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V

Die gute Christel war an diesem Abend und in den nächsten Tagen sehr verwundert über »ihren Doktor«: er war blaß und still, er aß »wie ein kleiner Vogel«, oder aß auch gar nicht; er arbeitete nicht, und mit ihr französisch zu üben fehlte es ihm an Kopf, wie er sagte; und doch ging er auch nicht zu Bett. Bis tief in die Nacht saß er im Speisezimmer auf dem Sofa, auch wenn die Lampe erlosch, oder ging auf und ab; sie hörte ihn dann von ihrem Bett aus, durch die geschlossene Tür; denn solange seine Schritte gingen, konnte sie nicht schlafen. Die Tage waren rauh, abscheulich, echte Märztage, es regnete fast vom Morgen bis zum Abend; dennoch trieb sich der Doktor viele Stunden umher, kam durchnäßt zurück und brachte den hochaufgespritzten Schmutz des »Gasteigs« und der Isarauen mit. Meldete sich ein Besuch, so nahm er ihn nicht an. Nur für die Kinder hatte er noch, wie immer, ein gutes, scherzendes Wort; doch bemerkte die kluge Christel wohl, daß seine Gedanken bald wieder »zur Tür hinausspazierten«. So hatte sie ihn nicht gesehn seit der schlimmsten Zeit. »Und auch damals,« dachte sie, »aß er doch mehr als jetzt. Er kommt ja von Kräften ... Was ist meinem Doktor geschehn? fragen darf man nicht!« – – Sie hatte noch nie so gefühlt wie jetzt, daß sie doch nur eine Dienerin war; wenn auch seine Kinder an ihrem Blick, an ihren Kleidern hingen, und wenn sie auch sein Haus verwaltete, als wäre sie die Hausfrau.

Am dritten Abend trat sie, schon ziemlich spät, schüchtern in sein Zimmer: sie hatte zwei Briefe zu bringen, einen von der Post, einen aus der Stadt. Indem sie sie übergab, sah sie, daß seine Augen glühten, wie bei einem Kranken. Da der Anblick ihr durch und durch ging, faßte sie sich ein Herz und fragte: »Mit Verlaub, mein lieber, guter Herr Doktor – sind Sie nicht gesund?«

Sie wußte, daß er solche Fragen nicht liebte; dennoch fuhr sie zusammen, als er mit den Brauen zuckte, als wäre da oben Gewitter, und durch die Brille hindurch seine Augen sie anblitzten.

»Mit Verlaub,« sagte er, »ich danke. Ihr lieber, guter Herr Doktor war noch nie so gesund wie heut'. Gestatten Sie, daß ich jetzt diese Briefe lese. Wenn ich etwas brauche, werde ich mir erlauben, es zu melden!«

»Ich bitte«, sagte sie leise. Sie verriet ihm nicht, daß sie sich betrübt oder gar gekränkt fühlte; sie hatte kein Recht dazu. Mit etwas geneigtem Hals ging sie ohne Geräusch hinaus.

Ifinger sah ihr nach; dann öffnete er den ersten Brief. Er war von Franz Erhart; das hätte er gewußt auch ohne die Schrift zu erkennen: denn die beiden inneren Seiten – in der Regel beschrieb Erhart nur diese – klebten aneinander, es kostete wie gewöhnlich Mühe, sie zu trennen. Der Maler liebte seine mächtigen, unregelmäßigen Zeilen mit einer dicken, schwer trocknenden Tinte aufs Papier zu »pinseln« und den Brief dann sofort zu schließen, ohne Streusand und Löschpapier. Nachdem Ifinger in diesem Kampf gesiegt hatte, entzifferte er folgendes:

»Erhart der Pfahlbauer an Ifinger den Verschwiegenen. Teuerster, wie kannst Du wagen, nicht ein einzigmal seit drei Monaten an Deinen geliebten Freund zu schreiben? Ich sitze jetzt hier in Klosterneuburg an der Donau; zwanzig Minuten Eisenbahn von Wien, und doch weltverschollen. Hier ist gut Hütten bauen; erinnert schon an Italien. Solltest auch herkommen! Bei Nebelwetter kannst Du auf der großen, grauen Donau mit den buschigen ›Auen‹ die alten Nibelungenhelden vorbeifahren sehn; der grimme Hagen steht am Steuer; – ich hab' ihn auch schon gemalt. Streng nach der Natur – wenn auch aus dem Kopf. Die Lina ist richtig in Wien bei der Großen Oper; hab' sie springen sehn. Mein Herz hat zum Glück gar nicht mitgehüpft. Es gibt aber allerlei Leute, denen ihre goldne Perücke, und was darunter folgt, sehr gefällt ... Komm, Alter, und laß Dich anschauen! Sehne mich nach Dir. Zunächst aber schreib, mein Sohn, und tröste Deinen alten Esel, den Ismael in der Wüste.«

