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Die Sonne stieg noch, aber sie stand schon hoch (für den April gesprochen), als Ifinger am nächsten Morgen auf dem Bahnhof Klosterneuburg-Weidling ausstieg, um zu Fuß zu Erhart zu gehn. Es waren ungefähr zehn Minuten Weges; er brauchte die doppelte Zeit. So vieles kam zusammen, um ihn aufzuhalten: die Schönheit der Gegend, die ihn überraschte, eine weiche, süße Schwäche der entwöhnten Glieder, der Frühling, der ihm träumerisch auf der Seele lag, und die Erinnerung an so viel Erlebtes ... Es war die rechte Unruhe des Lenzes in der Luft, das junge, schimmernde Laub zitterte, vom fahrenden Wind geschüttelt, mächtige Wolkenschatten wandelten von den Hügeln herab und überbrückten den breiten Strom, der seine Wellen feierlich gegen Süden wälzte. Er zog auf das Häusermeer der Hauptstadt zu, von dem war aber nichts zu sehn: der waldige Leopoldsberg, von Kirche und Burgresten gekrönt, wie eine mächtige Bastion der grünen Bergfestung »Wiener Wald« in das Flußtal vorspringend, verdeckte die Riesenstadt. Wo die Donau herkam, stieg ein gewaltiger Schloßbau auf, das Chorherrenstift zu Klosterneuburg, mit den wunderbar geschmückten Kuppeln: auf der rechten die deutsche Kaiserkrone, auf der linken der Erzherzogshut, beide riesenhaft aus Eisen geschmiedet und in der Sonne glänzend. Zu ihren Füßen flimmerte das windbewegte übersilberte Grün der »Auen«, junge und alte Wälder von Silberpappeln, die sich an den Fluß drängten und vom Kuckucksruf, von Vogelsang erschallten; während die Hügel bescheiden rechts und links zurücktraten, um dem flutenden Gewässer freien Raum zu lassen. All diese heiteren Weinberge, eben angegrünt, von ausgestreuten Häusern und Häuschen gefärbt; in der Breite des Tales aber die ernsten Wälder, die bleichen Kiesbänke, der majestätische Strom, bald von grauem Schatten bedeckt, bald sonnig blau wie der lichte Himmel ...
Ifingers Seele ward weit. Die Wehmut der Sehnsucht, der Entsagung, der Leiden verklärte sich; auch das dumpfe, trübe Mitleid mit Milli schien sich zu lichten, zu lösen. Er dachte an Donna Clara, aber ruhiger: ihm kam das Gefühl, als sei von seiner Liebe zu ihr ein Teil ausgewandert und habe sich an Waldsee gehängt; als dürfe er schon – wenn auch scheu, behutsam – von »liebevoller Freundschaft« reden ... Er konnte sich wenigstens der Natur wieder hingeben, wie in alten Zeiten; er berauschte sich wie ein Kind. Sein Auge ging der Donau nach, die »alten Nibelungenhelden« in Erharts Brief fielen ihm ein, auch er sah sie hinter den hohen Silberpappeln hervorkommen und langsam, mit dem Strom, ohne Ruderschlag, auf dem Fluß dahinfahren, zum unsichtbaren Wien hinab. Die Geister der »hohen Ahnen« schwebten auf dem Wasser. Feierliche, alte Verse tauchten in ihm auf; er war drauf und dran, selber neue zu dichten ...
Doch nun sah er schon das Haus, in dem Erhart wohnte; unter der langgestreckten, gelblichen Pionierkaserne, die auf dem Bergrücken der Oberstadt lag, glänzte ein kleines Häuschen, ohne Oberstock, aber mit einem verzierten Aufbau, aus jungen Bäumen hervor. Es lag auch noch hoch, die Gegend überblickend. Man stieg neben einem Garten hinauf, in dem ein größeres Landhaus sich unter jenes kleinere schmiegte, an den Fels gebaut. Zu beiden Seiten hoben sich andre Gärten in Terrassen. Ifinger fand den etwas steilen, teilweise getreppten Fußweg, der nach oben führte; über die Bretterzäune rechts und links hingen Ranken und Gebüsch herein, die der Wind bewegte. Unsichtbare Vögel zwitscherten überall, oder pfiffen ihr kurzes Lied. Er staunte aber, wie bald seine Knie nicht mehr steigen mochten; als verstünden sie es nicht mehr. Ihm ward heiß und schwül, trotz der frischen Luft; auf dem kurzen Weg blieb er mehrmals stehn, wie ein kranker Mann. Endlich kam er an die Brettertür des kleinen Gartens, der hinter dem Häuschen unter dem steilen Abhang der Kasernenhöhe hinlief. Eben da er eintrat, hörte er einen kraftvollen Baß seinen Namen rufen, und erblickte Erhart oben auf der kleinen Treppe, die außen am Haus, über der Tür, in den Aufbau führte.
