Johann Karl Wezel
Herrmann und Ulrike / Band 2
Johann Karl Wezel

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Sechstes Kapitel.

Unterdessen hatte die Frau Doktorin, da sie Heinrichs Entfernung aus dem Hause nicht mit Gewalt durchsetzen konnte, bey sich überlegt, daß sie ihren Mann durch eine feine Gleißnerey am sichersten dazu bewegen werde. Je eifriger sie nach der Entdeckung, daß es zuweilen mit ihm rappele, seiner los zu seyn wünschte, je mehr gab sie sich die Mine, als wenn ihr sein Fortkommen besonders am Herzen läge: sie redte ihm viel vor, wie zeitig ein Mensch von Kopfe sich bemühen müßte, etwas zu werden, und wie hoch mans bringen könnte, wenn man recht jung anfienge, wie leicht es in seinem Alter sey unterzukommen, wenn man vorlieb nähme und eine Zeit lang sich gehorsam in andre Leute schickte und fügte, um durch sie weiter befördert zu werden. Herrmann hörte ihre Predigten aufmerksam an, aber die Sache schmeckte ihm nicht: Ulrikens Billet hatte seinen Gedanken und Empfindungen eine ganz andre Richtung 105 gegeben: die Ehre reizte ihn izt wie eine Speise, die man auf den Fall aufhebt, wenn man keine beßre hat. Die Dame war nicht wenig aufgebracht, daß ihr auch dieses Mittel fehlschlagen wollte: doch gab sie ihren Plan nicht ganz auf.

Desto eifriger verfolgte seit dem Empfange des Billets Herrmann den seinigen. Vom Morgen bis zum Mittag, vom Mittagsessen bis zum späten Abend war er bey Regenwetter und Sonnenscheine in Bewegung, wanderte die Gassen durch, gieng zu einem Thore hinaus, zum andern herein, spionirte jedes Frauenzimmergesicht, das hinter der Glasscheibe lauschte oder zum offnen Fenster heraussah, begafte jedes, das in einer Kutsche vorbeyfuhr oder zu Fuße vor und neben ihm wandelte, verfehlte keine Komödie, keine Oper, so lange sein kleines Taschengeld zureichte: das Schauspiel war für ihn so gut als nicht da: man mochte weinen oder lachen, er blieb immer derselbe und durchirrte mit forschendem Auge Logen und Zirkel: umsonst! er fand nicht, was er suchte: es wurde ihm bänglich, 106 er konnte nicht bleiben: er mußte gehn, wenn gleich das Schauspiel nur halb geendigt war. Die Leute im Hause wunderten sich außerordentlich über seine häufigen Wanderungen, und die Frau Doktorin, eine strenge Sittenrichterin, hatte ihn gar in einem gewissen argen Verdachte, und hielt ihm deswegen eine kraftvolle Rede über Lüderlichkeit und Verführung, wovon er kein Wort verstund. Auch der Doktor befragte ihn über die Ursache seines beständigen Ausgehens: daß er sie nur ganz verrathen hätte! Er wandte eine Bänglichkeit vor, die ihm an keinem Orte zu bleiben verstatte, eine Unruhe, Angst, die nur Bewegung und freye Luft milderten: – alles die lautere Wahrheit! – »So recht, mein Sohn! sagte der Doktor: Bewegung ist dergestalt und allermaßen der beste Koch und der beste Apotheker: es ist das junge warme Blut, das dir die Unruhe macht: Du sollst mir vierzehn Tage über kein Wort schreiben, und lauf dir alle Tage ein Paar Schuhe entzwey! ich will sie bezahlen.« –

Da sonach aus einer genommnen Freiheit 107 eine gegebne geworden war, so bediente er sich ihrer desto reichlicher. Auf seinen Irrungen durch Feld, Busch und Straßen fand sich allmählich das alte Projekt wieder ein, das er mit der Baronesse bey der Verwechselung der Ringe entworfen hatte: er wünschte, es ausgeführt zu sehn, und es schien ihm bald höchstwahrscheinlich, daß die Baronesse ihm von ihrem Kommen nach Dresden heimliche Nachricht gegeben habe, um es mit ihm auszuführen. – »Hui! das ist es! dachte er. Hier kann uns der Graf nicht hindern, oder in unsrer Liebe stören: hier hat er nichts zu befehlen: der alten Anverwandtin, wohin sie kommen soll, kann sie wohl leicht entwischen. Sie bleibt so lange auf einem Dorfe versteckt, bis die alte Anverwandtin stirbt – wenn sie nur recht alt wäre! – oder wenn sie auch lange leben bleibt, so hol' ich Ulriken unter einem fremden Namen zurück, heirathe sie, und – Ich muß nur Anstalt machen und dem Rathe der Doktorin folgen, damit ich unterdessen emporsteigen und etwas Großes werden kann. – O über das 108 entsezliche Schicksal, das mein Vater ein Einnehmer seyn mußte! Da wärs so leicht, sie zu besitzen. – Aber warum mußte nun mein Vater nur ein Einnehmer seyn? Es war doch so eine Kleinigkeit, ihn zum Baron zu machen.« –

