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Nun sehen Sie mich am 2. November vorigen Jahres im Gasthofe zu Macon, so fest entschlossen, ohne meine Frau heimzukehren, wie es nur je ein Mensch gewesen ist, einen andern ums Leben zu bringen. An Louis Rey dachte ich nicht. Er hat mir als Stallknecht und Kutscher redlicher gedient, als man es von seinesgleichen sonst zu erwarten hat. Was ich in dem Verhöre über ihn Nachteiliges ausgesagt, ist falsch. Ich hätte diese Angaben nicht gemacht, wenn der arme Teufel Angehörige hinterlassen hätte, denen die üble Nachrede hätte schaden können. Aber er stand allein in der Welt. Er war ein Findling, und wir haben seinen richtigen Namen nie gewußt.
Setzen Sie den Entschluß: Felice muß fort! als unabänderliche Größe hin, und nehmen wir wie Napoleon das alles als ein analytisches Problem der Mathematik. Integrieren Sie meine Lage, meinen Charakter, den Charakter meiner Frau, die Möglichkeit, die Frau an einer gefährlichen Stelle des Weges, etwa bei Mount-Grigoux, in die tiefe Schlucht zu stürzen, die günstige Beschaffenheit der Witterung, Regen, Gewitter, völlige Dunkelheit. An jeder Stelle weiter im Gebirge blieb die Möglichkeit bestehen, das Vorhaben auszuführen, daher mußten wir unsern Weg tiefer ins Gebirge nehmen. Die Rechnung ist nun so aufgestellt. Der Plan richtig. Die Vorbereitungen angemessen. Vergessen Sie, liebster Balzac, nicht: der Mann, den Sie Ihres Vertrauens gewürdigt haben, ist ein Mörder. Er war es immer, ohne daß er selbst es bis zu seinem fünfunddreißigsten Jahre wußte. Dazu hat ihn die Natur geschaffen, dabei muß es bleiben. Meine Frau muß es geahnt haben. Trotzdem hat in ihrer Seele ein Gefühl bestanden, das der Liebe zu mir ähnlich war. Und damit löst sich vieles. Denn setzen Sie in der Rechnung: Peytel – Alcazar für Peytel Verbrecher, bis dahin ohne Tat; Unhold, bis dahin Notar; Säufer, fünfunddreißig Jahre ohne Wein; Blutmensch, bis zum entscheidenden Tage ohne Blut, so verstehen Sie alles, oder fast alles, was ich Ihnen über Felices Benehmen am Hochzeitstage, also über ihr Verbergen und dann doch Hervorkommen, Küssen, Sichwehren und Weinen, über die Szene mit dem Hunde und endlich mit den abgeschnittenen Nägeln gesagt habe.
Sie, die Alcazar, wußte, wer ich war. Sie hat dementsprechend, wie ich heute sagen muß, für eine Frau außerordentlich folgerecht gehandelt. Für ihre Liebe verdient sie keinen Vorwurf. Es gibt Menschen, die Unrat lieben. Weshalb soll eine schöne, junge, wenn auch schielende Frau mit etwas unreinem Blut (warmes Negerinnenblut war dabei) nicht auch einen Peytel lieben? Sie hat es getan und bewies durch die Tatsache die Möglichkeit. Sie kann diesem Mann, Peytel, aus dem Grunde ihres Herzens zugetan sein und, heute begreife ich es, indem ich es Ihnen erzähle, und doch Angst vor ihm empfinden. Denn auch ich fühle Angst vor Ihnen und Liebe zugleich. Wohl läßt sie, Felice, daheim den Hund zu ihren Füßen schlafen, nachdem sie sich seines Gehorsams und seiner Hundeliebe versichert hat. Ist sie aber in Gefahr, ruht sie erst einmal tief auf den glänzenden, warmen, schwellenden Kissen des Wagens und hat bloß einen, den schlafenden Diener zum Schutz, ist sie mit mir in weiter Nacht allein – da vergißt sie ihre Angst, bald gibt sie sich innig ihrer Liebe hin, führt meine Hand, die schon den schweren Griff der Pistole erfaßt hat, an ihren Leib, und ihren Kopf mit den vielen, traubenartig herabhängenden Flechten schmiegt sie in den Kragen meines Mantels.
