Johann Karl Wezel
Herrmann und Ulrike / Band 2
Johann Karl Wezel

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel.

Zu bestimmten Stunde flog er am folgenden Morgen zu seinem Patrone. Der Bediente stellte eine lange Untersuchung mit ihm an, und hieß ihn endlich warten. Nach einer halben Stunde öfnete er einen Flügel der Thür, gieng voran und gebot, ihm nachzufolgen. Die Wanderung geschah durchs ganze Stockwerk, wenigstens durch fünf bis sechs große Zimmer, und am Ende steckte er ihn in ein kleines enges Stübchen, wo er ihn abermals warten hieß. In einer halben Viertelstunde trat der halbangekleidete Patron durch eine Nebenthür auf, eine Büchse mit Zahnpulver in der einen Hand, in der andern ein Bürstchen, womit er die breiten Zähne scheuerte, 40 daß ein rosenfarbner müskirter Sprühregen aus dem Munde hervorsprüzte. Er blieb in dieser Beschäftigung lange stumm bey der Thür stehn und überlegte bey sich, ob er den jungen Menschen Sie oder Er nennen sollte: endlich wählte er einen klugen Mittelweg und fragte – »was will man?« – Herrmann that seinen Vortrag. – »Also lebt Schwinger noch?« unterbrach ihn der Patron. Heinrich führte ihn den gestern abgegebnen Brief zur Beantwortung der Frage zu Gemüthe: der Patron besann sich – »Ja, ich hab' ihn gelesen,« sprach er. »Wenn sich etwas findet, worinne ich dienen kann, so darf man sich nur an mich wenden: ich werde mir ein Vergnügen daraus machen« – hustete und gieng ab.

Erstaunt stand Heinrich da und wußte nicht, ob er gehn oder bleiben sollte: er bildete sich ein, der Patron habe nur einen Abtritt genommen, um mit thätiger Hülfe zu ihm zurückzukehren: der Himmel weis, mit welchen jugendlichen Einbildungen mehr er sich täuschte: doch da die Wiedererscheinung zu lange außenblieb, 41 so schloß er ganz vernünftig, daß er die Erlaubniß habe, wieder nach Hause zu gehn. Er wäre gern diesem Schlusse gefolgt, aber wie sollte er sich durch die vielen Zimmer bis zum Ausgange finden? Zudem schien es ihm auch unanständig in fremden Zimmern allein herumzuschweifen. Er sah durchs Fenster: Niemand rührte sich. Er versuchte eine Thür zu öfnen: sie war verschlossen. Da er fast eine halbe Stunde lang eingesperrt war und keine Erlösung vor sich sah, wagte ers herzhaft, den Weg wieder aufzusuchen, durch welchen man ihn hereingelassen hatte. Mit vieler Behutsamkeit, nachdem er vorher an jeder Thür gehorcht hatte, fand er sich durch zwey Zimmer hindurch: aber nun war seine Geographie aus: das dritte Zimmer hatte vier Thüren: er brauchte bey jeder die nämliche Vorsicht, öfnete eine – Götter und all' ihr himmlischen Mächte! welcher Anblick! – eine junge Dame im nachlässigsten Neglische lag lang ausgestreckt auf einem Sofa, ein zotichtes Hündchen stand auf den Hinterbeinen neben ihrem Kopfe, eine Vorderpfote ruhte 42 auf dem Busen, die andre hielt seine Gönnerin in der Hand und küßte sie mit stummer Zärtlichkeit, während daß ihre andre Hand ihn bey dem langbehangnen Halse faßte und freundschaftlich an die Brust drückte. Heinrich wurde glühendroth: er glaubte zu träumen: denn seine verliebte Einbildung gab der Dame so völlig das Gesicht der Baronesse Ulrike, daß in seinen Gedanken nichts gewisser war, als sie sey ihm nachgefolgt und wolle ihn durch ihre Gegenwart überraschen – daß nichts gewisser war, als man habe ihn auf ihre Veranstaltung eingesperrt und sich selbst überlassen, um sie bey seinem Herumirren zu finden. Diese Erdichtung war in zwey Pulsschlägen gemacht, und mit dem dritten schwebte schon »Ulrike!« auf der Zunge: noch ehe der Laut durch die Lippen flog, wurde ihn die Dame gewahr, sprang auf, als wenn sie den feurigen Ziegenbock erblickt hätte, daß das arme Hündchen jammernd zu Boden stürzte, und rennte mit tugendhafter Eile davon: der Hund, um das Schrecken seiner Gebieterin zu rächen, lief klaffend auf den halb sinnlosen 43 Heinrich zu und zwang ihn, seinen Posten zu verlassen. Der Hund sezte ihm mit unaufhörlichem Bellen nach: es erhub sich in den Nebenzimmern ein Getöse, man schlug Thüren auf, schlug Thüren zu, trampelte auf und ab: es ward ihm bange, was man mit ihm auszuführen gedenke, die eingebildete Gefahr gab ihm Entschlossenheit: er riß herzhaft eine Thür auf, flüchtete durch ein Zimmer, dann noch durch eins und nun war er zu großer Herzensfreude an der Treppe, sezte hinunter, der Hund hinter ihm drein. Der Bediente begegnete ihm in der Hausthür und wunderte sich nicht wenig, daß ein Mensch, den er schon längst nicht mehr im Hause glaubte, sich izt erst mit Hunden forthetzen ließ. So ein stürmisches Ende nahm die erste Patronschaft.