Kaum war dies jugendliche Projekt zur Welt gebracht, so eilte er schon zur Frau Doktorin und bat sie flehendlich, ihn die versprochne Unterstützung auf der Bahn der Ehre und des Glücks nunmehr genießen zu lassen: er wolle alles daran wagen und die äußerste Mühe nicht sparen, um ein großer Mann zu werden. Die Doktorsfrau, voller Freuden, ihn plözlich dem Ziele so nahe zu sehn, wohin er sollte, bestärkte ihn in seinen ehrgeizigen Illusionen und fachte seine Begierde durch goldne Erwartungen so gewaltig an, daß sie lichterloh brannte: sie stellte ihm zwar vor, daß man klein anfangen müßte – »schadet nichts! unterbrach er sie hitzig: klein! noch so klein! nur her damit!« – »Aber, fuhr sie fort, man hat der Exempel sehr viele, daß aus Schreibern Hofräthe, Geheimeräthe, Minister geworden sind.« –

109 »Das wäre!« rief Herrmann entzückt und war in seinen Gedanken schon wenigstens Geheimerath, wo nicht wirklicher Minister.

»Ja, man hat der Exempel! erwiederte die Doktorin. Wenn man nur Geschick und ein gutes ingenium hat, sich gut aufführt und fromm und gottesfürchtig ist, so kann man steigen, ehe man sichs versieht. Ich habe Sie schon dem Kammerdiener empfohlen, den Sie oft bey uns gesehn haben müssen: er ist zwar in keinem der größten Häuser: aber sein Herr braucht immer Sekretäre und Schreiber; und was er mit der Zeit nicht durch sich selbst thun kann, das vermag er durch Empfehlungen. Es ist ein sehr gottesfürchtiger braver Mann und rechter guter Christ.« –

Herrmann konnte sich vor Vergnügen nicht fassen und flog schon auf den goldnen Fittigen der Ehre Ulrikens Umarmung entgegen, sah sich an ihrer Seite geehrt, blühend, glücklich, und fähig, andre glücklich zu machen: er war in seinem Traume schon von Mengen umringt, die ihm ihr Wohlseyn verdankten: er zerschmolz in 110 der seligen Vorstellung, so viel Ehrenvolles, Rühmliches, Großes gethan zu haben, und Antonin konnte seiner Unsterblichkeit nicht gewisser seyn als er. Das herrliche Bild begeisterte ihn, daß er seine Kraft in sich erhöht, jede Fiber zu Thätigkeit und Unternehmungen angespannt und sein ganzes Wesen über sich selbst erhaben fühlte.

Der Flug seiner Einbildung senkte sich freilich schon nicht wenig, als er den folgenden Tag befehligt wurde, dem Kammerdiener aufzuwarten: das war ein Schreckschuß, der seinen Traum zur Hälfte verscheuchte. Er eilte zur bestimmten Stunde mit vollen Segeln der Erwartung zu ihm: sein Patron wußte nicht das mindste von ihm: Herrmann trug ihm mit fliessender Beredsamkeit den Bewegungsgrund seines Besuchs vor: der Patron besann sich lange – izt wußte er, daß die Frau Doktorin ihm gestern oder vor einigen Tagen davon gesagt hatte. – »Ich werde für Sie sorgen« – schloß er und brach den Besuch ab.

In einem Paar Tagen ergieng durch die 111 Doktorin ein abermaliger Befehl, daß er sich zur Kammerjungfer des nämlichen Hauses verfügen sollte; an welche ihn der Kammerdiener empfohlen habe. Mit etlichen Segeln der Erwartung weniger gieng er abermals und kam abermals mit der Versicherung zurück, daß sie für ihn sorgen wollte.