Bis hierher ist alles geklärt. Aber was ich Ihnen jetzt zu sagen im Begriffe bin, bringt eine neue Tatsache, die seltsamerweise den Ärzten und auch Ihnen entgangen ist. Den Ärzten, die den toten Körper der unseligen Frau untersucht haben. Ihnen, der Sie die tote Seele des unseligen Mörders angesehen haben. Meine Gattin befand sich in guter Hoffnung. Darauf bezieht sich meine Briefstelle: das Gutachten der Ärzte sei günstig. Denn sie haben dies nicht gesehen. Mich aber bringt ebendieser Umstand ins Verderben. Nicht als ob er die Last meiner Sünde vergrößerte, sondern weil ich mit dieser Größe, ich, ein rechnender Mörder, nicht gerechnet habe. Und doch hätte es der Blinde mit dem Stock fühlen können. Schon weil die Frau in letzter Zeit so sanft, freundlich, gefällig sich gezeigt. Ich fühlte es und schrieb es auch ihrer Mutter. Der Brief liegt bei den Akten. Hier erst, in Macon, erfahre ich den Grund. Und zwar so: Sie kritzelt nach dem Souper etwas im Scheine der Tischkerzen auf einen Zettel, zerreißt dann hastig das Papier, eine bloß halbseitig beschriebene Wirtshausrechnung. Ihre kleinen, noch vom Scherenschnitt verunzierten und doch bezaubernd reizenden und aufreizenden Hände sind mit der violetten Tinte über und über beschmutzt. Ich will sie fragen, sie will nicht sagen, was es ist. Endlich höre ich es, undeutlich von ihren blassen, vollen, quergerunzelten Lippen geraunt, wobei sie einen möglichst deutlichen Ausdruck verwenden will, ohne daß dies ihre Schüchternheit und ihr Schamgefühl zuläßt. Gibt es etwas Natürlicheres in einer jungen Ehe? Mir ist es ein Schlag vor den Kopf. Ich bleibe betäubt, als hätte man in meinem Kopfe statt in der Kirchenglocke mit kupfernem Schlegel das kommende Fest eingeläutet. Ich weiß nicht mehr, was ich tue. Statt mein Vorhaben (es war ja ein Muß für mich) zu Ende zu führen, mich ihrer zu entledigen und sie aus ihrem nie zu lösenden Konflikte, der Liebe zu einem elenden Mörder, derart zu lösen, daß es wenigstens bei einem Opfer bleibt, ändere ich kopflos wie Napoleon bei Waterloo meine Taktik, oder besser gesagt, ich schlafe in meiner Betäubung ein und lasse mich, halb erwacht, von den Umständen treiben, statt sie zu kommandieren.
So kehre ich denn am nächsten Morgen, aber nach was für einer unbeschreiblichen Nacht, zurück, obgleich ich Feiice kein Gran weniger hasse als zuvor. ›Zurück, Rey‹, sage ich dem Diener, ›es geht heim, wir müssen am Festtag zu Hause sein.‹ So geschieht es denn. Ich sage, ich hasse sie, aber es kann Ihnen nicht verständlich sein. Denn womit sollte ich beginnen, einem, der satt ist und satt immer gewesen ist, das Wesen des Hungers klarzumachen? Einen Menschen liebe ich, das sind Sie, Balzac. Einen Menschen hasse ich, das war sie, die Alcazar. Wie erklärt sich das? Mir erscheint das aber so logisch, daß ich nicht nur nichts bereue, sondern auch nicht verstehe, daß ein anderer Mörder je bereut hat. Aber beichten will ich, denn beichten muß jeder Mensch vor seinem Tode. Bitte, reden Sie jetzt nicht, ich lasse Ihnen nachher das Wort und werde Sie nicht unterbrechen. Sie, Felice, muß fort, das steht fest. Aber das Wie ist durch das bei Kerzenschein erfolgte Geständnis ihrer Mutterschaft völlig aus der Ordnung gebracht. Statt einen neuen Plan zu schmieden, und es hätten sich mit Leichtigkeit tausend andere Möglichkeiten gegeben, begehe ich eine infernalische Dummheit nach der andern.