Doch Heinrich konnte sich nicht vorstellen, daß damit nun alles aus sey: davon hatte er gar keinen Begriff, daß ein Mann in einem hohen Posten nicht helfen könne; und daß ers nicht thun wolle, wenn er gleich könnte, der Gedanke galt in seinem Kopfe der Unmöglichkeit gleich. Er war sich bewußt, daß er jedem Aermern 44 seinen lezten Pfennig geben würde, wenn er ihn in Noth sähe, daß er so bereitwillig, als er Schwingers kleinstes Verlangen erfüllte, von einem Ende der Stadt bis zum andern laufen würde, wenn Jemand einen Dienst von ihm foderte; und solche Leute, die viel älter waren, als er, und also nach seiner Voraussetzung besser seyn mußten, sollten schlechter denken und handeln als er? – Eine solche Vermuthung fiel ihm gar nicht ein, besonders da sie nach seinen jugendlichen Vorstellungen blos da waren, um Jedem zu helfen, der Hülfe bedurfte. Er erwartete sie standhaft von seinen Patronen und ließ sich keinen Kummer anfechten.

Eine Menge Krämer, die sich in einem Menschen von seinem Alter eine gute Kunde versprachen, begleiteten ihn bey seiner Rückkunft auf sein Zimmer und wunderten sich nicht wenig über die Entschlossenheit, mit welcher er seine Kauflustigkeit und ihren Einwendungen widerstand: aber einer andern Begierde konnte er desto weniger widerstehn: er brannte vor Verlangen, einen Gang um die katholische Kirche zu thun und 45 neue Lorbern der Wohlthätigkeit einzuärnten: er fühlte etwas in sich, das ihn über sich selbst erhob, ein Entzücken, das ihn süßer begeisterte, als alle genoßne Freude – nur Ulrikens Gegenwart und der Gedanke an sie hielt ihm die Wage – er schien sich über die Sterblichkeit hinausgeschwungen, wenn er sich, umringt von einem Zirkel Knaben, dachte, die Hülfe von ihm flehten, wie er stolz dahergieng, bey jedem Schritte von einem neuen Dürftigen angesprochen wurde, mit edler Freigebigkeit ihr Elend milderte, und wie denn der ganze Trupp mit frohen Gesichtern und lautem Danke und Wünschen ihm nachlief, indessen daß er sich mit der Vorstellung ergözte, diesen allen geholfen zu haben: das Bild rührte, bezauberte, fesselte ihn: in freudiger Berauschung füllte er seine Tasche und eilte nach dem Schauplatze seiner Wohlthätigkeit hin, und es fehlte ihm nie an Veranlassungen, die Freuden der Gutherzigkeit reichlich zu genießen.