In einer Woche darauf mußte er sich vor der gnädigen Frau stellen, an welche ihn die Kammerjungfer empfohlen hatte: man meldete ihn, sie kam im Pudermantel heraus, ließ sich seinen Namen sagen und versicherte, daß sie für ihn sorgen wollte. Der Friseur schlug mit der pudervollen Quaste los, und Herrmann kam zum erstenmal nicht leer zurück; denn er war voller Puder.

In vierzehn Tagen wurde ihm nach vielem Betreiben der Doktorsfrau, die nur entfernt durch den Kammerdiener auf die übrigen Hebel seines Glücks wirken konnte, die Erlaubniß gegeben, vor dem gnädigen Herrn zu erscheinen: er verwies ihn an den Hofmeister, der ihn examiniren sollte. Der Hofmeister bestellte ihn in 112 acht Tagen, Sonntags nach geschloßner Nachmittagspredigt. Er gieng, aber so demüthig, so langsam, wie ein Schiff ohne Wind: alle Segel waren beigelegt. Der Examinator war nicht zu Hause. Die Kinderfrau rieth ihm, morgen früh wiederzukehren: er that es; der Examinator hatte keine Zeit.

Er verwunderte sich äußerst gegen seine erste und älteste Patronin, die Doktorsfrau, über die Verzögerung. – »Ach, sagte jene, man hat etwas versehen. Der Herr Magister ist sonst ein lieber gottesfürchtiger Mann: aber Sie hätten ihm die Visite machen sollen. Das hat er übel genommen: nun ists da vorbey.« –

»Wegen einer Visite will er mein ganzes Glück, mein Emporkommen hindern?« rief Heinrich, wie aus den Wolken gefallen.

»Ja, erwiederte die Doktorin, das ist nicht anders; es will doch ein Jeder sein Recht haben.« –

Gute Nacht Minister, Geheimerath, Hofrath! Weg waren die glänzenden Aussichten der Ehre! vom Winde verweht! der aufklimmende 113 Jüngling von der erträumten Höhe, die er mit einem Schritte erreicht zu haben hofte, wo ihm menschenfreundliche Größe und wohlthätige Gewalt Kränze und Lorbern entgegenboten, durch einen plözlichen Windstoß zurückgeworfen, in die unbedeutendste Geringfügigkeit zurückgesezt. Er fühlte schmerzlich, daß er nur der Schreiber eines Advokaten war, und fürchtete eben so schmerzlich, daß er nichts weiter werden sollte. Wie ein Vogel mit frischbeschnittnen Flügeln, schlich er traurig im Hause herum und verschmähte das reichlich aufgeschüttete Futter, weil er nicht mehr fliegen durfte.