Nur meine Dummheit, nicht meine besondere Bosheit und Tücke erklärt Ihnen, was bis jetzt dem Gericht unerklärlich geblieben ist. Wir fahren heim. Sie hat den Kopf mit den schweren, traubenartig herabhängenden Flechten zwischen die Blätter meines Radmantels gebettet. Es kommt ein rauher Wind von den waldigen Bergen. Es wird schnell Nacht. In Roussillon könnte man übernachten. Rey schlägt dies vor, ich, ganz kopflos, sage nein und lade vor den Augen aller Wirtshausgäste, denen ich ohnedies auffällig bin, meine Pistolen. Wir fahren weiter. Sie wacht auf, blickt mich an. Sie schielt nicht, so wenig wie an dem Hochzeitsabend. Ich sitze an ihrer linken Seite. Sie muß etwas vorrücken, um mich von vorne ansehen zu können. Ihre veilchenblaue Seidenmantille, von der Wagenlaterne goldig angehaucht, knistert, und ein Duft von Iris mischt sich mit dem altbekannten Geruch des Wagens. Sie lächelt, wie es scheint, in einem reinen, ungetrübten Glück. Selten hat mich ein Blick tiefer getroffen, selten strahlte er offener aus einer Seele in die andere. Aber aus der andern nicht zurück. Sie muß in Gedanken bei dem erwarteten Kinde sein, jetzt. ›Fühle doch her‹, flüstert sie schüchtern und führt meine Hand mit dem Zynismus der unbefleckten Unschuld an ihren Leib, der sich unter der Seide rundet, ›fühle doch ...‹ Ich antworte nicht, das geht über meine Kraft.
Jeder Mord ist Selbstmord. Es ist nur gerecht, daß ich so ende. Wenn Sie das Reue nennen wollen, gut, dann bereue ich. Ich bereue nicht wie ein Eremit im Roman, ich bereue wie der Notar aus Belley, denn ich sage Ihnen, es ist etwas Widernatürliches um das Blut. Blut paßt für einen Bürger nicht, es ist unanständig, sich mit Blut zu beflecken. Es krampft sich alles dagegen auf, man will es nicht tun und wird es nicht tun. Indessen ist es Mitternacht geworden, Belley kommt in die Nähe, wir sind auf dem Berge, unten sieht man schon die Lichter blinken, ich erkenne die Fenster der Fabriken, die Lampen in den Studierstuben des Priesterseminars, die Pferde wiehern, nasse, feuchte, waldesduftende Luft schlägt von den Bergbächen und dem gefallenen Laub zu mir herein, die Pferde gehen unruhig, sie wittern den Stall, Louis Rey, auf dem Kutschbock, hat seine schweren Glieder gegen den Regen in die schwere Decke gehüllt, er nickt oben, er muß tief schlafen, denn er hat das Wiehern der Pferde (das linke ist besonders laut und schlägt stark mit dem Schweif gegen die Laterne) nicht gehört. Nun sind wir zurück, die Lichter laufen immer näher, als stünden wir still im Sturme und die Stadt hübe sich uns entgegen. Sie fühlen, es ist das gleiche wie mit Ihnen damals an der Seine. Wir können nicht halten, in einer halben Stunde sind wir daheim, ich habe mir geschworen, ohne die Frau zurückzukehren, zu Ihnen zu flüchten, mit Ihnen in fremde Länder zu gehen, als Ihr Bruder, als Ihr dienender Freund, aber dieses Mädchen lehnt mir im Arm, unter meiner rechten Achsel schwillt und brütet ihre große Brust, sie haucht ihren Atem in die Blätter meines Mantels, und nichts kann mich retten vor ihrer allzu nahen Nähe, ich fürchte mich, ich zittere und schließe die Augen, aber sie drängt sich noch näher an mich. Gibt es etwas Grausameres als die Furchtsamen?