Izt, Nachmittags, hatte er seinen menschenfreundlichen Spatziergang zweimal gethan und 46 fühlte einen unwiderstehlichen Zug, ihn zum drittenmale zu wiederholen: er hatte freilich nur noch einen einzigen Thaler im Vermögen und wußte nicht, woher er Geld nehmen sollte: bedachtsam legte er den Thaler auf den Tisch, wenn ihm diese Bedenklichkeit einfiel, steckte ihn in die Tasche, wollte gehn, besann sich, überzählte sein Geld – es war und blieb nicht mehr als ein Thaler: er wollte auf dem Zimmer bleiben, stritt, kämpfte mit sich selbst und – gieng. Der Ruf seiner Wohlthätigkeit hatte sich schon, wie ein Lauffeuer, unter den Armen ausgebreitet: eine ansehnliche Zahl hatte sich Truppweise versammelt und erwartete ihn: wie er den ersten Schritt aus dem Hause sezte, tönte ihm schon eine klägliche Bitte entgegen: um sein Vergnügen zu verlängern, machte er zwar kleinere Portionen, aber die Menge der Prätendenten war so groß, daß er seinen Thaler schon rein ausgetheilt hatte, als er bey der katholischen Kirche anlangte: dort erwartete ihn der stärkste Theil der Armee, aus jedem Winkel geschah ein Anfall auf ihn: man nannte ihn den kleinen Prinzen, 47 Eure Durchlaucht, Eure Hoheit: – welches Unglück! er fühlte und suchte in allen Taschen und fand nichts. Den Kopf hätte er sich mit der Faust zersprengen mögen: beschämt, verwirrt, geängstigt, wie ein Missethäter, der ins Gefängniß geführt wird, eilte er mit niedergeschlagnen Augen dahin, und der ganze Haufen bittend und schmeichelnd hinter ihm drein: unter dieser zahlreichen Begleitung langte er zu Hause an, daß sich die Leute auf der Gasse und an Fenstern laut fragten, welches der Delinquent sey, den man einführte.

Dies war der unglücklichste Abend seines ganzen bisherigen Lebens: Scham und Aerger folderten ihn, und verstatteten ihm nur wenige Minuten ruhigen Schlaf. Er war von der Höhe seiner Einbildung herabgeworfen worden, und sollte noch tiefer herabsinken.

Der Lohnlackey hatte eine andre Herrschaft unterdessen zu bedienen bekommen, und bat also den Morgen darauf um seine Entlassung und Bezahlung. Herrmann gerieth in Todesangst: er mußte seinen Mangel an Gelde bekennen und 48 ihn vertrösten, bis ihn sein Freund Schwinger aus der Verlegenheit reißen werde, an welchen er noch den nämlichen Tag schrieb. Den Augenblick verwandelte sich die übermäßige Höflichkeit des Bedienten in übermäßige Grobheit: er sagte einige empfindliche Reden und gieng. Heinrich hätte sich vor Aerger zum Fenster hinabstürzen mögen. Kurz darauf ließ der Wirth, dem der Lohnlackey großen Argwohn beygebracht hatte, seine Rechnung überreichen, mit dem Bedeuten, daß diesen Nachmittag eine Herrschaft das Zimmer in Besitz nehmen werde, die es schon vor vielen Wochen habe bestellen lassen: alle übrige Zimmer im ganzen Hause waren besezt. Er nahm das fatale Papier, warf sich in einen Lehnstuhl und schwieg.