»Ifinger! Wo kommst du her? Bist du endlich da?« rief der Maler, der in einer dunklen Joppe, ein rotes Fes auf dem Kopf, sich über die hölzerne Brüstung lehnte. »Mensch! wo kommst du her?«
»Aus dem Wiener Krankenhaus«, antwortete Ifinger und kam auf den Gartenweg.
»Aus dem Krankenhaus? Was hattest du da zu tun?«
»Was sie da alle tun. So 'ne Geschichte interessiert ja doch einen Maler nicht. Guten Morgen, Erhart!«
»Guten Morgen, Hermann! – Bist du denn des Teufels? Warum hast du mich die ganze Zeit nicht wissen lassen, daß du im Krankenhaus bist?«
Ifinger ward rot. Wie sollte er das sagen; konnte er doch nicht verraten, was ihn eigentlich nach Wien geführt, was er endlich gestern im Opernhaus abgehandelt hatte ... »Ich wollte dich nicht stören,« stieß er heraus, ohne hinaufzusehn; »was solltest du im Spital. Ein Maler, ein Schönheitsmensch. Frag' doch nicht so langweilig; komm doch einmal herunter!«
»Schafskopf, komm herauf! – – Er wollte mich nicht stören! – Ich will dir nicht schmeicheln, Hermann, aber du bist und bleibst doch noch verrückter als ich!«
Im nächsten Augenblick war Erhart aber unten, packte Ifinger mit seiner durch nichts angekränkelten Kraft und schloß ihn in die Arme. Einige liebkosende Beleidigungen folgten noch; dann schleppte er ihn ins Haus. Sie kamen durch ein kleines, halbdunkles Vorzimmer, an einer kleinen Küche vorbei, in einen hellen, heiteren Raum, den Kunstwerke aller Art, Büsten, Bilder, Kupferstiche, bemalte Gefäße, Uhren, so in alle Winkel hinein belebten, daß man sich ein wenig wie im Museum fühlte. Durch die große Glastür, die auf eine breite Altane hinausging, sah man über die Donauauen hinweg, auf einen langgestreckten, malerisch felsigen Berg, den die Mittagssonne nun mit großen Lichtern und kleinen Schatten bedeckte.
»Das ist mein ›Bisamberg‹«, sagte Erhart, den Arm noch auf Ifingers Schulter; »der wenigst fade Berg im ganzen Wiener Land. Den hab' ich auch stückweis schon gemalt ... Da auf dem Tisch liegen deine Briefe, du Nicht-stören-Woller; liegen schon wochenlang. Bist doch wirklich meschugge, Alter ... Warst du denn sehr defekt? Ich war auch einmal vierzehn Tag' malade; hatte die berühmte Ischias. Ist aber schon lange her. Sonst bin ich rasend gesund! – Dein Kolorit ist noch immer – oder wieder – zu interessant; ich kann dich für meinen Petrarca brauchen, den ich für einen Russen auf Bestellung male; dein Gesicht ist grünlich und verklärt und unpraktisch, wie es für Petrarca paßt. Jedenfalls mußt du jetzt vor allem in mein Atelier ... Wo ist dein Koffer? In Wien, natürlich. Edel, aber unpraktisch. Den müssen wir also holen oder holen lassen ... Also ins Atelier!«
Erhart führte ihn wieder hinaus, die kleine Treppe hinauf. Eine Aufwärterin stand oben im Vorraum (der mehr eine Art Verschlag war), jünger und frischer als die Salzburgerin auf dem Mönchsberg; sie grüßte bescheiden und stieg in den Garten hinab. Das Atelier tat sich auf, ein weder sehr großes, noch sehr hohes Zimmer, aber durch mehrere Fenster mit beweglichen, verstellbaren, in jeder Weise einzubiegenden Läden sonderbar beleuchtet; der Tag ließ sich einfangen und leiten, wie man wollte. Einige auffallend schöne alte Skizzen, wahre Stimmgabeln der Farbenmusik, hingen an den Wänden. Die bekannte Hausorgel fehlte nicht. »Da ist wieder der Bisamberg,« sagte Erhart, einen der Läden zurückschiebend und ans offene Fenster tretend; »und da links das Stift, und da rechts der Leopoldsberg. Zwischen diesen drei ›Wahrzeichen‹ haus' ich in der Mitte und male meine Schwarten; – Gott sei Dank, jetzt als ein freier Mann! Von deinem Baron bin ich los!«
