Johann Karl Wezel
Herrmann und Ulrike / Band 2
Johann Karl Wezel

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Zweites Kapitel.

Welcher Liebende sollte nicht einer versprochenen Zusammenkunft, besonders bey einer so kritischen Lage der Umstände, mit allen Rudern und Segeln entgegeneilen? – Herrmann machte die verlangten Anstalten dazu und begab sich manchen Abend in höchsteigner Person unter Ulrikens Fenster, um die Unterredung vielleicht zu beschleunigen. Es vergiengen acht, es vergiengen vierzehn Tage, keiner darunter war der glückliche wo sie geschehen sollte: es vergiengen zwey Monate, und noch war sie nicht geschehen. Unmuthig über eine so traurige Verzögerung, wanderte er eines Abends im Vorhause auf und nieder und war 189 fest entschlossen, wenn sich die Konstellation am Himmel seiner Liebe nicht bald nach Wunsche änderte, das Aeußerste zu wagen, zu Ulriken zu gehn und mit Hintansetzung aller Gefahr die Zusammenkunft auf ihrem eignen Zimmer zu suchen: Siehe da! während dieser unruhigen Berathschlagungen mit sich selbst wird er Bewegung in der Dämmerung gewahr, hört etwas sehr heftig keuchen und eine leise erschöpfte Stimme, die ihm seinen Namen flistern schien: ohne zu untersuchen, ob es Ulrike seyn könte, sezte er voraus, daß sie es sey, sprang hinzu und faßte – einen großen ungeheuern Jagdhund, der sich sogleich mit Gewalt losriß und mit lautschallendem Bellen seinen Abschied nahm.

Armer Verliebter! Ist wohl einer, so lange Venus die Welt regiert, so vielfältig und so unglücklich in seinen Erwartungen getäuscht worden? Als wenn Liebe und Schicksal es verabredet hätten, seine Standhaftigkeit zu prüfen. Wollten sie vielleicht gar versuchen, sie wankend zu machen, so hatten sie sich ihren Mann nicht gut gewählt; denn jedes neue Hinderniß, jede 190 neue Täuschung spannte seine Beharrlichkeit einen Grad höher. Er gieng zwar, höchstunwillig über sein Ungemach, auf die Stube und sezte sich in einen Winkel, aber nur um das angefangne heldenmüthige Projekt desto lebhafter zu überdenken. Es war beinahe bis zur Ausführung reif, und der nöthige Enthusiasmus befeuerte schon seine ganze Stirne, als plözlich die Thür aufgieng. – »Wer da?« – Ich! – es war die Stimme seines geheimen Bothschafters, der ohne das Gespräch weiter fortzusetzen, die Thür offen ließ und davon lief. Ein neues Wunder! In einer kleinen Weile kam Jemand geschlichen: er konte in der Dunkelheit nichts erkennen, aber seine Ohren hörten bald einen Ton, und seine Hände fühlten eine Hand, die er nicht zu verkennen vermochte. – Heinrich! Ulrike! ertönte Schlag auf Schlag, und Schlag auf Schlag drückte sich Hand in Hand. Aber welch neuer Unfall! Sein Glück überraschte ihn: er war zerstreut, verlegen, ängstlich: er hatte tausend Sachen zu sagen und wußte nicht wo er anfangen sollte: in seinem Kopfe 191 stürzte sich Gedanke über Gedanke, und Wort an Wort drängte sich zur Zunge: der Mund war immer zum Reden geöffnet, und über der großen Bemühung das Wichtigste zuerst zu sagen und ja nichts Erhebliches zu vergessen, sagte er gar nichts, denn es war alles gleich wichtig, gleich erheblich. Noch mehr Unglück! es war finster in der Stube: er hatte nun fast ein Jahr hindurch ein so liebes Gesicht nicht mit ruhiger Aufmerksamkeit gesehn, hatte sich so kindisch auf den entzückenden Anblick gefreut, und auch diese Hofnung mußte ihm fehlgehn! Und Licht zu holen, das fiel ihm in der Verwirrung gar nicht ein: auch hätte er ja indessen ein paar Augenblicke von Ulrikens Gegenwart eingebüßt!

Zum Glücke brachte die Baronesse mehr vorbereitete Fassung mit. Sie übergab ihm eilfertig die Hälfte ihrer sechs und dreißig Dukaten, berichtete ihm mit eben so übereilter Hastigkeit, daß sie nur einige Minuten verziehen könte, damit nicht ihre Tante unterdessen vom Besuche zurückkäme und sie vermißte, und bat also inständigst, sogleich über die Hauptpunkte 192 ihrer Unterredung, die Entfliehung von Dresden und die Bestimmung des Orts, wo sie einander treffen wollten, zu sprechen. Eh er noch anfangen konte, seine Meinung vorzutragen, unterbrach sie sich schon selbst. – Ach! sagte sie, weißt du, was für eine schreckliche Nachricht ich bekommen habe? Die Gräfin hat wirklich einen Platz im Stifte für mich ausgemacht: es soll zwar nicht so häßlich darinne seyn, wie ich mirs vorgestellt habe, aber ich danke doch dafür. – Hurtig, Heinrich! wenn Du mir etwas zu sagen hast!

