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Erstes Buch

I

Der lange Sommertag sank ohne Eile und auch noch unmerklich; Leo Kalk sah in seinem Atelier vor der Staffelei und malte an seinem »Frühling«. Zu jener Zeit – es war der Sommer 1871 – hatte er noch nicht das nach eigenem Entwurf gebaute, malerisch prunkvolle Atelier, das später eines seiner berühmtesten »Werke« war; er saß noch in seiner bescheidenen Werkstatt in der Münchener Augustenstraße, in dem »Haus der Freunde«. Es war ein steingrau getünchtes, völlig schmuckloses Haus, das nur Malerateliers mit deren Nebenräumen enthielt; zwei zu ebener Erde, zwei im ersten Stock. Das größte hatte Leo genommen, eine Treppe hoch; die braunroten Wände hatten er und die Freunde hier und da mit phantastischen oder lächerlichen Gestalten, den Ausgeburten wetteifernden Wermuts, mit »breitem Pinsel« bemalt. Von dem hoch hereinfallenden, abendlich warmen Licht überflutet, saß die feine Gestalt des jungen Meisters ein wenig nachlässig und müde da; die gewaltige Hitze dieser Tage hatte den rastlosen Arbeitsmenschen doch auch einmal etwas weich gemacht. Seine schwarze Samtjoppe war offen – sie auszuziehen, fiel ihm doch nicht ein – und aus dem krausen »Schwarzwald« seiner Locken, wie die Freunde ihn nannten, rollte zuweilen ein warmer Tropfen in den dichten Bart, der das Untergesicht tiefschwarz überdeckte.

Er malte aber weiter; weniger aus Drang und Gewohnheit, als dem jungen Modell zu Gefallen, das vor einigen Minuten gekommen war und ihm schräg gegenüber saß. Unter den nackten Kindern, die seine phantastische Landschaft bevölkerten – warum er das Bild den Frühling nannte, war nicht recht zu erraten –, hatte er als Hauptfigur ein größeres Kind auf einen Fels gesetzt, ein schlankes, mageres, und doch auf die Sinne wirkendes Geschöpf; weiß gekleidet, mit weißen Rosen bekränzt, sonst aber durchaus nicht einer Mignon gleich, sondern in ihrer noch unreifen Weltlust wunderlich herausfordernd, begehrlich, versprechend; in ihren schmalen Händen hielt sie unbekannte, märchenhafte Blumen von berauschenden Farben. Für diese rätselhafte Gestalt hatte er ein Modell gefunden, das seiner verwegenen, etwas verdorbenen Phantasie so recht in die Hand gelegt und geschaffen schien. Das dreizehnjährige Mädchen saß wie eine menschgewordene weiße Katze da; lang, wie ausgerenkt, und doch von unheimlich geschmeidiger Anmut, sobald sie sich bewegte. Ihre grünlichen Augen gingen mit einer dreisten und lauernden Neugier umher, die bis jetzt noch weniger vom Weib als vom reizenden Raubtier hatte; das unfertige, blasse, feine Näschen spielte gern mit seinen Flügeln und dehnte sie, als wittere es eine gute Beute. Das weiße Gewand, das sie hier angelegt hatte, nahm sich an ihr wie eine Andeutung des weißen Katzenfells aus, das bei der Menschwerdung verlorengegangen. Ihre eigene Haut war leuchtend hell und wie zarter Samt; die goldrötlichen Locken fielen ihr etwas wild und ungebärdig über die niedrige Stirn, zum Teil bis an die Augen. Es ward ihr schwer, sich ruhig zu verhalten; zuweilen legte sie wohl den Kopf mit einem komisch kindlichen Ausdruck von Wohlbehagen zurück, als genieße sie so recht die Ehre, abgemalt zu werden und Bilder machen zu helfen, aber es währte nicht lange, so warf sie wieder eines ihrer spitzen Knie über das andre, mit den Füßen schaukelnd.

»Nun sitz' einmal still, Katze«, sagte Leo Falk, nachdem er eine Weile nach seiner Art stumm und tiefernst gemalt hatte.

»Ich sitz' ja doch schreckbar still«, antwortete das Mädchen.