Was nun zu thun? – Es war die erste Verlegenheit dieser Art in seinem ganzen Leben und griff ihn deswegen mit einer Stärke an, die ihn bis zur Verzweiflung brachte. Nicht zu bezahlen und fortzugehn? – das gab Ehre und Gewissenhaftigkeit nicht zu. Dazubleiben und um Nachsicht zu betteln? – das war ihm 49 bitter wie der Tod. Sich an seine Patrone zu wenden? – So bedenklich ihm das schien, so bequemte er sich doch dazu. In vollem Vertrauen, daß Niemand eine Bitte abschlagen werde, die er auch den unbekanntesten Menschen nicht versagt hätte, gieng er zu dem einen und dem andern: der eine ließ ihn nicht vor sich, der andre war nicht zu Hause. Die Verlegenheit drückte, wie eine Zentnerlast, auf sein Herz: er konnte kaum athmen. An der Hausthür des Advokaten unterdrückte er alle Einwendungen der Ehre und faßte den verzweifelten Entschluß, sein bischen Habseligkeit dem Wirthe statt der Bezahlung zurückzulassen und in die Welt hineinzugehn. Die Gewisheit, was er thun wollte, erleichterte plözlich seinen Schmerz: sobald nur der Vorsaz gefaßt war, sezte sich alles in ihm in Bewegung, ihn zur Ausführung zu begeistern. Er wanderte mit heroischem Muthe zum pirnaischen Thore hinaus gerade dem großen Garten zu. Alle Reize der unendlich schönen Gegend, das ganze herrliche Amphitheater einer langen Ebne mit Bergen, Wäldern und fernen 50 vielgestalteten Felsen umgürtet, fesselte ihn nicht. Kummer und Muth, Besorgniß und Entschlossenheit kämpften in ihm mit tirannischer Wuth. Er suchte einen einsamen Ort, warf sich in dem dicksten Gebüsche auf den Boden hin und seufzte. Er kehrte seinen Plan auf allen Seiten herum und wußte ihm keine beßre Wendung zu geben, als daß er sich vornahm, den nächsten Pfarrer oder Schulmeister um Aufnahme und Unterhalt zu ersuchen und jede Arbeit dafür zu übernehmen, deren er fähig wäre. Der Schluß war so fest, so unerschütterlich, als die Tanne, die ihn mit ihren tiefhängenden Aesten beschattete.

Ein Fasan erhub in der Nachbarschaft seine rauhe Stimme, er erhielt Verstärkung und der Gesang wurde zum allgemeinen Chor: auf allen Bäumen hüpften und zwitscherten Vögel in mannichfaltiger Vermischung, so munter, so frölich, als wenn sie seines Elends spotten wollten: das ganze Gebüsch war Ein lauttönendes Konzert glücklicher Geschöpfe. – »O ihr seligen Geschöpfe! ihr bedürft keines elenden Silbers oder Goldes, um glücklich zu seyn!« sprach 51 er, stund auf, gieng tiefer ins Gebüsch, um der widrig frölichen Musik zu entgehn. Er trat in einen schauernden, finstern Gang, wo unter dem Gewölbe verschlungner Fichtenäste todte Stille und Melancholie, wie ein ausgebreiteter Flor, schwebte: je grauser, je willkommner: je mehr er schauerte, je glücklicher fühlte er sich. Das finstre, lebenlose Leere des Orts spannte die Flügel seiner Einbildungskraft: das Gewölbe wurde enger und düstrer: ein schmaler weißer Sandweg leuchtete in verzognen Krümmungen durch die Dunkelheit vor ihm her: bald wurde er ihm zu einem Geiste, in weißes Gewand gehüllt, der ihn leitete; bald war es Ulrike in ihrem Atlaskleide, die ihn aus dem Labirinthe führte: er hörte Atlas rauschen: der weiße Weg verlor sich, und Ulrike verschwand. Welche Betrübniß! auch eingebildetes Glück muß ihm das misgünstige Schicksal rauben! – Izt schimmerte fernher der Pfad wieder aus den aufgehäuften dürren Fichtennadeln hervor: welche Freude! Als wenn die leibhafte Ulrike sich wieder zu ihm eingefunden hätte!