Aber sehen Sie doch, daß Sie es mit einem Mörder zu tun haben, denn ich habe meinen Entschluß gefaßt, ich habe ihn geladen wie meine Pistolen. Aber bin ich mit Blindheit geschlagen? Muß ich die zweite infernalische Dummheit begehen? Statt den Diener zu wecken, ihn vom Bock herunterzujagen, damit er die Pferde am Zügel führe und mir Zeit lasse, die Frau aus dem Wagen zu heben – diese Stelle war ja dieselbe, die Probe der Tat war längst gelungen –, statt dessen ergreift mich ein Gefühl der Scham vor dem Manne. Ich schlage ihm mit dem Hammer leicht auf den Hinterkopf, mit der Absicht, ihn zu betäuben, und dies gelingt. Ich tat es nicht gern, ich brauchte Überwindung, ihn zu treffen. Er springt vom Wagen und schnauft, ohne eine Klage hören zu lassen. Hätte er's doch getan! Ich aber frage mich ebenso tonlos, mit kalten Lippen: ›Werde, ich schießen? Werde ich schießen?‹ Und schon tue ich es. Der Diener ist indessen etwas zu Bewußtsein gekommen, er stürzt, immer noch stumm, nach dem Wagenschlag, noch sehe ich seine aufgerissenen, maßlos erstaunten, gar nicht schmerzlichen Augen, ich werfe mich, denn jetzt kommt es darauf an, gegen ihn, mache ihm ein Ende. Die Frau lebt noch. Sprechen kann sie nicht mehr. Ich schleppe sie zum Wasser, stoße sie über die Steine, sie aber klammert sich an mich, und ich bestehe nicht darauf. Ich verlasse sie, ich wende den Wagen um, er steht nun in der Richtung Macon. Der Wind hat sich etwas gelegt. Der einzige Zeuge ist tot. Meine Frau wußte vielleicht nicht, daß ich den Schuß abgefeuert, und wußte sie es auch, sie hätte mich nicht verraten. Sie stöhnt. Ihre Schönheit, alles ist dahin. Ich habe nie echtes Mitleid mit ihr empfunden. Jetzt war es so. Aus reinem Mitleid, bedenken Sie, ich bin doch Mörder, bloß um dieser Regung von Menschlichkeit Gehör zu geben, Ihnen nachzueifern, der Sie sich über das Bett eines Blatternkranken beugen, helfe ich ihr hinüber. Dieser Akt von Menschlichkeit kostet mich morgen meinen Kopf. Wäre es nur gleich der nächste Tag! Aber davon sind wir noch weit, wir stehen allein auf der totenstillen Straße. Man muß etwas tun. Man weckt den Schmied, man nennt sich beim Namen, Sebastian Peytel, der Mann, der ich früher war, der neue Notar zu Belley. Man führt die zwei fremden Männer an das Ufer, man hebt den Körper auf, so leicht ist er jetzt geworden, selbst in den schweren, vom Wasser getränkten Seidenkleidern, man hebt ihn in den Wagen, und nun zur Stadt.
Ein anderer ist es, nicht ich. Sehen Sie doch, Peytel, der nach Belley zurückkehrt nach seiner kurzen Hochzeitsreise! Wie er an alle Türen pocht, teils mit den eisernen Türklopfern, teils, indem er Steine, kühle, gute, schwere, nasse, glatte Steine von der Erde aufliest und, immer schneller durch andere krumme, enge Straßen laufend, unter unartikuliertem Geschrei die Steine gegen die verschlossenen Türen schleudert, an die hölzernen Fensterläden, an die nachtschwarzen Mauern, denn überall wohnen Menschen und glücklichere als er. Hier sehen Sie den jungen, blonden Lablanche, meinen Nachfolger im Amte, wie er mich in seinen dünnen Armen auffängt, er ist als der erste wach, und sein ist der Preis, der Lohn und das Erbe. Ich bin nichts mehr. Einer schreit: ›Alle Ärzte zu Hilfe! Alle zu Hilf'!‹ Wer will mir helfen? Einer kann es, der ist noch fern!