»Ich hab's nicht bemerkt. – Laß doch die Füße in Ruh. Glaubst du, daß sie schön sind? Vielleicht kannst du später einmal damit kokettieren; jetzt sind sie noch mehr Flöße als Füße.«

Leo sagte das ohne Härte, rein sachlich, wie er's gewohnt war; das Mädchen aber zuckte, warf ihm ein paar aufblitzende, böse Blicke zu und blähte ihre Nüstern. Sie war aber still. Erst nach längerem Schweigen fragte sie, die neugierigen Augen aufreißend: »Und wann wird das Bild denn fertig?«

»Vielleicht schon morgen,« erwiderte Leo, »wenn du heute stillhältst.«

Sie stieß plötzlich ein kurzes, freudiges Lachen aus. – »Darf ich's einmal anschauen?«

Er lächelte und nickte.

Sie trat hinter ihn, der auf einem geschnitzten Dreifuß ohne Lehne saß. Da die Gelegenheit so verlockend war, streckte sie verstohlen ihre langen, rachsüchtigen Hände nach seinem Haardickicht aus, das sie gern zerzaust hätte; dann ließ sie sie wieder sinken und betrachtete sein Werk, das Bild, auf dem die Welt nun bald das unbekannte kleine Mädel, die Lina Schellenberg, bewundern sollte. Es war ihr selber komisch, wie sie den Meister, der da saß, ihren »Abmaler«, zugleich liebte und haßte. Sie äugelte mit einer gewissen Ehrfurcht nach dem weißgekleideten Mädchen auf dem Felsblock, das so wunderlich fremd und ihr doch so ähnlich war. Die kleinen nackten Geschöpfchen, die da unten im Grase spielten und stolzierten, kamen ihr daneben wie Frösche oder Krabben vor; sie schob verächtlich die Oberlippe ans Näschen. Endlich sagte sie, das Ganze bewundernd: »Das wird Firore machen!«

»Ah, du meinst ›Furore‹«, sagte Leo mit seinem sachlichen Lächeln. »Also dir gefällt's?«

Sie krümmte wieder die Finger gegen seinen Schopf. Dann murmelte sie etwas, das nicht zu verstehen war. Leo malte weiter, ohne sich um sie zu kümmern, bald hier, bald da etwas nachbessernd. Sie sah ihm über die Schultern zu, seinen hin und her irrenden Pinsel mit dem Kopf begleitend.

»Das weiß ich ja, daß ich nicht schön bin«, sagte sie auf einmal, indem die so lange unterdrückte Kränkung sich nun doch hervorwagte.

Leo wandte den Kopf. »Wieso?« fragte er gleichmütig. »Wer hat dir was getan?«

»Nu – weil Sie vorhin von den ›Flößen‹ sprachen. Und – und überhaupt. – Ich bin ja auch erst dreizehn Jahr –«

»Aber doch schon eine eitle Kröte, scheint mir«, warf er mit seiner grausamen Ruhe ein. »Was sprichst du Ding von schön oder nicht schön. Sei froh, daß du was verdienen kannst und mit auf die Bilder kommst, so schiech wie du noch bist!«

Das Mädchen wurde blaß vor Zorn und zeigte ihm die Zähne; freilich sah er's nicht. Es dauerte eine Weile, bis sie antworten konnte; mit schief verzogenen Lippen sagte sie: »Und Sie brauchen mich aber doch. Grad so wie ich bin. Das weiß ich sehr gut. Warum kränken Sie mich denn? Sie brauchen mich ja doch!«

»Wieso brauch' ich dich?« – Er drehte sich zu ihr herum.

»Nu, das wissen Sie ja!«

»Durchaus nicht –«

»Schauen Sie doch auf Ihr Bild!«

»Was soll ich da seh'n?«

»Mein Gesicht. Alle die Gesichter. Ich hab's doch neulich gehört, als der Herr Erhart mit dem Herrn Kircher davor stand; da sagte der Herr Erhart, der immer so g'spaßig ist: ›diese kleinen Liebesgötter, oder was sie sein sollen – merkwürdig verworfene Geschöpfe!‹«

Leo lachte laut auf, was ihm selten begegnete; aber nur einen Augenblick. Mit trockenem Schmunzeln, unbeirrt wie immer, sah er die ›weiße Katze‹ an und fragte nach einer Weile: »Aber diese verworfenen Geschöpfe gehen ja doch dich nichts an? Du bist ja die Große!«

»Ja freilich. Aber der Herr Erhart hat dann auch gesagt: ›Ohne die Lina könnt' er's gar nicht machen; die hat für seine halbwüchsigen Märchenfrauenziefer das richtige lasterhafte Gesicht!‹«

Statt des Leo Falk, den diese Rede doch etwas verblüffte, lachte der schallende, herzliche Baß eines andern, der eben geräuschlos und ohne Klopfen eingetreten war. Es war der Nachbar, Franz Erhart, von dem Lina sprach; er und die beiden Kollegen aus dem untern Stock kamen im Gänsemarsch herein, Erhart voran. Seine großen, feurig blauen Augen verschwanden fast bei dem heftigen Lachen, das die schlanke Gestalt förmlich schüttelte. Es steckte die andern an; Kircher und ›Nämlich‹ (so nannten ihn die Freunde), die zuerst verwundert auf das Mädchen heruntersahen, brachen nun auch in lautes Gelächter aus.

