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Seit diesem Tage ertappte sich Ifinger über einem wachsenden, »unreifen« Verlangen (er selber nannte es unreif), sich zu vergewissern, ob Christel zu Erhart hinaufgehe, und wenn es geschah, darauf achtzugeben, wie lange sie im Oberhaus bleibe. Es war tatsächlich anders; sie ging, sie ging nicht; sie kam sogleich, sie kam später wieder. Ihre äußere Unbefangenheit änderte sich nicht ... Bei alledem wuchs sein Mißgefühl; zuweilen stand er da, als wär' er in tiefen Gedanken, und dachte doch weiter nichts, als: soll ich etwas tun? soll ich einmal mit ihm darüber reden – oder mit ihr? – Er blieb lange unschlüssig; endlich entschied er sich, Christel anzusprechen, wenn sie das nächste Mal aus dem Atelier komme. Es war mittlerweile November geworden; das Wetter behielt aber noch etwas herbstlich Mildes, nur gingen zuweilen schwergefüllte Regenwolken nieder. Ifinger stand in seinem höheren, aufgemauerten Gärtchen, er hatte das Mädchen zu Erhart hinaufgehen sehn. Sie kam bald zurück. Auf der vom Regen aufgeweichten, hie und da schlammigen Erde ging sie vorsichtig und hob ihr Gewand ein wenig; die einfache Gebärde stand ihr merkwürdig gut, noch nie war ihm ihre schlichte, krafterfüllte Anmut so ins Auge gefallen. Er trat ihr entgegen.
»Diesmal waren Sie nicht lange oben, Christel«, sagte er so harmlos, als käme ihm das eben zufällig auf die Lippen; und doch hatte er diesen Anfang wohl schon zwanzigmal erwogen und gedacht.
»Nein«, antwortete sie unschuldig; »Herr Erhart zeigt mir oft dies oder das, heute war es nichts. Er war so sehr in Gedanken ... Er hat mir gesagt, daß – –«
Sie sah Ifinger an und stockte.
»Was hat er Ihnen gesagt? – – Wie komisch: nun schweigen Sie. – – Können Sie mir's denn nicht wiedersagen, Christel?«
»O doch«, erwiderte sie weich. »Er sprach von Herrn – Leo Falk. Der ist nun schon seit mehreren Wochen mit – mit der Frau wieder in Wien; aber, wie Herr Erhart hört, noch immer nicht gesund. Werde gar nicht besser. Er hab' ihn besuchen wollen, sei aber nicht angenommen worden – ebenso wie früher. O Herr Doktor, Herr Doktor – –«
Sie verstummte wieder. Ihre beiden Hände legten sich ihr auf die Brust, gegen die sie drückten; die Augen gingen unruhig nach rechts und nach links, zur Erde. Dann schüttelte sie den Kopf, sah aber noch nicht auf. »Davon weiß ich auch was«, hauchte sie. »Was gibt's alles in der Welt!«
»Was wissen Sie denn?« fragte Hermann. Immer noch, wenn er von Falk hörte, zog sich ihm das Herz zusammen.
»Ach, Herr Doktor, fragen Sie lieber nicht. Für mich ist es so – – es kommt mir auch nicht zu. Ändern kann man ja auch nichts ... Sie erlauben: ich wollte nach den Kindern sehn: sie spielen mit der Köchin.«
»Christel!« rief er sie jetzt an, daß sie stehen blieb. Etwas andres, das ihm schon lange im Sinn lag, drängte sich unvermutet heraus, und darum etwas ungeschickt. »Noch ein Wort, Christel ... Das muß nun aufhören, daß Sie Stubenmädeldienste tun. Ein für allemal! Ich will's nicht mehr!«
Sie sah ihm betroffen nach den Augen. Mit etwas künstlicher Ruhe erwiderte sie dann: »Aber Herr Doktor, was tu' ich denn noch? Wir sind ja schon längst unsrer drei: außer mir die Köchin und das kleine Laufmädchen –«
»Das kleine Laufmädchen«, unterbrach er sie, »wird ein großes stehendes Mädchen. Das hab' ich schon mit Doktor Ifinger abgemacht. Streiten wir da nicht weiter!«
»Christel!« hörte er in diesem Augenblick die Veit aus dem Hause rufen. Die kleine Alte war auf seinen »Befehl« geblieben, hatte sich in die unheimliche Veränderung doch hineingelebt. Sie kam jetzt gelaufen, in Hut und Tuch, denn sie kam aus Wien zurück. »Christel«, rief sie wieder, fast atemlos; dann sah sie den Doktor. »Euer Gnaden verzeihen schon«, fuhr sie etwas gedämpfter fort, aber sehr aufgeregt; »Ihnen gilt's ja auch. Nämlich – – nämlich die Lina!«
»Was ist mit der Lina?« fragte Hermann.
»Kommen tut sie! ins Haus! – Ich bin vor ihr her ...«
Sie seufzte eine Weile nach Luft.