Ja, ich weiß gut, wem zu Hilfe, aber ich sage es nicht. Ich weiß den Weg, den sie werden nehmen müssen, denn morgen wird man es ja sehen, hier über die Treppen durch drei Gittertüren zum Hofe, zwischen den Gendarmen, die Hände am Rücken gebunden, mein langes Haar am Nacken und den Bart an der Kehle verschnitten. Ich weiß wohl die Werkzeuge und Mittel, die sie brauchen, das Messer dreieckig geschliffen, den Strick gut angerauht und die Scharniere geölt. Aber sie wissen es nicht, der Anwalt, die herbeigeeilten Bürger von Belley, in Nachtmützen und gestrickte Kamisole eingepackt, sie zittern vor Kälte, sie schaudern, im Nebel vermummt. Man erkennt mich, wie ich sie erkenne, und man ruft mich: ›Herr Notar! Liebster, wertester Herr Peytel!‹ Ich möchte mich gerne verbergen, in den vielen warmen engen Blättern des Radmantels verstecken, aber für meine Größe gibt es kein Versteck, man wird mich aufspüren, und ich muß Ihnen noch den Weg weisen, als täte dies nicht schon die Blutspur von selbst. Nun seht doch meine Hände, ihr seht sie bloß blau von Kälte, aber Blut werdet ihr nicht sehen. Das riechen nur die Auserwählten, meine Frau, die gewesene, die einzige, die zählte zu den Auserwählten, sie roch das Blut, bevor es noch vergossen war, und doch konnte sie sich nicht davor schützen. Ja, ich weiß es, meine Augen sind weit aufgerissen, schmerzlicher, als es die Augen des armen Rey waren, und doch werdet ihr in ihnen nichts lesen, wenn selbst der treueste Diener mit der Todeswunde am Haupte nichts darin zu lesen vermocht hat! Meine Lippen haben ihr Blut nicht gelassen, ich weiß, sie zucken, wollen sich schließen und können es nicht – so brechen die Worte aus ihnen, die er, Peytel, rasch wieder auffangen möchte, vor denen es ihm graut, und auch den andern graut es, die um ihn herumstehen, denn sie weichen, nach und nach weichen sie alle aus seiner nächsten Nähe. Hat er sich doch vor der allzu nahen Nähe seiner geliebten Gattin gefürchtet, nun soll Raum um ihn sein, Leere, Stille, hohes Atmen und Schweigen.
Aber schon drängen sich die Anwesenden, die Frauen wie immer zuerst, durch die schmale, einflügelige Tür des Amtslokals, um draußen laufend, an jeder Ecke um neue neugierige Weiber und Kinder vermehrt, die engen, krummen Straßen zu füllen. Allen voran ich, der ich wenigstens einmal im Leben an der Spitze der ganzen Stadt gehe, von der einen Seite stützt mich Lablanche, von der andern der Maire; stützen nennen sie es, fesseln nenne ich es; wollen sie denn auch nur auf einen Augenblick meine Hände freilassen, die sie durch die Falten des dicken Radmantels gepackt haben?
So stürmt, in immer beschleunigtem Zuge, das Volk durch die Straßen. Der Morgenfrühschein erhellt die Häuser, es geht bergauf, die Menschen rennen und keuchen, jetzt hört man meine Pferde hungrig, die armen, wiehern. Hier halten sie ruhig, ich erkenne sie, sie erkennen mich nicht, und doch taten sie das oft, wenn ich sie früher im Stall besuchte. Das eine scheint zwar, den Kopf tief gesenkt, zu schlafen, aber das andere wacht, es reibt aus Hunger sein halbgeöffnetes, hellrotes Maul an dem Geschirr, daß sie alle, mit Freude, wie ich zitternd fühle, als mit rotem Blut beschmutzt erkennen. Der Gaul versucht, sich von Kinnkette und Nasenriemen freizumachen, er schlägt mit dem buschigen Schweif, er hebt die breite Brust, um zu wiehern wie vorhin, aber nun fehlt ihm der Mut wie mir. So zittert er bloß mit der feinen, feuchten Haut des Rückens wie ich. Und sollte ich es nicht? Sieht denn nicht jeder jetzt im silbern gesponnenen Frühschein die junge Frau, mein zwanzigjähriges, blühendes Herz auf ihrer veilchenfarbigen, feuchtigkeitsgetränkten Seidenmantille gebettet? Was mir morgen geschehen kann, ist nichts gegen diesen Augenblick. Ihr ganzer Körper trieft vor Nässe. Das furchtbarste ist ihr ganz zerbrochenes Gesicht.