Während dieses verunglückten Laufes nach der Ehre hatte der Eigennuz seiner Patronin eine Ursache gefunden, seine Entfernung aus dem Hause nicht mehr zu betreiben: deswegen war sie auch so kaltblütig über die unterlaßne Visite, die sie sonst mit der schärfsten Strenge geahndet hätte. Der bisherige Schreiber ihres Mannes hatte durch ihren Vorschub eine Versorgung bey einer adlichen Herrschaft auf dem Lande bekommen, und es schien ihr ungemein 114 schicklich, den jungen Herrmann, für welchen Tisch und Wohnung bezahlt wurde, an seine Stelle zu setzen und also einen Artikel ihres Aufwands zu ersparen. Der Mann wollte aus dem guten Grunde nicht daran, weil der junge Mensch die Arbeit nicht allein versehen könnte, und weil es unbillig wäre, Jemandem eine Bürde aufzuladen, die er ungern trüge, ohne ihn dafür zu belohnen: allein sie gebot ihm zu schweigen und sich nicht in Finanzsachen zu mischen, die sie besser verstünde. Sie sezte ihr Projekt mit vieler Hitze durch und übernahm selbst die Aufsicht über den Fleis des neuen Schreibers: wenn die Feder nur ein Paar Minuten ruhte, so schallte ihm schon der Befehl ins Ohr: – »Geschrieben! geschrieben!« – Er durfte ohne Erlaubniß keinen Fuß über die Schwelle setzen: bey seiner Rückkunft war er allemal zu lange aussengeblieben, wenn er gleich die vergönnte Zeit nicht überschritten hatte; und dann mußte er ein Verhör ausstehn, wie ein Delinquent. – »Wo ist man gewesen? Was hat man gemacht? Was hat man gesprochen? Was hat man 115 gedacht?« – Stund er nach dem Verhör ein Paar Minuten zu lange müßig da, so ergieng der Befehl – »An die Arbeit! an die Arbeit! Nicht so müßig dagestanden! Wer essen will, muß sich sein Brod verdienen.« – Bey Tische aß er ihr zu langsam, ward zu spät fertig und sollte schon mit dem lezten Bissen die Feder wieder ergreifen: des Morgens konte er nie zeitig genug ausschlafen, ob er gleich von Kindheit an zum frühen Aufstehn gewöhnt war, und des Abends nie zeitig genug zu Bette gehn, weil er nichts that und doch Licht verbrannte. Sein Ofen nahm immer das meiste Holz hinweg, so sparsam ihm auch eingeheizt wurde und so sehr er auch fror, daß er zuweilen kaum die Feder zu regieren vermochte; und wenn der Himmel nur Einen weniger kalten Tag gab. wo das Thermometer nicht auf dem Gefrierpunkte stund, so wurde das Heizen bey ihm ganz eingestellt. Dabey unterließ sie nicht, seinem Ehrgeize mit himmlischen Erwartungen zu schmeicheln, daß er alle seine Kräfte anspannte und jedes tägliche Ungemach mit Heldenmuthe ertrug, um nach 116 einigen Jahren voll Beschwerlichkeit und Arbeit das goldne Fließ zu erringen, das man ihm vorhielt, und die erkämpfte Beute mit Ulriken zu theilen. Die Aussicht auf dieses Glück bewafnete ihn mit eherner Standhaftigkeit: oft mitten in seinen trocknen Beschäftigungen, wenn seine Hand auf das Papier mahlte, »daß Hans wider Gürgen klagend einkomme, weil er ihn mit zwey Ohrfeigen und drey Stockschlägen begünstigt habe, oder daß Anna Klara Eißfeldin, alle rechtliche Nothdurft vorbehältlich, sothanes ihr Befugniß zu erweisen schuldig sey« – mitten unter solchen trocknen Beschäftigungen flog seine Seele in die Gefilde der Liebe hinüber, schwebte, wie ein zweiter Herkules, nach ausgekämpftem Streite mit Hindernissen, Ungemächlichkeiten und Arbeit, Ulriken, seinen errungnen Preis, im Arme, triumphirend daher: nach seinem Gefühle war er ein Held, der sich durch Leiden und Thaten zum Halbgotte hinaufschwingen sollte. Die Feder stund bey solchen Flügen der Einbildung freilich oft still: seine Aufseherin schrie – »Geschrieben! geschrieben!« – und die Hand flog 117 in Galop durch den holprichten steinichten Aktenstil dahin, weil er mit jedem sauren Zuge Ulriken durch eine Beschwerlichkeit mehr verdient zu haben glaubte.

Inzwischen erleichterte ihm doch der Doktor die Mühe seiner herkulischen Laufbahn mit vieler Billigkeit: ohne daß es seine Frau erfuhr, ließ er den größten Theil der Arbeit durch einen heimlich besoldeten Schreiber außer dem Hause thun und gab Herrmannen nur solche Sachen, die nicht dringend waren, noch vorzügliche Genauigkeit erfodertem und auch nur in geringer Menge. Unter dem Vorwande, daß er ihn brauche, nahm er ihn jedesmal mit sich, wenn er auf Gerichtsbestallungen reiste, um ihn zu zerstreuen und ihm Erholung zu verschaffen, und vor dem Thore lud er seinen heimlichen wirklichen Schreiber auf, der die Arbeit verrichten mußte, während daß Heinrich in den Feldern spatzieren oder sich mit andern ländlichen Winterergözlichkeiten vergnügen konte. Solche kleine Reisen waren für ihn Fahrten zur Freude: er wurde von dem Drachen, der ihn bewachte, erlöst, und 118 jedes Dorf, wohin sie ihn führten, gab ihm das Bild seines Vaterstädtchens, das Herrschaftshaus eine Vorstellung vom Schlosse des Grafen Ohlau, und Garten und Felder jede Scene kindischer Glückseligkeit wieder: Schwinger, die Baronesse, alle wandelten neben ihm her, sie stunden vor ihm, sie sprachen mit ihm: die kahlen vereisten Bäume am gefrornen Wasser waren ihm seine Feinde, die vom Himmel gezüchtigt, verworfen, traurig und verlassen dastunden und ihre Bosheit bereuten. Oft glühte ihm bey solchen Gedanken sein Innerstes, wie von aufloderndem Feuer, indessen ihm Hände und Gesicht vor Kälte starrten, ohne daß er es fühlte. 119

 


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