»Ich weiß. – Übrigens, was ›meinen‹ Baron betrifft –«
»Ich will ihn nicht verdammen; sei ruhig. Er ist ein Werkzeug der Vorsehung, er war manchem nützlich; mich hat er in dieser dummen Welt etwas bekannter gemacht, va bene; – jetzt brauche ich ihn nicht mehr – das ist Manna, Bruder! Hab' mir Freiheit ermalt ... Ich sag' dir, der furchtbare Augenblick naht, wo ich Mode werde; – nein, Mode doch nie: dazu bin ich ein zu wenig allgemeines, ein zu persönlich eckiges Geschöpf. Aber die Enthusiasten und die ›Kenner‹, die laufen mir bereits nach; zum Beispiel dieser Russe, dem ich diesen Petrarca male ...«
Er führte seinen »Doktor« vor ein mäßig großes Bild, das auf einer Staffelei stand; eine Landschaft von südlichem Charakter, in der ein mittelalterlicher Italiener vor dem Wald im Gras lag und in einem Buch las. Das Bild war etwa halb fertig, das Gesicht des einsamen Dichters nur erst angelegt. »Komm her, Alter!« fing der Maler wieder an, Ifinger mit dem Arm an sich herandrückend. »Könntest gleich für die Kunst etwas tun, mit dem edlen Spitalsgesicht; – oder hast du Hunger? Willst du erst was essen?«
»O nein, das noch nicht. Aber – – soll ich denn auch so liegen wie der?«
»Nein, das ist nicht nötig. Du kannst aufrecht sitzen. – Nur die Brille muß fort.«
»Was willst du mit diesem deutschen Gelehrtengesicht, für den ›göttlichen Petrarca‹?«
»Sei ruhig, der ›göttliche Petrarca‹ war kein schöner Mann; hat ja auch die Laura nur so angesungen; ihre Kinder waren nicht von ihm. Wirst aber edel aussehn in dieser Kopfbedeckung; ich mal' ihn so, wie Castagno den Boccaccio gemalt hat. Also setz' dich – hier – und während ich dich unsterblich mache, sag' mir, wie dir's eigentlich geht!«
»Jetzt werd' ich gleich wieder lügen«, dachte Ifinger mißmutig, im voraus zerknirscht. »Das ist das Gemeinste am Leben, daß es so oft dazu zwingt!« – Er setzte sich, und auf die abgenommene Brille blickend, sagte er: »Wie soll mir's gehn? Gut. (Richtig, da lüg' ich schon!) Bis auf einige Nachwehen gut. – Ich bin ganz zufrieden. (Schon wieder!) Was ist übrigens mit – – Was weißt du von Lina Schellenberg?«
»Von der?« fragte Erhart zurück, der schon zur Palette griff. »Nur das Allerbeste. Sie erfüllt ihren Naturzweck; ein rüstiges Frauenzimmer. Ich höre, sie hat allerlei gute Freunde, der ›beste‹ soll aber noch immer der Baron Ansbach sein – dieser dicke Köder, mit dem du sie damals nach Ischl locktest. – Warum fragst du nach ihr?«
»Ich – war gestern eine halbe Stunde im Theater, nach dem Auszug aus dem Krankenhaus, da hab' ich sie tanzen sehn. Auch – – auch den Leo Falk sah ich, in einer Loge. Es scheint, der ist gut mit ihr!«
Erhart warf einen prüfenden, raschen Blick auf Hermann. Er begann zu malen. Nach einigen Pinselstrichen antwortete er: »Da du selber von ihm sprichst, Bruder – er ist ihr gewogen; man sagt, sogar verliebt. Sie ist aber seltsam mit ihm: sie läßt ihn weder in ihre Wohnung noch in ihre Nähe. Die reine Vestalin, sagt man. So hab' ich gehört; ihn selber seh' ich fast nie. Ob sie sich dadurch noch rächen will – für die berühmte Ohrfeige, wenn du dich erinnerst – das weiß ich nicht. Geht mich eigentlich auch nichts an ...«
»Kerl!« rief Erhart auf einmal aus, sprang auf und stellte sich mit Pinseln und Palette vor Ifinger hin. »Was reden wir von solchen ›Vestalinnen‹ ... Du siehst gar nicht gut aus. Es geht mir so was im Kopf herum. Ich will dir einen Vorschlag machen. Kerl, hör mal zu!«