52 »O Ulrike!« rief er und schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sich der Weg zum zweitenmale verlor, »wenn ich jemals so wieder bey dir sitzen könnte, wie am Abende, als ich mich von dir trennen mußte! Das war ein Leben! ein Leben, um sich niemals den Tod zu wünschen. – Aber izt! izt bin ich schon so gut als todt. Um meiner Nahrung willen muß ich auf einem Dorfe vermodern, verachtet und unbekannt dahinsterben: Du eilst der Ehre und dem Reichthum entgegen, vergissest mich in Wollust und Freuden; und ich! – was werd' ich? – ein verachteter, elender Bettler, der ums Brod arbeiten muß! – O wenn ich wieder jung werden, und an alle die Oerter der Freude, zu meinem Freunde, zu Ulriken zurückkehren dürfte!« –

Er schwieg lange: dann fuhr er hastig auf:

»Aber wenn sie nun wirklich nach Dresden käme! wenn sie mir nun nachgegangen wäre! wenn sie nun wirklich in dieser Minute, heute oder morgen ankäme! und ich hätte die Stadt verlassen! sie fände mich nicht, und gerieth in 53 noch größres Elend als ich! – Nein, ich muß zurück! ich muß! ich muß!« –

Uebereilend drängte er sich durchs Gebüsch hindurch und schonte weder Haut, noch Kleidung, als wenn sie schon außen auf ihn wartete. Plözlich war er auf einem freyen Platze, und die ganze Stadt mit Thürmen, Häusern und Gärten in schönsten Sonnenglanze vor ihm: der glänzende Anblick, wie er so schnell auf den vorigen melancholischen Aufenthalt folgte, riß seine Seele empor: er schien sich aus einem Kerker gezogen, und die Sonne zerstreute seinen Kummer, wie Nebel. Er wurde durch eine geheime Macht nach der Stadt hingezogen, und bey jedem Schritte wuchs mit seinem Wunsche die Wahrscheinlichkeit, daß der Advokat sich seiner annehmen werde. Diesen Mittag zu hungern, weil es nicht anders seyn könnte, hatte er sich schon gefaßt gemacht.

Er schwankte, ob er in seine Wohnung zurückgehn sollte: endlich entschloß er sich dazu, und war sogar nicht übel willens, etwas von seinen Habseligkeiten auf allen Fall in die Tasche 54 zu stecken: er erschrack bis zum Erröthen, als sich ihm diese Vorsichtigkeit wie eine Betrügerey vorstellte. Nein, sagte er sich, ich muß erst meine Sachen taxiren, ob sie zur Bezahlung zureichen; und dann –

Hier kam ihm eben der Lohnlackey sehr freundlich und dienstfertig entgegen und bückte sich vor ihm, daß die Nase aufs Knie stieß: er wollte seiner Höflichkeit gar kein Ende machen. Das unerwartete Betragen war unerklärlich. – »Bleiben sie ja ein Viertelstündchen zu Hause! sprach er und lief eilfertig nach dem Hute: ich will gleich Jemanden holen: das wird eine Freude seyn!« – Mit diesen kurz herausgeathmeten Worten lief er davon, und ließ Heinrichen Zeit, über seinen Text Muthmaßungen zu machen. Was war natürlicher, als daß es die Baronesse seyn mußte, die er holte? – Sie war eben angekommen, hatte sich bey einem seiner Patrone nach ihm erkundigt, ihn hier aufgesucht, nicht gefunden, dem Lohnlackey ein gutes Trinkgeld versprochen, wenn er sie sogleich nach seiner Rückkunft rief, und um dieses 55 thun zu können, mußte sie Geld mit sich bringen: aber woher das? – Ey! konnte sie denn nicht ihre diamantnen Ohrgehenke verkauft haben? Oder vielleicht hatte sie sich Schwingern anvertraut: vielleicht hatte er ihr durchgeholfen, Geld geborgt: – aber was brauchte er sich denn darum zu bekümmern, wie sie zum Gelde kam? Genug, sie sollte angekommen seyn und Geld bey sich führen, um ihn aus seiner Verlegenheit zu reißen: das ist nun so eine zusammenhängende, einleuchtend wahre Geschichte! je mehr er sie wahr wünschte, je mehr vergaß er, daß er sie blos muthmaßte.