»Dieser Wurm hat ein unheimliches Gedächtnis«, sagte Franz Erhart, nachdem er diesen Ausbruch seiner Heiterkeit überstanden hatte. »Jedes Wort hat sie sich gemerkt. Wo warst du denn, als ich das zum Herrn Kircher sagte?«

»Hinter der spanischen Wand«, erwiderte das Mädchen; »ich zog mich ja an.«

»Und du bist nun ungeheuer stolz auf die Anerkennung?«

»Stolz?«

Das Mädchen verstummte, sie wußte nicht, was sie sagen, ob sie sich schämen oder lachen sollte. In dieser Unsicherheit drehte sie sich auf den Absätzen ihrer funkelneuen Stiefel herum und zeigte den Malern, halb trotzig über die Schulter blickend, ihr allerliebst schmollendes Profil.

»Weißt du denn überhaupt, was lasterhaft ist?« fragte Erhart weiter.

»O Gott, das wär' komisch!« antwortete sie.

»Was wär' komisch?«

»Wenn ich das nicht wüßte!«

»Aber du erlaubst dir doch wohl noch nicht, lasterhaft zu sein?«

Sie sah ihn wieder unsicher über die Achsel an. – »Wie g'spaßig Sie auch immer fragen«, sagte sie endlich, einen ihrer großen Füße hin und her schiebend. »Ich bin ja noch ein ›Wurm‹, wie Sie mich benennen. Würmer sind doch gewiß tugendhafte Wesen. Und ich werd' bis in mein hohes Alter grausam tugendhaft sein ... Glauben Sie das nicht?« setzte sie hinzu und lachte einen Augenblick mit ihrer etwas schrillen Stimme hellauf.

»Ich glaube es, natürlich!« erwiderte Erhart, der sie forschend ansah. Er hatte die durchdringendsten Maleraugen, die man sehen konnte; Augen, die so auf Gesichtern und Gestalten lasen, wie andre in Büchern. Die lange ›Kleine‹, durch seinen Blick belästigt, wandte sich ganz von ihm ab und ihrem »Abmaler« zu, der sich an dem kurzen Wortgefecht in behaglicher Gelassenheit ergötzt hatte. »Ach, lassen wir doch diese Dummheiten«, sagte sie altklug; »malen Sie doch weiter. Daß das Bild morgen fertig wird. Die Rest und die Kreszenz möchten es schon sehn!«

Die jungen Maler lächelten; nur Erhart, der älteste, behielt sein ernstes Gesicht. »Das ist freilich die Hauptsache«, erwiderte er; »müssen aber doch noch zehn Minuten länger warten, wenn ich bitten darf. Wo haben Sie die Iphigenie, Falk? Wir kommen her, um sie anzuschauen.«

»Was für eine Iphigenie?«

»Ein echter Leo Falk, diese Frage. Ich ging eben mit Kircher zu Nämlich, um seine ›Iphigenie‹ wachsen zu sehen; da sagt er uns, er hat sie heute morgen zu Ihnen heraufgebracht, in Ihr besseres Licht, und damit Sie ihm Ihre Meinung sagen. Was haben Sie damit gemacht?«

»Da steht sie an der Wand«, sagte Leo ruhig.

»Nämlich«, ein langer, breitschulteriger Gesell mit strohblondem Haar und Bart und rötlichem, unendlich gutmütigem Gesicht, stürzte sofort in die Ecke und schleppte seine gegen die Wand gedrehte Leinwand heran. Er stellte sie auf eine leere Staffelei, nicht weit von der andern, auf welcher der »Frühling« gemalt wurde. Man sah nun das noch unfertige Bild, eine »klassische Landschaft«: den Tempelhain der Artemis in Tauris, mit edlen und unwahrscheinlichen Bäumen aller Art geschmückt. Rechts zeigte sich die Vorhalle des Tempels im Profil; eine Reihe marmorner Stufen (elender Kalk! dachte Erhart) führte von dort in den ebenen Hain herab. Im Hintergrund, zwischen den hohen Bäumen, blaute das Meer. Iphigenie stand auf einer der oberen Stufen, als Priesterin der Göttin; sie hob eben einen Fuß, um weiter hinabzusteigen, und blickte in die Ferne.