»Ich sitz' hier und höre zu; mehr kann der Mensch nicht tun. Also was gibt's?«
»Da unten gibt's ein Haus; das liegt grade unter diesem, und ist doppelt so groß. Halb ist's unbewohnt, die andre Hälfte wird zum Maitermin, also in einigen Tagen frei. Der Kasten ist nicht übel. Du siehst, hier ist Landluft; angenehme Wärme; immer ein frisches Lüftchen, das über dem Donaubecken hinstreicht. Die große Stadt hast du vor der Tür. Du siehst nicht gut aus, sag' ich dir noch einmal. Geh nicht wieder nach Bieranien, Hermann Ifinger; bleib hier, miet' dir das Haus! Was willst du in München?«
Ifinger starrte den Maler fast erschrocken an. »Ja, was will ich wieder in München?« dachte er dann, auf seine Knie blickend. »Zu Donna Clara zurück?« – Bis gestern abend hatte er die Gedanken immer nur auf sein Ziel geheftet: ihr zu helfen und den Grafen zu ihr zurückzuführen; jetzt schien das erreicht ... Sollte er nun sein Martyrium wieder auf sich nehmen? als ›Freund‹ neben ihr leben, sich in täglicher Entsagung verzehren?
»Oder – fesselt dich was in München?« fragte Erhart weiter. »Du sahst mich eben so sonderbar an –«
»O nein!« sagte Ifinger rasch. »Fesseln? Ganz und gar nicht. – Karl Nämlich fesselt mich nicht!«
»Gut: wenn Karl Nämlich dich nicht fesselt, dann komm zu Franz Erhart! Niste dich hier an! Wir könnten einmal famos miteinander leben; jeder in seinem Kasten; – aus den Fenstern könnten wir uns anrufen, beschimpfen, so viel uns beliebt. Mittags oder abends äßen wir zusammen ... In Anbetracht der Kürze des Lebens, Bruder, sollten wir das tun!«
Ifinger nickte nachdenklich. Es lockte ihn sehr ... Er rieb sich die Knie, hob und senkte die Brauen; es war seine Art, sich zu einem Entschluß langsam hinzudenken. Schöne Einsamkeit vor der großen Stadt, mit dem liebsten Freund ... Als er endlich reden wollte, fiel ihm Erhart ins Wort.
»Nein, nein, hetz' dich nicht; es ist ja keine Steeplechase. Du mußt ja nicht gleich über den Graben springen; kannst dir's noch bedenken. Wir malen dich jetzt 'ne Weile, wenn dir's nämlich recht ist; dann faulenzen wir im Garten, um drei geht's zum Essen. Da trinkst du einen guten Wein – hier gebaut, aber chorherrenhaft gut – und erleuchtest deinen Schädel. Kommt es dann zum Jawort, so gehn wir hinunter und ich miete dir das Haus, denn bekanntlich bist du edler, ich bin praktischer. Willst du nicht, dann – – Na, an alles Gräßliche und Scheußliche muß man nicht gleich denken. Jetzt mach' wieder dein Petrarcagesicht und träume, wovon du willst, während ich dich abmale:
Der edle Denker denket still,
Der Maler malt ihn, wie er will!« – –
Ifinger lächelte und saß mit philosophischer Geduld, und der Tag verstrich, wie Erhart es angekündigt hatte. Um drei ging's zur Tafel, sie speisten in einem altdeutsch eingerichteten, malerisch-dämmerigen Zimmer unten neben dem Hauptgemach, die leidenschaftlich aufmerksame und ebenso leidenschaftlich ungeschickte »Nanni« bediente. Der Wein war wirklich gut, und sie saßen lange, in heiteren, lustigen Gesprächen; – endlich fühlte Hermann, daß er seinen Kräften schon wieder mehr als genug zugemutet hatte. Er bat sich »irgend etwas Horizontales« aus, um sich auszustrecken und vielleicht einen Schlaf zu tun. Danach werde er dann zur Entscheidung kommen. Erhart nahm seinen Arm und führte ihn ins nächste Gemach; es war für Gäste bestimmt – auf der nämlichen Südseite wie das Speisezimmer – und hatte ein Bett und auch einen Diwan. Wie ein älterer Bruder einen jüngeren, streckte der »Maler« den »Denker« auf dem Diwan aus, legte eine Decke auf ihn und verließ das Zimmer.