Nach langem ungeduldigem Hoffen hörte er die Stimme des Lohnlackeys: sein Herz klopfte, er zitterte, er flog nach der Thür, riß sie auf und – erblickte eine Perucke, einen ölgelben Rock, von oben bis unten zugeknöpft, schwarze Unterkleider und einen silbernen Duodezdegen, der aus der Oefnung des Schooßes hervorguckte – mit einem Worte, seinen Patron, den gutmüthigen Advokaten.

Lieber Sohn, fieng er an, du sollst heute bey mir essen: meine Frau ist verreist. Wenn die Katze nicht zu Hause ist, macht sich die Maus lustig, wir wollen hoch zusammen leben; und wenn du so angebrachter Maßen bey mir als heute Mittags, issest, so wollen wir weiter deliberiren, was in puncto deines Fortkommens zu thun und zu machen ist. –

Er berichtete zugleich, daß er ihn schon zweymal vergeblich gesucht und in der Nachbarschaft bey einem Freunde erwartet habe. Welche fröhliche Bothschaft! – Sie wanderten zusammen fort.

Bey Tische entdeckte er ihm, daß er seine Rechnung im Gasthofe bezahlt habe und ihn zu sich ins Haus nehmen wolle: aber was ihn dazu so schnell bewegte, verschwieg er ihm. Schwinger hatte ihn in einem zweiten Briefe ersucht, seinen Freund zu sich zu nehmen und Tisch und Wohnung vierteljährig für ihn zu bezahlen versprochen. – Aber lassen Sie ihn nichts davon merken! schrieb er. Der Pursche muß glauben, seinen Unterhalt durch seine Arbeit zu verdienen, damit er sich daran gewöhnt und es ohne 57 Widerwillen thut, wenn ers bedarf. Beschäftigen Sie ihn also unaufhörlich, und unterlassen Sie nichts, was Sie zu seinem künftigen Fortkommen beytragen können! Vielleicht kann ich ihn in einem halben Jahre wieder zu mir zurückholen: der Oberpfarr in G** ist gefährlich krank: man hat mir seinen Platz versprochen: stirbt er, so werde ich schon weiter für den jungen Menschen sorgen. Er liegt mir am Herzen, wie mein Sohn« –

Der gutmüthige Doktor Nikasius – so heißt er – war unmittelbar nach Durchlesung des Briefs so fest, wie itzo, entschlossen, die Bitte seines Freundes gewissenhaft zu erfüllen: aber die Frau! die Frau! – Er gestund Heinrichen offenherzig, daß sie das große Hinderniß bey allem Guten sey, was er nur jemals thun wollte: – aber, sezte er hinzu, wir wollen sie schon dergestalt und allermaßen hinter das Licht führen, daß sie sich fordersamst zum Ziel legen soll. Anlangend nun deine Herkunft, als wollen wir ihr dergestalt und allermaßen überreden, du seyst ein Edelmann: denn die Hexe will mit 58 Niemanden sonst etwas zu thun und zu schaffen haben. Wenn du nun zwar kein Edelmann bist, noch seyn oder heißen willst und dir solchemnach allerhand Calamitäten und Beschwerden durch Arrogirung einer unerweislichen Geburt zuwachsen und erfolgen dürften, solchergestalt also wollen wir ihr ferner geflissentlich anheimstellen, deine Geburt als ein Fideicommissium wohl und geziemend zu bewahren, auch Niemanden zu entdecken, noch viel weniger zu offenbaren, welchergestalt und auf was für Art und Weise es nur immer seyn und geschehen möge. Zufolge dessen sollen alle deine res mobiles noch heute anhero gebracht und geschaft werden, damit du in possessione bist und sie dich sofort ohne große Unhöflichkeit nicht extrudiren kann.« –

