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VI

Erhart lag auf dem Diwan, der in seinem Atelier unter dem Fenster stand; das Fenster war hoch, so daß er im Schatten lag, was seinen müden und lichtscheuen Augen sehr erwünscht war. Die acht Tage, seit Ifinger ihn verlassen, hatten ihn verändert; er war bleich, seine Züge matt und erregt zugleich, er sah aus, wie wenn ein tüchtiges Fieber mit ihm spiele. Auf einem Stuhl neben dem Diwan hatten rote und gelbe Rosen in einem Kelchglas gestanden: mit einer schlaftrunkenen oder mißvergnügten Bewegung hatte er das Glas umgestoßen, das Wasser war ausgelaufen, den Blumen nach, die zur Erde fielen. Er hob den Kopf ein wenig und sah die Verwüstung; die Rosen hatten sich zum Teil entblättert und über den Boden verstreut, das Wasser tröpfelte nach. Doch er war zu träge, um nach den Blumen zu greifen und das Glas wieder aufzurichten. »Schlafen!« dachte er. – Verwundert und stirnrunzelnd horchte er auf, als er klopfen hörte. »Wen läßt denn da die Aufwärterin zu mir? Hab' ich ihr nicht gesagt –? Ich ruf' nicht herein!«

Dennoch öffnete sich die Tür. »Ah! Sie sind es, Doktor!« sagte er mit einem herzlichen, wenn auch müden Lächeln, da er Ifinger eintreten sah. »Kommen Sie endlich wieder? Geben Sie mir die Hand – und verzeihen Sie, daß ich so unhöflich liegenbleibe; ich bin höllisch faul, Doktor. Nun, ist diese medizinische Wanderung und Kletterung, die Sie sich verordnet hatten, diese Massage im Freien – ist sie so ausgefallen, wie Sie sich's gewünscht haben?«

»Gewandert bin ich genug«, antwortete Ifinger, der seinen Ranzen ablegte; »aber sie haben mich alle sieben Tage getauft, wie wenn ich sieben falsche Religionen hätte. Bloß heute in Reichenhall und während der Bahnfahrt hat es nicht geregnet ... Nun, Sie müssen es ja auch gespürt haben. In Salzburg war's wohl auch nicht trocken!«

»Möglich, Doktor, ich weiß nicht«, sagte Erhart ruhig. »Ich hab' vom Wetter nicht viel gesehn; hab' die ganzen Tage gemalt, und – –«

Ifinger fiel ihm erstaunt in die Rede. »Wieso denn gemalt?« rief er aus. »Sie sprachen eben von höllischer Faulheit; – und die ›schwarze Dame‹ ist ja auch noch auf demselben Fleck!« – Er hatte bereits die Meerlandschaft an der Wand entdeckt, wo sie angelehnt, aber nicht abgekehrt stand; es war offenbar kein neuer Pinselstrich auf das Bild gekommen.

»Die Schwarze hab' ich nicht angerührt«, erwiderte Erhart und warf die Hand aus dem losen Gelenk gegen sie, zum Zeichen seiner Verachtung. »Aber ich hab' gearbeitet wie toll. Wie – im Fieber, Doktor. Vom Morgen bis zum Abend vor der Leinwand. Vor der Leinwand ... Und dann – –«

Weiter sprach er nicht. Er machte die Augen zu.

Ifinger sah ihn unruhig an. In dem bleichen Gesicht fielen ihm nun die geröteten Lippen auf, das ganze Antlitz erschien nicht krank, aber überwacht, verbraucht. Auf den Lippen lag eine sonderbare, trockene Glut, als wären sie etwas versengt. – Nach einem nachdenklichen Schweigen fragte er, scheinbar ganz harmlos: »Was haben Sie denn also gemalt, wenn man fragen darf?«

»Nu – zunächst natürlich das Konterfei; das von diesem Paradiesvogel. Das hab' ich alla prima gemalt, und war bald damit fertig. – Sie sehen sich vergebens um, lieber Doktor; es ist nicht mehr hier.«

»Vermutlich« – sagte Ifinger und blieb abgewandt stehn – »vermutlich haben Sie es dem Paradiesvogel zum Geschenk gemacht.«

»Nun ja; was denn sonst? Verkaufen konnt' ich es nicht: dann hatte der Baron die Vorhand. – Na, und überhaupt –«

»Sehr richtig. Und was haben Sie sonst noch Gutes gemacht?«

Erhart reckte sich. »Gutes?« fragte er gähnend zurück. »Wohl nicht viel Gutes; Spielereien, Doktor. Zum Beispiel das Stückchen Wald mit der Amsel –«

»Die auf einem dürren Zweig gegen die graue Luft sitzt und flötet? Das hab' ich gern, wie Sie wissen –«

»Na, so eine Kleinigkeit, im Nämlichschen Format!«

»Grade groß genug. Ist das fertig?«

»Ja.«

»Kann ich's sehen, Meister?«

Der Meister warf ihm aus den überwachten Augen, schräg hinauf, einen etwas rätselhaften Blick zu, der zugleich wehmütig, verlegen und auch spöttisch zu sein schien. Kopfschüttelnd schlug er dann mit der Hand seitwärts durch die Luft.