»Wie das Meerblau knallt«, flüsterte Kircher dem neben ihm stehenden Erhart zu. Dieser betrachtete das Bild, ohne sich zu rühren. »Nun? wie findet ihr's?« sagte der gute Nämlich etwas beunruhigt, da er lauter kritische und stille Gesichter sah. Mit seiner hellen, trompetenden Stimme setzte er hinzu: »Nämlich die ersten Verse von Goethes Iphigenie – an die hab' ich dabei gedacht. ›Heraus in eure Schatten, rege Wipfel‹ –«

»Ja, ja, das hört man ihr an«, fiel Erhart sehr ernsthaft ein. »Tret' ich heraus und so weiter ... Ich will Ihnen nur etwas sagen, lieber Nämlich: sie sollte das doch lieber auf griechisch deklamieren. Sie sagt mir's zu deutsch.«

»Finden Sie?«

»Im Ernst. Das ist ein feines, gebildetes, untadelhaftes Mädchen aus guter Familie; in einer der besten Pensionen erzogen – noch ein wenig Anklang von sächsischem Dialekt –«

»Leipziger'sch!« warf Kircher ein.

»Sonst aber« – fuhr Erhart fort – »ganz auf der Höhe unserer Zivilisation. Sie spielt fertig Klavier, kennt etwas Chemie und Physik, weiß, wer Iphigenie war, wer Orestes war –«

»Aber, zum Teufel, die Iphigenie, die ist sie ja selbst!«

Nämlich stieß diese Worte heraus; dann sah er wieder unruhig und eingeschüchtert auf Erharts ernstes Gesicht. Schon damals galt Erhart unter den jüngeren Künstlern für den selbständigsten Kopf und die stärkste Kraft, wenn auch im letzten Jahr die koloristischen Zaubereien des gewaltig aufstrebenden Falk ihn ein wenig verdunkelt hatten.

»Ja, sie schreibt sich Iphigenie«, sagte Erhart ruhig, sein leichtes, graues Röckchen zurückwerfend, da die Hitze ihn drückte. »Ich hab' sie aber in Dresden gekannt; von der Brühlschen Terrasse gleich rechts um die Ecke. Lieber Nämlich – mehr griechisch! – Sehen Sie, dieser Falk – da stehen seine Frühlingskinder. Der Teufel soll mich stückweise in der Pfanne braten, wenn ich ein Wort von dem zurücknehme, was ich gegen diese nackten Putten gesagt habe; die haben schon bei der Geburt mit dem Doktor kokettiert, und beim ersten Schluck Muttermilch von ›freier Liebe‹ geträumt. Und der weißgekleidete Genius da, frei nach Lina Schellenberg, der hat seine interessante Zukunft auch schon hinter sich ... Aber glauben muß man an die kleinen Teufel; sie sind auf der Welt, sie leben, sie lachen jeden aus, der ihnen ihre verruchte Existenz abstreiten will. Ihre Iphigenie hat weder vorne noch hinten was. Sie ›dhut man so‹, wie die Berliner sagen. Machen Sie sie griechisch!«

»Sie meinen: lebendig –«

»Ja!«

»Oh, das werd' ich schon – – Ich werd' mich bestreben, Herr Erhart«, sagte Nämlich mit der treuherzigen Zuversicht, die ihn immer nur auf Minuten verließ. »Ich verstehe schon. Mir schwebt auch schon vor, wie – – Oh, das wird gemacht!«

Das Mädchen zupfte Leo Falk am Arm. Sie hatte ihre schmalen Hüften schon lange hin und her gewiegt. Als Leo, über ihre Dreistigkeit verwundert, den Kopf zu ihr zurückwandte, sagte sie komisch weinerlich: »Ach, die reden so viel. Und das Bild wird nicht fertig. Fangen Sie nicht wieder an?«

»Gib 'ne Ruh, du Krott«, sagte Leo kurz. »Ich werd' schon wieder anfangen – aber wann's mir gefällt!« – Er fuhr sich mit dem Taschentuch von einer Schläfe zur andern über die heiße Stirn, warf noch einen schrägen, phlegmatisch tödlichen Blick auf die Dresdener Iphigenie, und setzte sich wirklich in Bewegung, zu seiner Arbeit zurückzukehren.

Es kam aber eine neue Störung. Draußen ward geklopft. Kircher rief mechanisch: »Herein!« Die Tür ging auf, und Nämlichs volle Stimme trompetete: »Nämlich da kommt Hermann der Cherusker!«


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