit. Und dieser Gottheit sehen Sie ihn jetzt zum erstenmal abtrünnig.
Ich kenne Rußland. Kein Muschik, aber auch kein Fürst wagt sich im Winter auf die Reise ohne Säcke mit Mehl, Grütze, Schinken, Speck, Zucker, Tee, Salz, hierzu Decken, Pelze und Federkissen, Hafer für die Pferde und Öl für die Laternen. Aber Napoleon durchzieht mit seinen ungezählten Massen das unfruchtbare Land und hat dies nicht bedacht. Tapferkeit ist herrlich, aber machtlos gegen Hunger. Man kann sich gegen die beherzten russischen Bärenmützen schlagen, aber nicht gegen Nordwind und Eiseskälte. Trotz alledem ist dieser Mann so groß, daß er nicht auf einmal untergehen kann. Aber in ihm selbst ist jetzt der Zug zur Vernichtung wie früher der Zug zum Herrschen und zur Macht.
Hat er jetzt dem erbarmungslosen Element getraut, so traut ein Jahr später der ewig Mißtrauische den Österreichern, er verläßt sich auf die Habsburger, deren Undank notorisch ist, da es ja ein Sprichwort vom Dank der Habsburger gibt. Aber Napoleon stützt sich auf Kaiser Franz, dessen erbärmlichen Charakter jedes Kind durchschauen kann.
Napoleon nahm stets (wie ich) bei den Handlungen der Menschen die gemeinsten Motive an, und mit Recht; bei Franz, wie später bei den Engländern, erwartet er Edelmut, ein Ding, das Franz nur vom Hörensagen kennt.
Ich bringe nun die berühmte Unterredung Napoleons mit Metternich, den ich in Wien kennengelernt habe und den ich zu meinen besten Freunden zähle. Es ist der 10. August 1813.
Napoleon sagt sich: Ich muß als der Überlegene wieder im Felde erscheinen. Nun habe ich Waffenstillstand. Österreich muß ich zum Verbündeten gewinnen. Ich habe Österreich zum Verbündeten schon gewonnen und kann ruhig das Letzte fordern, denn unsere Ziele und Mittel sind die gleichen. Franz ist Kaiser wie ich. Franz ist mein Schwiegervater, und Verwandte bekämpfen einander nicht.
Nie wird, dies sagt ihm Balzac, ein Duell zwischen Menschen so entschieden, so erbarmungslos bis auf das Letzte ausgekämpft wie gerade zwischen Verwandten. Alle meine Bücher bewiesen dies mit wissenschaftlicher Sicherheit. Jedermann hat dies erlebt, bloß Napoleon weiß es nicht. Metternich bietet ihm die Alpen und den Rhein als Grenze, 80 Millionen Menschen bleiben Napoleon, wenn er will, statt der 100, die er hat.
Aber Napoleon kann sich nicht zufriedengeben. Wer sich einmal an Millionen berauscht hat, wird nicht wieder nüchtern.
Napoleon schwankt. Österreich, das ist Metternich und Franz, sind längst zum Abfall entschlossen, und der Fürst kann es sich nicht versagen, mit dem Löwen zu spielen, ihn zu quälen, sich an seinem ärgerlichen Gebrüll lebhaft zu ergötzen. Er läßt den Kaiser schreien, im Kabinett sich austoben und, ganz erschöpft von Wut, heiser von Vorwürfen, in seinem Lehnstuhl mit dem Gesicht aufs Knie niederfallen.
»Keine Kapitulation!« flüstert heiser Napoleon. »Hören Sie, Metternich, ich schwöre es, zuvor muß das Blut von Generationen vergossen werden. Eher müssen meine Feinde auf den Höhen von Montmartre stehen, bevor ich auf einen Fußbreit Landes verzichte. Euer Souverän«, dabei steht er auf und beugt seine starre gelbe Maske mit den tiefliegenden Lichtern, den hellblauen, fest blitzenden Augen über Metternichs blankes, zartes, blond umflaumtes Gesicht, »Eure Souveräne, die auf dem Thron geboren sind, können die Empfindungen nicht begreifen, die mich bewegen. Sie mögen überwunden in ihre Hauptstadt zurückkehren und sind doch nicht weniger als zuvor. Aber ich«, und hier schüttelt er sein schwarzes, straffes Haupthaar, als stünde er auf freiem Felde allein, »ich bin Soldat. Ich bedarf der Ehre. Ich brauche Ruhm. Ich kann mich nicht geschwächt inmitten meines Volkes zeigen. Ich muß groß, ruhmvoll, bewundert bleiben.« Die Kaminuhr schlägt zwölf. Metternich erhebt sich kühl. Er hat klugerweise dem Kaiser das letzte Wort gelassen. Die Feindseligkeiten mögen beginnen, da es der Korse so will. Es muß sein, und Österreich ist Frankreichs Freund nicht mehr. In Österreich und Preußen jubeln die Massen über den gerechten Krieg, auf den Höhen flammen die Freudenfeuer auf. Aber Napoleon glaubte nicht, was er sah. Er hörte nicht, was er vernahm. Erst nach der Niederlage bei Leipzig werden Sie sehen, wie er den Umschwung des Geschickes ahnt. Denn es ist sein Stern, der ihn verläßt.