Ifinger war müde und matt und schloß gleich die Augen. »Donna Clara verlassen?« dachte er, nun mit sich allein. »Ach, auch das ist schwer ... Aber nichts als sein Freund? immer der ›liebe Freund‹? – – Ich will's abwarten, abwarten,« murmelte er endlich: »würden die beiden doch nicht einig, dann hat sie wieder niemand als mich, dann muß ich zurück. Kommt aber gute Botschaft von ihm, dann ist sie ja glücklich; dann schreib ich an Christel: kommt her!«
Er meinte noch einmal Claras ernstes, liebliches Gesicht zu sehn, seufzte und schlief ein. Als er wieder erwachte, war ihm, als sähe er es wieder, noch aus einem eben vergehenden Traum; er erstaunte aber sehr: es war Nacht geworden. Offenbar hatte er ein paar Stunden geschlafen; denn die Tage waren doch nicht mehr kurz. In den Winkeln des Zimmers lagen tiefe Schatten, von den Fenstern, deren eines offen stand, kam eine dämmernde, silbern bläuliche Helle, die einen geisterhaften Schein in das Zimmer warf. Der Mond war daran schuld, der als breite Sichel, noch nicht halbgefüllt, über dem Donautal stand. Kühle Luft wehte herein und ging fröstelnd über Ifinger hin, dem bei diesem halb gespenstigen Erwachen die hinweggescherzte Schwermut, die verzagten und beklemmenden Gefühle alle wiederkehrten. Wie sich einem Kränkelnden nach einem schönen, erwärmten Tag die sinkende Abendluft wie ein naßkühler Mantel auf die Schultern legt, so lag ihm jetzt die bleiche Nacht nach dem goldnen Tag schaudernd auf der Seele, die noch so leicht zu erschüttern war. Er fühlte wieder seine innere Einsamkeit, sein »verpfuschtes Dasein«. Eine kalte Hand (doch war's wohl nur die wehende Luft) schien sich nach ihm auszustrecken, ihn mit rätselhafter Grausamkeit an sich zu ziehn und hinwegzustoßen. So floh er vor seiner unglücklichen, hoffnungslosen Liebe und konnte sie nicht lassen ...
»Bin ich denn noch nicht weiter?« dachte er, den Nacken ins Kissen gedrückt, mit halbgeschlossenen Augen in das Dunkel starrend. »Wozu hab' ich mich denn all die Zeit gezwungen und gewöhnt, aus mir herauszukriechen, ins Große, ins Ganze hinein? – Was liegst du denn da und machst so ein Geseufz und Getue um Hermann Ifinger; ist denn der allein auf der Welt? So niedliche Brotkügelchen wie unsre Erde mag es hunderttausend geben; also vom Weltweh kommt nicht so viel auf dich. Und die andern Welten? die du nicht siehst? die verklärten? die vielleicht durch diese derbe, ›materielle‹ Welt körperlos hindurchgehn, ohne daß sie von uns, wir von ihnen wissen? Und doch sind wir Brüder – Brüder im Ahnen und Denken – Brüder im Streben und Sehnen – also auch im Leiden – denn wer strebt und sehnt sich, ohne daß er leidet? – Nu, wenn es alle trifft, warum tust du so?«
Er sah in das kalte, verschwommene Licht hinaus, der Wind hob und senkte einen der weißen Vorhänge an dem offenen Fenster, als bewege sich da eine ungewisse, schwebende Gestalt. Grauen fühlte er nicht, er hätte nicht gewußt, vor was? wenn irgendein Geist aus der andern Welt ihm erscheinen könnte, würde er sich fürchten? Aber seine Phantasie war erwacht; sie spielte mit dieser weißen Gestalt. Seine erregten Gefühle, Gedanken suchten sich zu formen. Er dachte sich so einen »Bruder« von drüben, der ins Fenster schaut; einen »Bruder im Leiden«, dessen Geisterstimme hörbar wird, um den im Erdenweh Schmachtenden zu trösten. Aus den Geistern der »Ahnen«, die er am hellen Tag auf dem Strom gesehn, ward ein Geist des »Jenseits«; die Verse, die er heut' auf der Straße schon zu dichten versucht war, fingen an zu klingen. Es waren freilich Verse, wie man sie so hinträumt, ohne feste Form, wie sie eben kommen; er wünschte nur seine werdenden Gedanken leidlich festzuhalten, sein Gefühl zu fassen:
»Der du auf dem Lager ruhst
In der blassen Mondnacht,
Das Aug' starr geheftet auf die stummen Schatten,
Warum liegst du so bleich,
Wie nicht die Lebenden sind?