»Doch nicht schon an Pillnitz geschickt?« fragte Ifinger.

»Nein.«

»Dann versteh' ich nicht ...«

Ifinger suchte unwillkürlich an der kurzen Wand, wo die »Amsel« gestanden hatte; sie war nicht mehr dort. Neben ihr, wie ein Zwilling, hatte vor acht Tagen ein andres Bildchen an der Wand gelehnt, ein altrömisches Winzerfest, gleichfalls halb vollendet. Auch das war verschwunden. »Und wo ist denn das Winzerfest?« fragte er über die Schulter zurück, von einem plötzlichen Gedanken durchzuckt.

»Auch fertig, Doktor.«

»Aber wo denn –?«

»Nicht hier. – Sie sind aber neugierig. Was gehn diese kleinen Späße Sie an; die sind nicht der Rede wert. Erzählen Sie mir lieber, welche Bergspitzen Sie mit Ihrer Anwesenheit beehrt haben; – oder wenn es Ihnen recht ist, erzählen Sie mir das später und lassen mich jetzt schlafen!«

»Wie Sie wünschen; versteht sich. Wissen Sie aber, was die Uhr ist? Schon sechs. Für einen Nachmittagsschlaf etwas spät –«

»Mir ganz einerlei, Doktor. Es sitzen mir zwei dicke bleierne Kerle auf den Augen. Ich hab' diese ganze Zeit so wenig – –«

Er brach wieder ab. Die Augen schließend, hielt er dem andern eine Hand hin; sie war feucht und kühl, was an diesem gesunden Kraftmenschen fremd und unerhört war. Dann drehte er sich herum, das Gesicht in die Ecke. »Heute abend!« brummte er noch, fast unverständlich, als schlief er schon, »heute abend in den Peterskeller!«

»Sehr wohl; heute abend in den Peterskeller«, wiederholte Hermann Ifinger. »Ich hole Sie dazu ab. Jetzt überlass' ich Sie den beiden bleiernen Kerlen. Schlafen Sie gesund!«

Er nahm seinen Hut wieder, den er auf den Ranzen gelegt hatte, und ging leise hinaus. Nun auf einmal lief ihm ein richtiger Schauder über die Haut; wie wohl zuweilen ein Gefühl, das man im Entstehen, um der Anwesenden willen, unterdrückte, dann im Alleinsein plötzlich wieder hervorbricht. »Das ist ja wie eine Krankheit«, dachte er; »und die nennt sich Lina! Teufel, ist das ernsthaft. Das hatt' ich mir anders gedacht ... Das Mädel richtet ihn zugrunde, scheint mir – wenn man das so gehn läßt. Erlauben Sie, Fräulein Lina – da mische ich mich hinein. So ein goldblonder Vampyr! eine Lamie! – Meinen Franz Erhart! – Er wird sie bald satt haben, dacht' ich; aber sie saugt noch, scheint mir; sie läßt ihn nicht los. Das seh' ich nicht so ruhig mit an. Das hab' ich nicht nötig!«

Er kam vor die Tür hinaus und stand auf der Straße. Die übermäßig feuchte Erde dunstete in der Sonne, die ihm mit ihren warmen Abendstrahlen in den Nacken schien. Unten lag die Stadt; er konnte die Straße sehn – hinter ihr verschwand die Salzach – in der dieser »Vampyr« im Gasthaus zum Mohren wohnte. Denn daß sie da wohne, hatte sie in Hallein gesagt. »Gehe ich gleich zu ihr?« fragte er sich selbst. »Ja; zu wem denn sonst? – Man versucht's. Ich werd's mit mir machen wie der Jäger mit dem Hund: ›such' verloren!‹ Franz Erharts Bilder sind fort; aber der Hund hat die Spur; der schicken wir ihn nach. Hermann Ifinger, such' verloren!«

Er ging den Mönchsberg entlang und zur Stadt hinunter; bald hatte er die Judengasse erreicht und trat in den »Mohren« ein. In dem alten, etwas dunklen Haus stieg er eine Treppe hinauf; man schickte ihn noch eine zweite weiter. Als er an Linas Tür kam, schämte er sich plötzlich: so jugendlich lebhaft schlug ihm das Herz. Ihm! vor so einem »Wurm«! – Er klopfte. »Der Pfau!« dachte er dann; denn ein sonderbar gellendes, fast krähendes »Herein« kam zurück. Ha, sie war zu Hause!

