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Noch während der Rede hatte das feindliche Gemurmel, das zischende Lachen und boshafte Flüstern nicht einen Augenblick lang aufgehört. Der Haß gegen Peytel war offenbar. Die Rede wirkte nicht.
»Es faßt nicht, ergreift nicht, es rührt nicht«, flüstert der Dichter vor sich hin, glaubt sich unbemerkt, doch kennen ihn viele hier, und jeder hat es gehört. Dabei hätte Balzacs Rede, hätte er den Mut gefunden, sie selbst vorzutragen, Peytels Freispruch auch gegen die Überzeugung der Richter bewirkt. Im Munde des zarten Anwalts, der seine innere Überzeugung nicht ganz verbergen konnte, mußte sie aufreizend wirken. Andrerseits hätte man Peytel nach einer larmoyanten Rede Lablanches mildernde Umstände bewilligt, und zwar aus zwei Gründen, erstens, weil kein Geständnis vorlag, sondern nur Indizien, zweitens, weil man im Interesse des Rufes der Provinz gern das Äußerste vermieden hätte. Nun aber war alles verändert, die Jury zog sich zurück, um nach einer auffallend kurzen Beratung in den Saal zurückzukehren und das Verdikt auszusprechen. Die Schuld Peytels wurde einstimmig bejaht. Mildernde Umstände wurden nicht zugebilligt, und es wurde, ebenfalls mit Stimmeneinheit, die Todesstrafe gegen Peytel verhängt.
Es ist Mittag. Die Sonne fällt stark in den hellen, kahlen Raum. Sie beleuchtet geradezu das Gesicht des Verurteilten, der das Verdikt stehend anhört. Die Sonne, über den Schnee, der im Gerichtsvorhof liegt, bläulich funkelnd herübergeworfen, erhellt seine schön gelockten, kastanienbraunen Haare, seine grünlichen, durchdringenden Augen, seinen willensstark gezeichneten Mund, dessen äußerste Winkel nach innen sich zu verbergen scheinen.
Herrlich ernst sein Blick, wenn er, wie gerade jetzt, seine Todesrichter von vorn anschaut.
Der Freund hat das kaum zu beschreibende, nur nachzuerlebende Gefühl, jetzt endlich sei er dort, wovor er immer geschaudert. Zwischen zwei Gendarmen, die Arme wohl noch frei und fessellos, aber dennoch schrecklicher gebunden als sonst jemand, vom Haß aller umgeben, hilflos gegen die Gewalt, wehrlos gegen das Unrecht, ein Stück lebendes Fleisch, das sich schädlich gezeigt hat, das man vertilgen will und wird – davor muß er sich zeit seines Lebens, unwissend im Grunde, gefürchtet haben, er muß dieser Stadt, diesem Raum, diesen Richtern und Gendarmen ausgewichen sein, um ihnen doch zu begegnen und jetzt ohne Rettung ausgeliefert zu sein. Balzacs tiefer, fast stöhnender Seufzer geht in den Beifallsbezeigungen der erregten Menge, die endlich befriedigt ist, unter. Um so mehr beherrscht sich Peytel. Er lächelt, er entblößt seine elfenbeinfarbigen Zähne, öffnet die Lippen, wobei sein tief dunkelrotes, korallenfarbiges, glänzendes Zahnfleisch sichtbar wird. Es ist im Grunde kein Lächeln, sondern eher die Anstrengung, die zu einem solchen führen müßte, ohne die Wirkung. Trotzdem oder eben deshalb hat dieser Augenblick etwas Schauriges, halb Süßes, halb grauenhaft Abschreckendes, und das um so mehr, als die Augen des Verurteilten, ohne ein Zucken der dichten, hellbraunen Wimpern, sich plötzlich von einem bläulichen Grün in ein stechendes, geschliffenes Silbergrau wandeln. In seiner schönen, sehnigen Hand preßt der Notar sein goldgelbes Seidentuch zusammen, das aus dem Besitze des Anwaltes stammt und das nachts zum Warmhalten der Kaffeekanne gedient hat. Aber noch ist die Verlesung des ganz kurz gehaltenen Urteils nicht zu Ende, als sich alles löst: die Lippen sinken über den elfenbeingelben Zähnen zusammen, das Lächeln hört auf, die Hände weichen auseinander, das Seidentuch fällt knisternd zur Erde. Es ist sehr still geworden.
Der Dichter, der bleich, schweißbedeckt, zitternd vor Erregung, neben dem Notar steht, von ihm bloß durch die hellgelbe, hölzerne Barriere geschieden, bückt sich nach dem Tuche, obgleich ihm bei seiner Leibesfülle und nach der Aufregung der letzten Stunden selbst diese Bewegung schwerfällt. Er nimmt das Seidentuch, reinigt es vom Staube und reicht es Peytel hinauf.
Peytel sieht Balzac schweigend mit seinem kalten, grauen, funkelnden Blicke an. Das war alles.