Heinrich. Natürlich unendlich viel! An unsrer itzigen Verabredung hängt ja unser ganzes Glück. Wir müssen die Zeit nützen. Nur hurtig, was du noch sagen willst!

Ulrike. Noch etwas schrecklicheres! die Gräfin hat an meine Mutter geschrieben und ihr unsre ganze Liebe erzählt. Das wird ein Lärm werden! Ich kan mich zwar nicht recht auf meine Mutter mehr besinnen; denn ich bin schon in meinem sechsten Jahre von ihr zum Grafen gekommen; und seitdem hab' ich sie nicht wieder 193 gesehn. Sie kan die Gräfin nicht leiden, und deswegen ist sie auch niemals zum Besuche bey uns gewesen, wie du dich besinnen mußt. Daran erinnere ich mich noch wohl, daß sie mich zuweilen auf die Arme oder den Schoos nahm und streichelte und küßte, als wenn sie mich aufküssen wollte, und kurz darauf durft' ich ihr nicht vors Gesichte kommen, da war ich ihr wieder so unausstehlich, daß sie mich anbrüllte, wie ein Löwe, wenn ich ihr zu nahe kam; und wenn ich etwas that, das ihr nicht gelegen war, mußt' ich wohl gar das Essen entbehren oder mich in eine finstere Kammer sperren lassen, damit mich der Pupu fressen sollte. Es ist ein rechter Heide von einer Frau, wenn sie böse wird, das haben mir alle Leute gesagt. Kanst du dir vorstellen? Da mein Vater noch lebte und seine Güter noch nicht durch Konkurs verloren gegangen waren, ist sie selbst auf dem Felde herumgeritten und hat die Arbeiter mit der Peitsche ausgeprügelt, wenn sie nicht fleißig genug gewesen sind: sie hat in ihrem Leben mehr als Ein Pferd zu Tode gejagt 194 und manchem Domestiken ein blaues Auge geschlagen. Bedenk einmal, was wir alles von ihr zu befürchten haben! Wenn sie nur nicht etwa gar auf den Einfall kömmt, mich zu sich zu verlangen, bis ich in die Stelle im Stift einrücken kan! Das wäre mein Tod. – Ach! bester Heinrich, wenn ich auf immer von dir getrennt würde! Es thut mir weh genug, es itzo zu thun – aber wir dürfen keine Zeit verlieren –

Heinrich. Jede Minute wollen wir nützen. O wenn unsre Liebe einmal aufhörte, eine verstohlne Liebe zu seyn!

Ulrike. Bald, bald soll sie das nicht mehr seyn: ich setze durch Wasser und Feuer, um es dahin zu bringen: aber dann, Heinrich! dann wollen wir uns lieben, wie Engel: nichts thun und denken und fühlen als Liebe. – Wenn nur die Zeit nicht so drängte! daß wir ja nichts vergessen! –

So drehte sich ihr Gespräch ewig um Klagen über die gegenwärtigen Hindernisse ihrer Liebe und um erfreuliche, meistens schimärische 195 Hofnungen auf die Zukunft: bey jedem sechsten Worte erinnerte Ulrike, daß sie schlechterdings ihn bald wieder verlassen müßte, wollte gehn und blieb: beide ermahnten sich unaufhörlich ja nichts Nothwendiges zu vergessen und vergaßen alles: sie führten sich sorgfältig zu Gemüthe, daß ihre Entfliehung äußerst dringend sey, und daß man Zeit, Ort und Zusammenkunft und tausend andre Umstände verabreden müsse, und verabredeten auch nicht eins von allen: kurz, es war eine Berathschlagung zwischen zwey Verliebten, die mit vielen andern Berathschlagungen das Eigenthümliche hat, daß man viel dabey spricht und nichts ausmacht.