Er öffnete und fand das Mädchen, überraschend genug, in derselben Lage, in der er seinen Freund gefunden hatte: ausgestreckt auf dem Sofa. Hinter ihr, durchs Fenster, leuchtete der Kapuzinerberg mit seinem Kloster in der Abendsonne. Die junge Person sah aber nicht bleich und erschöpft, sondern blühend und nur eigentümlich schmachtend interessant aus. Sie hob den Kopf, sie war offenbar sehr erstaunt, den Doktor bei sich zu sehn, und wußte nicht, was sie daraus machen sollte; dann lächelte sie kindlich eitel. Ihr Kopf sank zurück; sie schien Lust zu haben, wie eine große Dame vornehm liegenzubleiben. Als sie aber die klugen, bebrillten Augen des Doktors so forschend, und wie ihr schien etwas spöttisch, auf sich gerichtet sah, erhob sie sich unwillkürlich. Ihr fiel dabei ein Buch vom Schoß, in dem sie wohl gelesen hatte und das Ifinger an seinem altertümlichen Einband erkannte: es gehörte Erhart.

»Entschuldigen Sie, wenn ich störe, mein Fräulein«, sagte er höflich. »Es geht Ihnen hoffentlich gut. Ich nahm mir die Freiheit, Sie nach meiner Rückkehr aufzusuchen, weil – –«

»Richtig!« dachte er, seine Rede plötzlich unterbrechend. Indem er von der schönen Gestalt hinweg auf die Wände sah, hatte er mit zwei Blicken wahrgenommen, daß er gut »gespürt« hatte. Die etwas verschossene Tapete des sonst eleganten Zimmers (»für den ›Mohren‹ alles Mögliche!« dachte er) war mit Bildern geschmückt, die Ifinger an jedem Ort der Erde sogleich als echte Erharts erkannt hätte; denn in diesen »seinen« Maler hatte er sich hineingesehn, wie in keinen andern. Über dem Sofa hing Linas eigenes Bildnis; gegenüber die »Zwillinge«, der Wald mit der Amsel und das Winzerfest; ein drittes größeres, das er noch nicht kannte, hing zwischen den beiden. Es gab Ifingern einen wirklichen Stich ins Herz, diese edlen Werke – wenn ihr Wert wohl auch ungleich war – in diesem Zimmer zu sehn. Er ward rot, für Erhart. Gleich darauf hörte er ein kurzes, helles, halb kindisches Auflachen, wie in alten Zeiten.

»Warum reden Sie nicht aus, Herr Doktor?« fragte Lina, die ihre Arme übereinander legte. Ihre dreisten Augen leuchteten ihn spöttisch an. »Glücklicher Leo Falk!« dachte Ifinger, dem bei diesem Anblick die Hand zuckte und eine alte Erinnerung wild durch den Kopf fuhr. Es dauerte aber nicht viel länger als ein Wetterschlag. Er behielt seine Haltung und erzwang sogar eine Art von Lächeln.

»Ich sah mir nur Ihren Zimmerschmuck an«, erwiderte er ohne Stocken. »Das ist eine gute Idee: Sie legen sich wie der Baron Pillnitz auch eine Bildergalerie an; und auch gleich vom besten. Man kann seine Vorzüge nicht besser verwerten; ich mach' Ihnen mein Kompliment! Nebenbei ist es praktisch, gibt Ihnen was Besondres – kann Ihnen auf Ihrem Lebensweg nur von Nutzen sein. Wie gesagt, mein Kompliment!«

»Ich weiß nicht, wie Sie das meinen«, gab ihm Lina zur Antwort und machte ihr unschuldigstes Gesicht. »Bitte, sehen Sie sich ... Ich hab' die Bilder von Herrn Erhart angenommen, weil er es durchaus wollte; sie haben keinen besonderen Wert, sagt er. So tun wir uns gegenseitig was zuliebe, sagt er. Na ja, wir sind gut miteinander; das wissen Sie ja eh'. Auf einmal schickt er mir die Bilder her – ohne daß ich's wollte. Na, da hab' ich sie aufgehängt!«