»Ja, ich sollte fort,« dachte Ifinger, als er gelesen hatte, und starrte noch auf die wilde, übereinandergekleckste Schrift; unten stand die Adresse. »Warum nicht zu ihm, jedenfalls sollt' ich fort ...«

Er schielte aber schon, gegen seinen Willen, zu dem andern Brief hinüber, einem zierlichen, schwach duftenden Billett, dessen Aufschrift, mit Bleistift eilig hingeworfen, er sogleich erkannt hatte. Seine Hände zitterten leise, als er es öffnete. Donna Clara schrieb ihm, mit ihrer deutschen, spät gelernten und vielleicht darum so eigentümlich reizvoll persönlichen Schrift:

»Warum sind Sie gestern nicht gekommen, lieber Freund? Ich hoffte und wünschte es mit ganzem Herzen. Übrigens hab' ich mich genährt, gestärkt, und bin wieder wohl. Ich konnte Sie sehr leider nicht heute zu Tische bitten; aber am Abend bin ich allein; der Baron geht in eine Art Klub mit bildende Kunst. Können Sie nicht kommen?«

»O ja, ich kann!« sagte er vor sich hin und seufzte. »Was kann so ein Mensch nicht alles! Der kann eine junge Frau gern haben wie ein Bruder, obgleich sie eine bezaubernde ›Märchenprinzessin‹ ist; und kann sich dann so nach und nach bis zur Narrheit in sie verlieben, obgleich er ihr ›Bruder‹ ist; und kann sich dann bis zum Grauen vor ihr fürchten, obgleich er Tag und Nacht eigentlich nichts tut, als sich nach ihr sehnen; und kann sich abmartern an dem, was ihn selig macht; das alles kann so ein tragikomisches, lächerlich jammerhaftes Geschöpf! – Und wenn ich jetzt auch die Hand feierlich auf die Brust legte und sagte: nein, ich geh' nicht hin; nein, ich halt's nicht aus – ich ging' ja doch hin. Die Eifersucht würd' sagen: ich bin die Pflicht, ich muß; und die Liebe würd' sagen: ich bin das Mitleid – ich soll! Das sind ja alles Kanaillen und Komödianten, diese Leidenschaften ... Also geh' ich hin!«

In einer Minute kam er auf die Straße; der Regen hatte aufgehört, der Wind hatte sich gedreht und war laulich mild geworden. In seinen Knien war aber eine erstaunliche Unlust, zu gehn, eine schlotternde Mattigkeit. Er fühlte, daß er fieberte; sein Kopf schmerzte sehr, sein Atem ging hastiger, auf ein weiches, nicht unangenehmes Frösteln folgte eine trockene Hitze, die ihn bedrückte und beklemmte. »Was liegt daran!« dachte er, und nur etwas langsamer als sonst kam er an ihr Haus. Donna Clara war im Salon, sie saß am Kamin, in dem viele Scheite brannten. Die kleinen Füße waren nah am Feuer, sie hatte sich in ein braunrotes, warmes, weites Gewand gesteckt, und nachdem sie ihn begrüßt hatte, schüttelte sie sich. »Mich friert!« sagte sie. »Ich liebe Deutschland so sehr – aber sie ist so kalt!«

»Mein Gedanke war immer,« erwiderte Ifinger, »die Deutschen sollten weiter südlich leben –«

»Oh, wie dank' ich Ihnen, daß Sie gekommen sind!« fiel sie ihm ins Wort. Sie sah etwas frostig aus, aber nicht mehr bleich. »Ich sehne mich so, an Sie zu sprechen, weil ich immer denke: er schüttelt über mir den Kopf, er begreift nicht, wie ich meine Lebenslust so verlieren konnte, wie ich mir einbilden konnte, der Graf meint es ernst zu mir! Sie werden es aber begreifen, wenn Sie seine Briefe – –«