Die Anstalt wurde auch sogleich gemacht und Heinrich in den Besitz einer Kammer gesezt, bis die Frau Gemahlin eine Stube für ihn bewilligen wollte. Nachdem die Geschäfte besorgt waren, kehrte der Doktor wieder zur Freude zurück und sprach und handelte so natürlich, wie jeder andre Mensch: sobald etwas nur die mindste 59 Miene eines Geschäftes hatte, sprach er in seinem schwerfälligen tavtologischen Stile, und wenn er auch nur dem Bedienten, ein Stück Akten wegzutragen befahl. Um die Abwesenheit seiner Frau recht zu genießen, hatte er einige Universitätsfreunde auf den Nachmittag zu sich gebeten, die ihm das Andenken seiner frohen akademischen Jahre erneuern helfen sollten. Er war ein ungemeiner Liebhaber der studentenmäßigen oder fidelen Lebensart, wie er sie nannte, und durfte sich vor seiner Frau, einer sehr ceremoniösen Dame, nichts davon merken lassen.

Die Gäste erschienen, tranken und rauchten Tabak und wurden so aufgeräumt, als wenn die Freude ihre leibhafte Mutter wäre: sie erzählten sich Schwänke und kurzweilige Histörlein, und auf jedes folgte ein so lautes allgemeines Gelächter, daß die Gläser und Fensterscheiben zitterten. Das Lustigste für den Zuschauer bey dieser auserlesnen Gesellschaft bestund darinne, daß ein jedes von den vier Mitgliedern sich ein Wort angewöhnt hatte, 60 welches er ohne Sinn und Zusammenhang unaufhörlich wiederholte.

Her Fabricius trat herein, machte eine Verbeugung und ohne ein Wort gesprochen zu haben, fieng er an: – »Wie gesagt, ich bin Ihr gesorsamer Diener.«

Der Wirth antwortete: »Seyn Sie willkommen dergestalt und allermaßen.«

Fabricius. Wie gesagt, Brüderchen, ich habe dich lange warten lassen: aber wie gesagt, wo stecken die andern Hundsfötter? Wie gesagt, bin ich ja doch nicht der Lezte.

Nikasius. Die Schurken werden dergestalt und allermaßen wohl zu thun haben.

Herr Piper guckte scherzhaft zur Thür herein: – »Nämlich hauptsächlich, seyd Ihr böse auf mich, ihr Halunken?«

Fabricius. Wie gesagt, du Pfannkuchenkopf, warum bleibst du so lange?

Piper. Du Schweinigel, ich konnte ja nämlich hauptsächlich nicht eher kommen.

Herr Furiosus riß die Thür auf, trat, den Hut auf dem Kopfe, herein und brüllte: – 61 »Und abermals guten Tag, ihr Hundejungen!«

Tutti. Großen Dank, Herr Hasenfuß!