»O du lieber Schneck!« dachte Ifinger. Er blieb aber ruhig und gelassen wie ein Diplomat, setzte sich ihr gegenüber – sie saß auf dem Sofa – und legte sogar einige Augenblicke ein paar Finger auf ihr Gewand; sie schaute ihn verwundert an. »Sehn Sie, Fräulein Laura,« sagte er mit der alten Geläufigkeit der Zunge –, »mit mir kann man gut reden: Vorurteile hab' ich nicht. Ich hab' vielmehr die Gewohnheit, mich in jede Sache, in jeden Menschen so tief als möglich hineinzudenken; ohne jede Ausnahme. So auch in Fräulein Laura, ehemals Lina Schellenberg ... Sie sind ein schönes Frauenzimmer geworden, darüber sind wir einig; ich hab's Ihnen vorhergesagt, erinnern Sie sich noch: sie würden sich noch einmal einen Namen als Magnetberg machen. Nu, das fangen Sie ja schon an! – Da kommen Sie nach Salzburg und treffen hier Franz Erhart ... Er hat Sie zuweilen etwas – schroff behandelt, als Sie noch ein Kind waren; er hat Sie noch geduzt, als ich Sie schon ›Sie‹ nannte; das haben Sie nicht vergessen – und als ein schneidiges Frauenzimmer, ein Mädel von Temperament haben Sie sich jetzt gesagt: Der soll mich kennenlernen! der soll an mich glauben! Ich will ihn zu meinen Füßen sehn – und dann meinetwegen auch in meinen Armen; denn ich will mich rächen, aber katholisch: seine Strafe soll auch sein Vergnügen sein. Und dann soll er mir in Gottes Namen auch ein paar von seinen Bildern an die Wand hängen: das kann ihm nicht schaden!«

»Hab' ich recht oder nicht?« setzte Ifinger nach einer Weile hinzu, da das Mädchen nichts geantwortet, ihn nur mit spitzbübischer Ruhe angelächelt hatte. Sie saß vorgebeugt, die Hände in den Schoß gelegt, schlug leise mit der Zunge an den Gaumen, daß es wie das »Tuck Tuck Tuck« eines kleinen Vogels klang, und schien das Lob, das der kluge Doktor ihr sang, so recht tief zu genießen. – »Nun, sagen Sie doch ein Wort, Sie heiteres Fräulein, Sie. Hab' ich recht oder nicht?«

»Was wollen Sie eigentlich hier?« fragte Lina zurück. »Warum sagen Sie mir eigentlich all die schönen Sachen?«

Ifinger schaute betroffen in das junge Gesicht. Es zuckte ihr leicht, aber wiederholt, um den sinnlich lustigen Mund. Ihre Augen blitzten. Sie erschien ihm wieder als die »weiße Katze« von damals, als Leo sie malte; jeder ihrer zwinkernden Blicke schien zu sagen: du red'st mir lang gut; ich bin auch nicht dumm! – Dann legte sie sich langsam zurück, den Nacken auf die Sofalehne; rieb ihre Schultern mit rechtem Behagen an dem leise knisternden Polster und ließ ihre zusammengedrückten, unter dem Kleid hervorschauenden Füße miteinander spielen, als wollten sie sich küssen. Die Augen schlossen sich halb, wie bei einer Katze. Es fehlte nur noch, daß sie schnurrte; Ifinger saß da, wie wenn er darauf warte.

Bei alledem fing er an, Erhart zu begreifen; es war ein verrückter Reiz, der von dieser jungen Hexe her leuchtete und die Luft durchströmte ...

»Warum ich hier bin?« erwiderte er endlich, seine diplomatische Mission wieder aufnehmend. »Das will ich Ihnen außerordentlich ehrlich sagen, Fräulein Laura: ich hab' eine Bitte an Sie, als ihr alter Freund. Sie wissen hoffentlich noch, daß Sie mich vor drei Jahren ziemlich gern hatten; damals sprachen Sie die denkwürdigen Worte: ›Ich mag keinen leiden als Sie!‹ – Jetzt haben Sie andere lieber; natürlich; aber ich glaube, Sie sind mir doch noch ein klein wenig gut. Darum erlaub' ich mir –«

»Ich möcht' nur wissen, was Sie wollen!« unterbrach sie ihn.