Blassen, finsteren, versteinerten Gesichts, die Hände auf dem Rücken, geht der starke, düstere Mann mit schweren Bärenschritten auf und ab und ruft wiederholt aus: »Bonaparte, Bonaparte, vient au sécours de Napoléon!« Auf, auf, Bonaparte, und Napoleon zu Hilfe! Ich aber lasse ihn geschlagen sein und geschlagen werden, so wie es das Geschick mit ihm getan hat.
Es folgen zwei Szenen des privaten Lebens bei dem welthistorischen Manne. Ich schildere die Frau, die zweite Gattin, die jüngere, schönere, die echte Prinzessin, die mit dem Diadem auf dem Haupte geborene Marie Louise von Österreich. Diese Frau hatte Napoleon gewählt, oder besser gesagt, Gott hat sie ihm in seinem Zorne gegeben. Diese Frau hat der Kaiser geliebt, oder besser gesagt, sie liebte ihn nicht. Er schenkte ihr blindes Vertrauen, und sie war so, wie sie folgende Szene zeigt.
Die verbündeten feindlichen Herrscher sind in Paris eingezogen. Man hat davon gehört, daß Napoleon in Fontainebleau den Versuch gemacht hat, seinem Leben durch Gift ein Ende zu machen. Man ist der Ansicht, er sei verloren. Sofort wird ein Kurier an den Grafen von Saint-Aulaire abgesandt, den Kammerherrn der Kaiserin, um sie würdig auf den Tod ihres Gatten vorzubereiten. Sie befindet sich im Lustschloß zu Blois. Es ist Mittag. Graf Aulaire steht vor ihr. Der verhängnisvolle Brief befindet sich entfaltet in ihren Händen. Sie ist im Peignoir halbnackt aus dem Bette geschlüpft, hat die Füße mit den schwanengefütterten Pantoffeln beschuht und überfliegt nun aufgeregt mehrere Male den Brief. »Gibt es kein Mittel mehr, den Kaiser zu retten?« fragt sie. »Vielleicht ist er tot?« Saint Aulaire mußte antworten: »Es ist mehr als wahrscheinlich, daß zur Stunde unser Kaiser nicht mehr unter den Lebenden weilt.« Einen Augenblick herrscht vollkommene Stille. Der Graf, bestürzt, erschlagen, vernichtet, starrt todtraurig zur Erde. Marie Louise mißversteht diesen Blick und sagt in ihrem österreichischen Dialekt: »Was gucken Sie denn nach meinen Füßchen? Die Pantoffel taugen nichts, viel zu groß für meinen kleinen Fuß!« Sie lacht schelmisch über das ganze Gesicht, streift sich die herabfallenden blonden Flechten hinter das Ohr und schellt ihrer Kammerfrau um die Schokolade. So hat die Kaiserin, das wurde mir streng verbürgt, die Nachricht vom Tode ihres Gemahls aufgenommen.
Am Abend klärt sich alles auf, und Marie Louise schreibt an ihren Mann. Er antwortet aus Fontainebleau: »Meine gute Louise, ich habe Deinen Brief erhalten, ich ersehe aus demselben allen Deinen Kummer. Das vermehrt den meinigen. Ich erfahre mit Vergnügen, daß der Graf Dir Mut zuspricht. Er rechtfertigt durch dieses edle Betragen die große Meinung, die ich von ihm hatte. Sage es ihm in meinem Namen! Er soll mir oft kleine Nachrichten über Deinen Gesundheitszustand schicken. Suche sogleich in die Bäder von Aix zu gehen. Bleibe gesund! Sorge für Deine Gesundheit! Sorge für Deinen Sohn, der Deine Pflege nötig hat. Ich bin im Begriffe, nach der Insel abzureisen, von wo ich Dir schreiben werde. Ich werde ebenfalls alles tun, um Dich zu empfangen. Schreibe mir oft. Adressiere Deine Briefe an Deinen Oheim. Lebe wohl, meine gute Marie!«
Jetzt reist Napoleon durch Frankreich unter dem Schutze zweier österreichischer Offiziere. Man weicht ihm aus. Man bedroht ihn. Er muß sich in österreichische Uniform verkleiden, um der Wut der Menge zu entgehen.
Mit 25 Jahren Brigadegeneral, mit 26 Oberfeldherr, mit 30 Erster Konsul, mit 35 Kaiser der Franzosen, mit 40 Halbgott und mit 45 Jahren ein verachteter, machtloser Flüchtling, so hat sich das Gericht Napoleon auf dem Speisetische der blasierten Götter geändert. Der Koch oben ist noch nicht zufrieden, und man wird diesen Braten mit einer andern Sauce probieren, ohne nach seinen Wünschen zu fragen. Denn was sind wir ihnen?