In einem so kräftig liebkosenden Tone wurde das Gespräch fortgesezt und zwar mit einer Unerschöpflichkeit an Schimpfwörtern, daß keins mehr als zweimal zum Vorschein kam: der schlechte Spas schwang seine Flügel über sie und schüttelte einen Plazregen von plumpen Einfällen unter ihnen aus. Als ihre Lustigkeit im höchsten Schwunge war, fand sich ein junger Doktor, der vor kurzem von der Akademie zurückgekehrt war, ein Männchen à quatre epingles, vom Kopf bis auf die Füße wie aus Wachs geformt, mit vielen scharrenden Verbeugungen und schnatternden Komplimenten bey ihnen ein, um dem Herrn vom Hause die Aufwartung zu machen. Die Gesellschaft trat im Zirkel um ihn herum und bließ eine so ungeheure Menge Rauch auf das gepuzte Herrchen los, daß die Flittern seiner gestickten Knöpfe, wie blinkende Sternchen durch Regenwolken, schimmerten: außerdem verloren seine Komplimente 62 Geschmeidigkeit und Fluß, weil ihm der erstickende Dampf auf die Lunge fiel und ihn jeden Augenblick zu husten nöthigte. Zulezt wurde die Wolke so dicht, daß sie ihn nicht mehr sahen: es entstund allgemeine Stille, weil er vor Ersticken nicht mehr reden konnte: man glaubte also wirklich, er sey aus Verdruß ohne Abschied fortgegangen. Das arme Doktorchen, das vor Berauschung und Taumel des Kopfs nicht sah noch hörte, suchte die Thür und konnte sie schlechterdings nicht finden: er wankte hin und her.

»Wie gesagt, der Narr ist fort,« fieng Fabricius an.

»Ich empfehle – mich – Ihnen gehorsamst« – flüsterte ein kraftloses Stimmchen aus der Dampfwolke hervor. Es war der halb ohnmächtige Doktor, der nach langem Taumeln eine Thür erwischt hatte und zu ihr hinauswankte: aber er hatte die falsche erwischt; denn er kam in die Schlafstube. Er merkte wohl, daß er unrecht sey, allein seine Schwäche überwältigte ihn so stark, daß er unmöglich der Versuchung widerstehn konnte, der Einladung eines 63 schönen kattunen Vorhangbettes zu folgen: entweder glaubte er in seinem Schwindel, wirklich schon zu Hause zu seyn, oder wollte er blos die Gelegenheit zur Erholung nützen? – genug, er warf sich, wie er war, auf das Bette und schlief ein. Inzwischen freute sich die dampfende Gesellschaft ihres Triumphs über den schöngepuzten Doktor, und die Unterredung lenkte sich allmählich auf die Weiber, worunter keine sonderlich gut wegkam: ein Jeder wollte mit der seinigen eine schlimme Operation vornehmen: der eine wollte sie, wie gesagt, unter die Freipartie thun, der andre wollte sie nämlich hauptsächlich in einem Zuchthause versorgen: Nikasius wollte die seinige dergestalt und allermaßen auf Intressen austhun, und Furiosus dachte, und abermals, ein depositum miserabile aus ihr zu machen. Ihr Witz lief noch lange Zeit in diesem Gleise fort, als plözlich die Thür aufgieng: man hatte die Fenster geöfnet, um die Atmosphäre vom Qualme zu reinigen, und durch die dünnen Dampfwolken zeigte sich – die Dame vom Hause.

64 Wie eine Schildwache, die mit scharfgeschultertem Gewehre vor dem vorübergehenden Offizier in steifer Ehrerbietigkeit dasteht, trat die ganze Gesellschaft dahin, streckte die Pfeifen und zog die Hüte von den Köpfen, als die Frau vom Hause erschien. Niemand sprach: mit unwilligem Schütteln des Hauptes und kochendem Grimme im Herze begab sie sich wieder hinweg: dem Herrn Gemahle entsank Muth und Lustigkeit: wie ein Kind, das Knecht Ruprecht gescheucht hat, gieng er ängstlich in der Stube herum und wunderte sich, warum seine Frau schon wiederkäme, da sie doch erst morgen Abend hätte eintreffen sollen. Herr Piper nahm seinen Stock und sagte nämlich hauptsächlich gute Nacht: Furiosus wünschte, daß der Teufel, und abermals, die Hexe fortgeführt haben möchte. – »Wie gesagt, wir müssen gehen,« sprach Fabricius unmuthig. »Ja. Brüderchen,« sagte der Herr vom Hause mit verzerrtem Gesichte, »das wird wohl dergestalt und allermaßen das Beste seyn.« – Man folgte seinem Rathe. 65

 


 << zurück weiter >>