»Das will ich Ihnen sagen: daß Sie meinen Freund Franz Erhart – jetzt in Ruhe lassen. Gerächt haben Sie sich; nicht wahr? Er kann davon reden. Ihre Macht als Eva haben Sie ihm gezeigt; das Fundament zu ihrer Bildergalerie haben Sie gelegt; – wie wär's, wenn Sie jetzt in Reichenhall oder Berchtesgaden, oder auch in Ischl, das zu Ihrem Glück notwendige Unglück anrichteten. Was liegt Ihnen am Erhart; er aber – geht dabei hinter sich, wie die Bayern sagen. Ich hab' ihn sehr lieb. Er wird zuerst Sie oder mich verfluchen – aber dann wird's ihm gut tun. Dies wäre so der rechte Augenblick für eine großmütige Handlung; nehmen Sie's wahr, Fräulein Laura – – Lina Schellenberg. Reisen Sie edel ab!«

Lina Schellenberg lachte; er wußte noch nicht, über was: über seine letzten Worte – oder über ihn? Sie lachte aber noch einmal, und länger, lauter; und nun wußte er's. Sie streckte ihre Arme rechts und links auf der Lehne aus; legte dann beide Hände hinter den Kopf, hörte auf zu lachen und spitzte die Lippen gegen ihn, wie damals in Hallein, wie um ihn zu küssen. »Sie sind ein gar g'spaßiger Herr«, sagte sie, die Augen etwas einkneifend; »›zu nett‹, wie die Berliner sagen – oder ›furchtbar nett‹! – Ich soll Ihnen zu Gefallen meinen Franz verlassen – ja, ja, meinen Franz – jetzt nenn ich ihn meinen Franz; damit mich der Herr Doktor verstehn. Mein Franz wünscht sich's gar nicht; aber meinem Herrn Doktor wär' es angenehm. Bedaure sehr: so weit geht meine alte Liebe zum Herrn Doktor doch nicht. Der Herr Doktor ist recht naiv – oder ›neiv‹, wie die gewöhnlichen Leut' sagen: ich soll nur so abreisen, er bietet mir nicht einmal einen Ersatz für das Opfer an: eine Brieftasche mit so länglichen, bedruckten Zetteln – oder einen andern hübschen jungen Mann – zum Beispiel den Herrn Doktor. Ja, wenn ich dann wenigstens den Herrn Doktor hätte –«

Sie stand plötzlich auf, da Ifinger sich erhoben hatte, und lachte ihm noch einmal herzlich ins Gesicht.

Eine Weile ließ er es stumm über sich ergehn; er war erschrocken, ja fast entsetzt über ihre Rede, ihr Benehmen, über diesen verdorbenen, »lasterhaften« Ausdruck in einem so jungen Gesicht. Auch mochte er nicht mehr sprechen ... Er bewegte den Hut gegen sie, als nehme er so Abschied. Zuletzt brachte er die Lippen doch noch auseinander und sagte: »Ich bedaure – ich schäme mich, daß ich Sie noch für einen Menschen angesehen habe – oder für so was dergleichen. Ich werde also auf andre Weise – – Leben Sie recht wohl!«

Er ging nach der Tür. Das Mädchen lief ihm nach; er hörte einen sonderbaren, zischenden Laut aus ihrer Kehle, dann wieder eine Art von Lachen. »Hu! Sei'n Sie doch nicht so hoppatatschig!« sagte sie mit ihrer tiefsten Stimme, aber ohne Zorn. Sie faßte ihn dreist, nicht unsanft, an den Armen und drehte ihn langsam herum. »Was machen Sie für ein Gesicht – als wollten Sie mich fressen. Laufen Sie doch nicht so hochdramatisch weg; schauen Sie mich noch ein bissel an, aber ordentlich: ich bin ja keine Vogelscheuch' – – und ich mein's Ihnen gut. Wahrhaftig. Sagen Sie zum Beispiel: Ich geh' mit nach Ischl – dann kann man ja davon reden ...«

Es lief wieder eine spitzbübische Heiterkeit über ihr Gesicht. Sie griff nach seiner Uhrkette, als wollte sie sehn, was die Uhr sei; dabei legte sie ihm ihre warme, eigentümlich duftende Hand auf die Brust, auf das Herz und lächelte ihn an. Die junge Gestalt kam ihm nahe, ein wunderlicher Hauch ihres Lebens ging zu ihm hinüber und streifte sein Antlitz. Angezogen und angewidert, blickte er starr und stumm auf ihre Hand, bis diese unwillkürlich zurückwich. Dann stieß er in seinem wieder gekräftigten Abscheu einen Laut aus, der eine ganze Rede ersetzte, machte eine kurze Bewegung mit dem Halse und ging mit ein paar raschen Schritten aus der Tür.


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