Menschensohn, warum
Seufzest du doch so tief,
Wie nicht die Toten mehr tun?«
Auf dem Lager ruh' ich
In der blassen Mondnacht,
Das Aug' starr geheftet auf die stummen Schatten:
Wer haucht so in meine Ruh'?
Ich vernehm' dich und hör' nicht,
Ich schau' dich und seh' nicht,
Ich fühl' dich und niemand ist da.
»Jemand ist wohl da,
Hörst du meine Stimme?«
»Ich hör' eine Stimme, fern,
Wie von einem Atemzug der feuerhauchenden Sonne,
Wie vom Saum der Welt;
Und doch flügelt und zittert sie
Nah' an meinem Ohr.
Bist du ein Geist, so sag's,
Aber verhöhn mich nicht;
Ich hab' mein Leben nicht lieb.«
»Geister höhnen doch nicht.
Warum seufzest du so tief herauf
Aus der Menschenbrust?«
Ach, wie ermüden diese langen Leiden.
Auf Erden lebt' ich so gern,
Heut' beneid' ich dich!
Du kannst nicht leiden wie ich.
Meine Seele hängt an einer andern Seele,
Wie eine Wurzel, die in der Luft schwebt,
So fühl' ich mich ohne sie.
Aber wo bleibt sie? Einem andern folgt sie?
Die süße Menschengestalt,
Nie darf ich sie fassen, nie darf ich sie halten.
Darum lieg ich so bleich,
Wie nicht die Lebenden sind,
Darum seufz' ich so tief,
Wie nicht die Toten mehr tun,
Und ihr nicht, ihr nicht,
Die ich so beneide!
»O Menschensohn! beneid' uns nicht.
Selig sind wir wohl,
Frei vom Sehnen doch nicht.
Wer ist frei? Wer kennt ihn? –
Wohl leichter als Äther fügt sich Seel' in Seele
In der Verklärten Welt;
Ohne Neid und Haß
Wachsen sie zusammen,
Reiner als Geschwister,
Süßer als Liebende
Und doch – hör' mich wohl! –
Und doch kommt die Stunde,
Da seufzen wir auch.
Wenn die Seele sich hängt an die andre Seele,
Eins mit ihr sein will, eins, ganz untrennbar eins,
Und unaussprechlich innig dringen sie zusammen,
Senken sich Will' in Wille,
Stürzen sich Kraft in Kraft,
Fast verschmolzen, fast –
Aber eines wird aus zweien nicht.
Ewig bleibt ich und du,
Ewig bleibt du und ich!
So schuf es Gott, trennte sich zu vielen.
»Darum fühlen auch wir
Sehnsucht ohne Frieden;
Darum seufzen wir auch,
Wie Atem der Geister seufzt.
Nur die Toten sind ruhig.
Die beneide doch nicht.
Leide, leide lieber!
Leben und Leid können sich nicht trennen.
Auch Leid und Lust trennen sich doch nicht.
Menschensohn, gute Nacht!« – –
Ifinger stand auf. Im Kopf hatte er seinen Traum vollendet, hatte ihn sich wiederholt; nun wünschte er doch, ihn niederzuschreiben, damit er nicht spurlos verginge. Er fand ein Feuerzeug und machte Licht. Als er dann sein Taschenbuch eben geöffnet hatte, klopfte Erhart und trat herein. »Ah, da stehst du schon«, sagte er. »Göttlich schlafen kannst du. Hier hast du ein Telegramm!«
Er hielt ihm eine Depesche hin. Ifinger öffnete sie hastig – sie war aus München – und las:
»Vollkommene Einigung. Glückseligkeit. Dankbarkeit.« Unterzeichnet: » Lecomte.«