»Im selben Zug ist sie gefahren, aber erster Klasse; als wir ausgestiegen sind, hat's mich angesprochen. Sie will zum Herrn Doktor, und will zur Kusine. Und sie tut so majestätisch, das Herzkäferl das ... Gleich, gleich wird's da sein. Aber vorher muß ich dir sagen, Christel, was mir die Lisi wieder erzählt hat, die Goldperl; das ist schauderös ... Darum bin ich auch so gerannt ... Euer Gnaden, nicht für ungut aufnehmen: es pressiert halt – und es ist meine Schuldigkeit!«
Damit zog sie die Christel fort, in das Haus hinein. Eine Weile hörte Ifinger noch ihr geflügeltes, aufgeregtes Flüstern; dann fiel eine Tür zu und schnitt es ab.
»Lina? Was will die Lina hier?« dachte er und begriff es nicht. Endlich ging er auch ins Haus. Er stieg die Treppe hinab, in das untere Geschoß. Als er ins Terrassenzimmer kam, sah er wirklich Lina drinnen neben der Glastür stehn; ihr zur Seite stand Christel, die Veit war verschwunden. Lina war schon winterlich und dunkelgekleidet, aber im höchsten »Schick«, soweit Ifinger es verstand. Die jugendfrische Gestalt schien etwas voller, träger, behaglicher, also in der Tat schon etwas frauenhaft. Auch in ihrem Benehmen war eine ungewohnte Würde, als sie auf Ifinger zuging, um ihn zu begrüßen. Sie hatte den rechten Handschuh bereits abgezogen und streckte ihm die blütenweiße, duftende Hand mit den zugespitzten rosigen Nägeln entgegen, wie einem alten Freund. » Bon jour! bon jour!« sagte sie; »oder lieber: grüß Sie Gott! – Ja, Sie wundern sich. Die da, die Christel, auch. Ich hab' nicht anders gekonnt. Ich mußte die Verwandtschaft begrüßen – denn dumm und stolz bin ich ja doch nicht – und meinen guten alten Bekannten, meinen besten Freund aus der Münchener Zeit mußt' ich einmal wiedersehn!«
»Meinen besten Freund«, dachte Ifinger. »Dieses Geschöpf spricht wie die Baronin!« – – Er hatte ihre Hand nur flüchtig berührt; kühl und trocken sagte er jetzt: »Gnädige Frau, ich hatte nicht gedacht –«
»Ja, ich weiß schon, ich weiß schon«, fiel sie ihm ins Wort. »Ach du lieber Gott, Sie sagen ›gnädige Frau‹ zu mir! – Ja, ich weiß, Sie und mein guter Mann gehn nicht mehr zusammen; es sind Dinge dazwischengekommen – sehr traurig – ich hab' darüber geweint: – wahrhaftig, ja, das hab' ich getan. Was soll man nun machen? Soll das immer so weitergehn? – Ich hab' mir den Kopf zerbrochen, für meinen guten Mann, dem es gar so leid tut; und hab' mir endlich gedacht: mit mir ist er ja doch nicht bös, mein lieber, herziger Doktor; ich tat ihm ja nichts. Wenn ich zu ihm geh' – aus alter Liebe und Freundschaft – was kann er mir denn tun? Höchstens aus der Tür werfen (sie lachte); aber das tut er nicht. Der ist viel zu fein und zu gut. Er wird mir einen Stuhl anbieten – – bis jetzt, mein guter Herr Doktor, haben Sie's nicht getan – – und dann wird ein Wort das andre geben, wie das immer ist; und zu guter Letzt bring' ich meinem Leo noch zu Weihnachten das schönste Christkindl, das er sich wünschen kann: seinen alten Freund, und Frieden und Versöhnung!«
»Sie müssen nur entschuldigen«, erwiderte Ifinger, dem ein entschiedener Widerwille durch die Glieder ging: denn während sie so weich und »gut« zu ihm sprach, machte sie ihm ähnliche Augen wie damals im »Mohren« zu Salzburg, als sie ihm zu verstehen gab, mit ihm als Ersatzmann würde sie wohl nicht ungern nach Ischl gehn ... »Ich hätte Ihnen längst einen Stuhl angeboten, gnädige Frau, – aber ich muß fort. ›Meine Zeit ist um‹, wie man zu sagen pflegt. Was das andre betrifft – die ›dazwischengekommenen Dinge‹ –, so eignet sich das nicht gut zur Konversation. Überlassen Sie das, bitte, mir – oder der Zeit – oder wem Sie wollen; nur nicht der Frau Falk. – Sie entschuldigen. Ich muß gehn!«
Er machte ihr eine Verbeugung – sie erwiderte sie nicht, so sehr war sie doch verblüfft – und trat rasch zurück.