Napoleon hatte vier Millionen Menschen auf dem Gewissen, und dennoch starb er ruhig auf Sankt Helena und ist Frankreichs Stolz. Warum sollte ich morgen nicht ebenso ruhig sterben können? Es soll doch schneien, man soll nicht alles aus der Nähe sehen, auch nicht mich und meinen Tod. Mir ist es genug, wenn es der einzige Mensch meines Lebens, wenn mich Balzac gesehen hat. Es ist gut, daß es regnet. Regen reinigt sehr. Die schreckliche Wunde im Gesicht blutet leise. Dann beginnt milder Regen, in dem totenähnlichen Schweigen der ungeheuren Menschenmasse ringsum deutlich hörbar, vom grauen Himmel herabzutröpfeln – und mögen die Frauen im Anblick dieser toten Frau kreischend den Schauplatz verlassen, Frauen gibt es stets genug –, aber – –. Der Postwagen aus Lyon kommt rasselnd die Höhe herab, die Peitschen der zwei Kutscher knallen, die Bremsen kreischen, alles flieht, was Röcke anhat, bloß Felice kann nicht fort.
Ich werde es nie vergessen, ich mag nicht mehr leben, denn keine Nacht ist sicher vor ihr. Ist das Reue, dann bereue ich millionenmal. Denn ist etwas grauenvoll, dann ist es, von Toten zu träumen.
Bloß Männer umstehen jetzt den Wagen.
Schon werde ich, ich fühle es, ruhiger. Peytel kehrt zu Peytel zurück. Den Maire habe ich zur Rechten, den Anwalt zur Linken, so kam ich hinauf auf den Berg aus der Stadt. Jetzt aber kommt vor uns drei, sehr groß, der Polizeikommissar zu stehen. Im Hintergrunde hält sich der andere, der Arzt, eine ebenso hohe Gestalt wie der Polizeikommissar. Ich will zu ihm hineilen, denn der Ärzte sind wir sehr bedürftig in diesem schweren Leben, alle. Aber kaum hat der Arzt seinen flüchtigen Blick auf die Frau geworfen, als er schon sagt: »Alle Hilfe kommt zu spät.« – Weiß er es, warum half er früher nicht? Was nützt es uns, daß er jetzt seine großen, weißen, gepflegten Hände aus der Tasche seines Mantels zieht, als wollte er sagen, wenn einer, er könne es, seine Hände seien Wunderhände, aber machtlos gegen den Tod?
Auf dem Erdboden, unter seiner schweren, regengetränkten Decke, liegt noch ein Geschöpf, das glücklichste von uns allen, das ich im Tode geschlagen und im Leben gut behandelt habe, Louis Rey, der treue Diener, der Treue. Er rührt sich nicht, seine Finger weit ausgestreckt, scheinen nach der Peitsche zu langen, die unweit von ihm liegt.
Ich aber, der Gatte, ich, Sebastian Peytel, aus Lyon gebürtig, Notar aus Belley, Balzacs Freund, Felice Alcazars Gatte – gewesen, er ist es gewesen und nie mehr, auch im Traum nicht, dessen freue ich mich heute. Heute freue ich mich, daß Sie bei mir sind, Balzac. Aber das macht mir das Sterben schwer. Heute freue ich mich, daß ich endlich die ungeliebte Frau auf ewig von mir lasse, durch meinen Tod, dies macht mir das Sterben leicht. Ich bereue nichts. Und doch, Liebster, Einziger, ich vergesse es nie, wie sich von meinen Lippen gegen meinen Willen ein langgezogenes Zischen loslöst, in der Morgenfrühe, mitten im Blut. Das Gericht zu meiner Seite, den toten Diener zu meinen Füßen, meine Pferde mit Blut befleckt, keine freundliche Seele rings um mich. Wie jetzt aus meinem Innern ein langgezogener Klagelaut losbricht, als wollte ich den Namen der oft und oft liebkosten Frau noch einmal formen, und ich kann es nicht.«