Ueber dem vielen Sprechen mußte sich nothwendig die Unterredung bis in das Unendliche verlängern, und aus den paar Minuten, die man anfangs dazu bestimmte, war izt mehr als eine halbe Stunde geworden. Plötzlich hörte man aus dem Saale murmeln und gehen: es gieng Jemand an allen Thüren herum, versuchte sie aufzumachen und fluchte, wenn er sie verschlossen fand. Der nächste Gedanke war, daß Herr 196 und Frau vom Hause, die zum Besuch waren, zurückgekommen seyn möchten: aber der Lärm näherte sich immer mehr und man rasselte bereits an der nächsten Thür. Angst und Furcht überfielen die beiden Verliebten so heftig, daß sie sich beide in einen Winkel drükten, um nicht gesehn zu werden, wenn man ja hereinbräche. Nicht lange währte es, so klopfte man ziemlich heftig an die Thür: sie athmeten kaum: die Thür gieng auf, und Götter! wer trat herein? – Tante Sapperment, begleitet von Hans Pump, der eine große helleuchtende Stocklaterne trug! Ihr erster Blick traf die beiden zitternden Verliebten, und mit dem ersten Blicke fuhr einer der kräftigsten Flüche aus ihrem Munde. Sie wütete, wie ein erbitterter hungriger Wolf, der ein paar bebende Rehe in einen Winkel getrieben hat, um sie zu würgen: sie ergriff Ulriken, die das Bewußtseyn eines Ungehorsams und die Ueberraschung zaghaft machte, schleuderte sie dem Bedienten in die Arme, der sie mitleidig auffieng, wie sie von der Gewalt des Zuges bis zum Fallen dahintaumelte: Heinrich fiel 197 zwar der Oberstin in die Arme, allein zu spät: sie spannte alle soldatische Kraft ihrer Nerven an, wand sich los und stürzte ihren Gegner mit Einem Stoße, daß er knirschend über Stuhl und Tisch dahinfiel. Augenblicklich wandte sie sich nach Ulriken und drükte sie in die Arme zusammen, daß sie laut schrie und sich der unwürdigen Behandlung widersezte: allein die Tante hatte die Größe und die Knochen eines Grenadiers, wurde durch den Widerstand noch wütender und warf die ungleich schwächere Baronesse zur Thür hinaus: sie schlug auf die Dielen darnieder, daß der Vorsaal von ihrem Falle schütterte. Sie lag ohne Bewegung da, und nur ein leises schmerzliches Hauchen war das Zeichen ihres Lebens. Ohne Erbarmung zog sie die schnaubende Oberstin auf, riß dem Bedienten die Laterne aus der Hand und gebot ihm Ulriken in die Kutsche zu tragen: es geschah: er lud sie mit dem derben Griffe eines Packknechts auf seine Arme, und wie ein Lamm, das von den harten Fäusten seines Schäfers zur Scheere hingeschleppt wird, die ihm mit Wunden die 198 Wolle rauben soll, ließ sie sich ohne Leben und Widerstand mit schlaff niederhängenden Armen, wankendem Kopfe und blutender Wange hinabbringen. Herrmann hatte sich indessen aufgeraft und wurde durch ihr blasses blutiges Gesicht, welches der darauf fallende Laternenschein todtenähnlich machte, so bis ins Innerste durchdrungen, daß er vor Wehmuth keine Kraft zur Rache in sich fühlte: er bat die Oberstin mit der beweglichsten Rührung Ulrikens zu schonen und klammerte sich vor Eifer und Inbrunst so fest an sie an, daß sie nicht von der Stelle konte: sie befand nicht für gut, ihn durch ein Versprechen zu beruhigen, sondern machte sich von ihm los und eilte mit großen soldatischen Schritten Ulriken nach: Herrmann hinter ihr drein! doch da das Getöse Bediente und Mägde im ersten Stocke versammelt hatte, so gebot die Oberstin den tollen Menschen aufzuhalten: man gehorchte und führte den armen Herrmann, der vor Wuth hätte zerspringen mögen, die Treppe liebreich hinan, steckte ihn in seine Stube und schlug sie zu.

199 Der Doktor und seine Frau erfuhren bey ihrer Zurückkunft von dem Bedienten des Hofraths nur den lezten Theil der Geschichte, und zwar nicht die Begebenheit, wie er sie gesehn hatte, sondern wie er sie sich dachte: er berichtete nämlich, daß ihr Schreiber einen Anfall von Raserey bekommen und eine Dame, die er auch nannte, auf der Treppe angegriffen, und sich mit schwerer Mühe von ihr habe zurückhalten lassen. Die Doktorin argwohnte gleich Mord, Todtschlag und wer weis welch andres Unglück? der Mann hingegen argwohnte weder Gutes noch Böses, sondern gieng mit gelaßnem Schritte von Herrmannen selbst Erkundigung einzuziehn. Er fand ihn äußerst niedergeschlagen, trostlos und verlegen; und weil das Verhör zu umständlich wurde, wandte der Verhörte Krankheit, Schmerzen am ganzen Leibe vor, und bat um die Erlaubniß sich zu Bette zu legen, die ihm der Doktor ohne Anstand ertheilte: er wiederholte zwar von Zeit zu Zeit seine Hauptfrage, was er mit der Oberstin vorgehabt hätte, allein der Kranke antwortete jedesmal mit 200 Klagen über seine Schmerzen und lautem Stöhnen darauf, daß ihn der Doktor für heute in Ruhe ließ und seine Frau versicherte, er sey nicht toll.