Draußen auf dem Gang, der zwischen den Zimmern hinlief, stand er eine Weile still und horchte. »Was tut sie nun?« dachte er. »Geht sie oder bleibt sie?« – Sie schien noch zu sprechen; Christel schien zu antworten. In aufwallender Ungeduld trat er rechts in das Kinderzimmer ein, um nach den Kleinen zu sehn. Sie waren aber nicht da. Er hörte sie auch nicht. Vielleicht waren sie mit Sali, der Köchin, im Garten ... Er ging in das vordere Zimmer, das Eckzimmer; aus einem von dessen Fenstern konnte er den Garten fast ganz übersehn. So war er aber dem Terrassenzimmer wieder nah gekommen. Er hörte Linas schrille und gereizte Stimme; dann die klangvolle der Christel, so erregt, so laut, daß er jedes Wort verstehen mußte, wenn er auch anfangs nicht wollte.
»Kurz, was willst du eigentlich hier?« fragte Christel, den »Pfau« unterbrechend. »Sag's heraus, was du willst? Meinen Doktor auch vor deinen sogenannten Triumphwagen spannen? als noch einen mehr, weil du halt viele brauchst? – Dafür ist der zu gut. Ich kenn' dich wie meine Hand. Ich weiß auch, wie es da steht in deinem neuen Haus. Dein ›guter Mann‹, wie du ihn nennst, wird so nach und nach von all seinen Freunden getrennt, alle hinausgeärgert oder hinausgedrückt, damit du ihn allein hast, damit keiner zusehn und davon reden kann, wie du mit ihm umgehst, was du mit ihm machst! Ich will nicht sagen, daß du ihn vergiftest, das ist heutzutage ja wohl nicht mehr Mode; aber du saugst ihn aus, du Vampir! Du läßt ihn nicht wieder gesund werden, du wirst ihn noch verrückt machen – oder wie es ausgeht. Ja, du, die du da lachst. Du, Lina Schellenberg! Du!«
»Woher weißt du das alles?« fragte Linas spottende, hinaufschlagende Stimme.
»Woher ich das weiß? Das werd' ich dir wohl nicht sagen; ist wohl auch nicht nötig. Du bist ein Greuel, ein böser Mensch. Komm nicht wieder in dieses Haus!«
»Bist du Herrn Ifingers Frau, daß du so reden kannst? oder – seine Liebste?«
»Nicht das eine und nicht das andre«, sagte Christel ruhig, verachtend; aber doch noch laut. »Ich will dir aber sagen, was ich bin: auch eine Schellenberg – wenn auch nicht mit deinem verlotterten Blut. Ich hab' auch meinen Kopf, mein Rückgrat, meinen festen Willen; und wo ich meine Pflicht vor mir sehe, geh' ich durch die Wand. Kurz, mein letztes Wort: ich leid's nicht, daß du auch meinen Herrn Doktor belügst und betrügst – bis er etwa tut, was du willst. Bitte, sieh dich um. Da hinter dir ist die Tür!«
Es war einige Augenblicke, nach diesem lauten Gespräch, völlige, tiefe Stille. Ein jähes Lachen erschütterte dann die Luft; schrill und fast erschreckend. Es sollte offenbar verhöhnend und möglichst »diabolisch« sein; in seinem Zittern lag aber doch etwas Schwächliches, Verdrücktes, Ausgeglittenes. Danach kam nichts mehr. Ifinger hörte Schritte, die sich rasch entfernten. Dann fiel knallend eine Tür ins Schloß.
Er horchte noch; aber nicht mehr lange. Ein unüberwindliches Verlangen zog ihn, zu Christel ins andre Zimmer zu gehn. Er öffnete und trat ein. Sie stand mitten im Zimmer, die Arme auf der Brust verschränkt, mit einem fast wilden, wunderbar entschlossenen Ausdruck; nur ein leiser Anflug von Lächeln, von Siegeslächeln spielte um ihre Lippen. Jetzt hörte sie ihn und sah ihn an. Ihre Arme sanken herab. Auf seinem Gesicht lag so viel, daß sie die Augen groß auf ihn heftete, mit einem Blick, der zu sagen schien: »Haben Sie gehorcht?«
»Ja, ich hab' gehorcht«, sagte Hermann, als antworte er auf ihren Blick. »Absicht war's nicht. Es kam so. Ich hab' alles gehört – – Christel!«
Bei diesem warmen »Christel« sank ihre eben noch so stolze Gestalt ganz in sich zusammen; blutrot und verlegen stand sie da wie ein Kind. »Entschuldigen Sie«, flüsterte sie; denn mehr als Flüstern war's kaum. »Ich hab' nicht gewußt, daß Sie –«
»Was wär' da zu entschuldigen«, unterbrach er sie, nun doch auch befangen. Er suchte zu lächeln: »Sie haben geredet wie –«
Christel fiel ihm aber schon ins Wort. Sie hob zuerst eine Hand, wie abwehrend; dann sagte sie mit einem etwas sinnlosen Achselzucken: »Es war ja meine Kusine; darum dachte ich – – Die Tante Veit hatte mir's gesagt. Sie weiß es von dem Lieschen Goldperl ...«
Nach dem Garten deutend, setzte sie rasch hinzu: »Die Kinder sind draußen, Herr Doktor. Ich lös' die Sali nun ab. Sie entschuldigen!«
Mit einigen hastigen Bewegungen war sie aus der Tür. Ifinger sah noch: sogar ihr Nacken war etwas gerötet.