War es aus Verstellung oder weil er seinen Schmerz nicht anders zu verdauen wußte? – wahrscheinlicher das lezte, warum er einige Tage das Bette nicht verließ! Er aß und trank wenig oder gar nichts; wenn man ihn etwas fragte, schien er einzuschlafen oder antwortete so undeutlich, daß man nichts vernehmen konte. Alle seine Kräfte waren von Fasten und Kummer endlich so abgespannt, daß er für alles Gleichgültigkeit bekam: ob er starb oder lebte, ob seine Liebe glücklich oder unglücklich ausfiel, ob er sich verrieth oder nicht, alles galt ihm gleich: kein Wunder also, daß er in dieser trüben Verzweiflung alle seine Geheimnisse entdeckte! Er offenbarte dem Doktor, der ihn fleissig besuchte, seinen ganzen Liebeshandel, ohne ihn um Verhinderung oder Beistand zu bitten, und erzählte ihn so frostig, wie die Gegebenheit eines fremden Menschen. Der Doktor lachte, tröstete ihn spaßhaft und verwies zur Geduld.

201 Die Frau hatte sich schon längst bitterlich beschwert, daß der Mensch nun schon drey Tage krank sey, nichts thue und weder gesund werden noch sterben wolle; hatte auch dem Manne abermals beide Ohren voll gebrummt, daß er sich durch seine Gutherzigkeit verleiten ließ, einen Menschen ins Haus zu nehmen, von dem man nicht wüßte, ob er toll oder gescheidt sey. Sie wiederholte ihm izt, als er vom Kranken zurückkam, diese lezte Bedenklichkeit sehr nachdrücklich. – »Ach, sprach der Mann lachend, mit dem Kopfe ist er wohl gescheidt, aber das Herz ist toll. Der Bube ist verliebt.«

Die Frau. Verliebt! – Nun muß er den Augenblick aus dem Hause: den Augenblick! Wer wird die Sünde auf sich laden und einen verliebten Menschen über Nacht bey sich behalten? – Fort mit ihm!

Der Mann. Närrchen, was ist denn nun weiter für Sünde dabey? – Er ist verliebt.

Die Frau. Papachen, du weißt viel, was zu einer Sünde gehört. Deine Akten verstehst du: was Sünde ist, das muß ich wissen. – 202 Einen Sünder dulden, heißt sich fremder Sünde theilhaftig machen. –

»Je Mäuschen!« unterbrach sie der listige Mann, »er ist in dich verliebt.«

»In mich!« rief die Frau und wußte noch nicht, ob sie es für Ernst nehmen sollte.

Der Mann. Freilich! in dich! Ich habe gar nicht geglaubt, daß ich so eine schöne Frau habe: er macht dich zum Engel, zur Göttin –

»In mich! – Der Mensch ist ein Narr,« sagte die Dame lächelnd. »Er wird doch meinetwegen nicht verrückt worden seyn?«

Der Mann. Geh zu ihm, damit er sich nur beruhigt! Du weißt ja wohl: in seinem Alter macht man nichts als tummes Zeug in der Liebe.

Die Frau. Ist es denn etwas so sehr tummes, sich in mich zu verlieben? – Geh an deine Akten, Papachen! Ich will sehn, wie sich der Kranke befindet. –

Die Wendung, die Papachen der Sache gab, war zwar listig, aber etwas boshaft; denn Herrmann konte unter allen Mitgeschöpfen 203 weiblicher Art seine Frau am wenigsten leiden, das war ihm deswegen wohl bekannt, weil er seine Abneigung gegen sie zuerst veranlaßt hatte. Die Doktorin brachte geschwind ihre kleinen Reize in Ordnung und begab sich in die Stube des Kranken: sobald sie hereintrat, drehte er sich um, das Gesicht nach der Wand zu, und schlief so fest, als wenn ihn Circe eingeschläfert hätte. Sie redte ihn an, und da sie merkte, daß aus ihrer Anrede kein Gespräch werden wollte, wanderte sie wieder ab. Seit der Zeit versäumte sie keine Gelegenheit, ihm zu gefallen und durch Anzug, Blicke und Dienstfertigkeiten ihn noch verliebter zu machen, als er nach ihrer Rechnung bereits war, ohne sich eine Minute lang der Sünde zu fürchten; und der Mann war viel zu froh, daß ihm seine List so gut gelungen war, um ihr den Unzusammenhang ihres Sündensistems vorzurücken. Ob es mehr als Eitelkeit bey ihr war, das weis allein ihr Herz. 204

 


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