Sie war aufgestanden und huschte hinaus, ohne auszusprechen. Nach einer Minute kam sie zurück, eine kleine, elegante, mit Holzmosaik verzierte Kassette in der Hand. Sie zog ein Schlüsselchen hervor und schloß sie damit auf. Es waren nur Briefe darin, jeder, nach Frauenart in sein Kuvert gesteckt, obwohl sie gewiß schon oft heraus und wieder hinein gewandert waren, denn die Ränder der Einschläge waren vielfach zerstoßen und zerbrochen. Sie zog die Briefe hervor und legte sie auf einen Tisch, dann überlief sie aber wieder ein Frösteln, und sie ging um den Tisch zur Chaiselongue, die daneben stand. »Sie erlauben ja!« sagte sie, streckte sich aus und zog eine feine, farbige Decke über sich hinauf. »Setzen Sie sich zu mir, nehmen Sie diesen Stuhl!« Darauf griff sie wieder nach den Briefen und legte sie auf ihren Schoß. Mit der Geschwindigkeit und Anmut, mit der ein Eichkätzchen Nüsse öffnet, zog sie einen Brief nach dem andern aus seiner »Schale« heraus. »Lesen Sie!« sagte sie. »Lesen Sie, was Sie wollen. Vor Ihnen hab' ich kein Geheimnis. Sie sind nach dem Datum geordnet; auf jede Außenseite, zu oberst, werden Sie ihn finden. Von meinem Bleistift geschrieben, sehn Sie. Sagen Sie mir, lieber Freund, ob ich von diese Briefe eine zu gute Meinung hatte – ob Sie mich verdammen!«

Ifinger ergriff das erste Blatt; er begann schon finster zu lächeln, ohne es zu wissen. »Was für Briefe werden das sein?« dachte er. »Unverschämte Beteuerungen; zärtliche Ergüsse aristokratischer Mußestunden; all diese halben Lügen, die eigentlich ganze sind. All dieses Streicheln und Schmeicheln, mit dem man die großen Kinder, die Frauenzimmer, ewig gefangen hat und ewig fangen wird ...«

Er las. – Er nahm ein Blatt, einen Bogen nach dem andern. – Ihm entfuhr kein Wort, kein Laut. Er starrte nur immer fest aufs Papier. Von Zeit zu Zeit hörte sie seinen schweren Atem, den er langsam einsog und rasch wieder ausstieß. Auf seiner Stirn, an den Augen und Wangen regte es sich zuckend. Sein Gesicht entfärbte sich, dann war es wieder voll Blut. Donna Clara sah zuweilen auf die Blätter, aber mehr auf ihn; sie betrachtete ihn zuerst geduldig wartend, dann verwundert, staunend. Zuletzt erfaßte sie eine Ungeduld, eine Bangigkeit, die ihre schmalen Finger spreizte und auf der leise knisternden Decke auf und nieder schob.

»Sie lesen sonderbar,« sagte sie endlich: »mit dem ganzen Gesicht. Aber – Sie sagen ja nicht ein Wort. Mißfällt Ihnen das alles so sehr?«

»O nein,« murmelte er, wobei er auf einmal vor innerem Schmerz mit den Wimpern zuckte. »Das sind ja – merkwürdige Briefe. Ungewöhnliche. – – Das ist keine Liebelei; das ist alles – so ernst, so sachlich. Das ist einfach Liebe!«

»Finden Sie das auch?«

»Er streitet mit Ihnen, er schilt mit Ihnen, er macht Sie herunter – – schmeicheln tut er Ihnen nie.«

»Nein, das tut er nicht!«

»Aber er schreibt Ihnen alles – alles – so wie man mit sich selber spricht. Und« (es gab ihm einen neuen Stich, so daß er zusammenfuhr) – »und es ist alles der Mühe wert. Er hat viel zu sagen. Er denkt viel; und in einem großen Stil, sozusagen. Kurz, ein ganzer Kerl – – Aber von einem Grafen sagt man ja wohl nicht: ›ein Kerl‹. Kurz – ein ganzer Mann!«

»Finden Sie?« fragte die Baronin, deren Augen glänzten, durch einen feuchten Nebel hindurch. »O, wie sind Sie gut! – – Aber an vieles, was er sagt, werden Sie sich stoßen, denn ich tu' es ja auch. Sagen Sie es offen!«

»Warum sollt' ich es nicht sagen,« stieß er heraus, ein bitteres Lächeln erstickend, eh' sie es bemerkte. »Aber ich lese und lese – so was find' ich nicht. Alles, alles gut!«

»Zum Beispiel hier, lieber Freund; gleich in diesem Brief!« Sie nahm den letzten Bogen, den er gelesen und auf den Tisch gelegt hatte und deutete mit dem Zeigefinger auf die erste Seite, nach unten. »Bitte, lesen Sie das!«

Ifinger las laut:

»– – Ich fühle auch stärker als je, obwohl ich es immer fühlte: mit unserm aristokratischen Vorurteil kommen wir nicht weit! Nur der Geist und das Herz sind von Adel. Alles, was wir noch voraus haben, ist eine etwas schlankere Bauart, und daß wir unsre Haut besser pflegen, und daß wir nie zu lange Visiten machen. Sonst find' ich, sind unsre Flügel von Blei; sie halten uns mehr zurück, als daß sie uns heben!«

»Nein, das meint' ich nicht,« sagte sie und zog ihm das Blatt sanft aus der Hand. »Ähnlich denk' ich ja auch! Halbblut, das ich bin! – – Aber das da; hier!« – Sie schlug um und deutete auf die nächste Seite, etwa in die Mitte. Sie schien jede Stelle im Kopf zu wissen; die arme kleine Baronin hatte diese Briefe wohl manches Dutzendmal gelesen ...

»Also hier,« sagte er und las:

»– – Das ist auch eine Gefahr der Aristokratie, und der allerbesten: wir dilettieren so gern in Wissenschaft und Kunst, weil die regelrechte Arbeit uns, sozusagen, etwas ›bürgerlich‹ vorkommt, weil wir's ›nicht nötig haben‹, und so zersplittern wir oft unsre schönste Kraft. Ich sag' Ihnen, ich hab' einen Ekel an diesem geistreichen Schmetterlingsleben, das ich nun auch schon so lange führe und dabei für was Besonderes gelte; und was bin ich? Nichts! Ich möcht' lieber der beste Schuster werden, als so ein Herumschlecker bleiben, der zehn Sachen halb kann, und nicht eine ganz ...«

»Nun ja, da haben Sie's!« rief die Baronin aus. »Was für Übertreibungen das sind ... Es muß doch auch solche ›geistreiche Schmetterlinge‹ geben, die von alle schöne Blumen saugen, was zu saugen ist ... Habe ich nicht recht?«

Ifinger verzog das Gesicht. »Ich hätte ja nichts dagegen,« sagte er mit einer verzwickten Art von Lächeln, »wenn der Graf unrecht hätte, aber – ich kann's nicht finden; – bitte um Vergebung. Wenn der Graf so fühlt, muß er danach handeln; denn dann ist vermutlich eine ganze Kraft in ihm, die ganz aus ihm heraus will; und da heißt es: pouvoir oblige!«

Sie sah ihn etwas betroffen an. Ihre Augen gingen darauf umher, sie nickte einem andern Briefbogen zu, der bei den gelesenen jetzt zu oberst lag, und nahm ihn in die elfenbeinweiße Hand. »Aber hier!« fing sie wieder an, ihm die Schlußseite hinhaltend. »Hier auf dieses Blatt! Finden Sie den auch gut?«

»– – Ich gestehe Ihnen offen,« las Ifinger laut,« so poetisch mich Ihr ganzes Leben und Weben angemutet hat, ein schnödes Gefühl hatt' ich doch: diese ganz ästhetische, feingeistige, duftige Existenz – sie ist doch nervös; sie entnervt. Können Sie dabei dauernd glücklich sein? Ich wollte, Sie müßten von Zeit zu Zeit Pfannkuchen backen oder Strümpfe stricken; ich wollte, Sie hätten sich um einen Mann zu sorgen, der für sein Volk Politik macht und heut' befackelzugt, morgen gesteinigt wird; oder ich wollte, Sie hätten in einem großen vaterländischen Krieg Verwundete zu pflegen – aber tüchtig, gründlich. Kurz, ich wollte, Sie und ich – – o Gott, Sie und ich! – wir hätten etwas zu tun! Denn so wahr ich lebe –«

»Das ist schon genug«, sagte die Baronin. »Nun! wie finden Sie das?«

»Ich wollt', ich hätt's geschrieben«, antwortete er trocken, und biß dann die Zähne zusammen, weil diese »gottverfluchten« Schmerzgefühle immer wiederkehrten ... »Das heißt, in des Grafen Mund ist es erst das Rechte; – ihm macht es Ehre, Donna Clara; ihm macht's sehr viel Ehre ... Glauben Sie mir, er hat doch im Grunde recht, und – – und er meint's Ihnen gut!«

»Sie verteidigen also alles an ihm? Das hätte ich nicht gedacht. Ich dachte, Sie würden für mich Partei nehmen –«

»Was heißt das: Partei? Partei? Wenn ich Partei nehmen würde, dann – – Aber dann wär' ich ein Hundsfott; das kann ich also nicht.« – Er hielt den Brief empor und schüttelte ihn mit zitternder Hand: »Sehn Sie, Donna Clara. Das ist – – das ist ein ungewöhnlicher Mensch!«

»Nicht wahr!« sagte sie weich, und auf einmal glücklich. »Nicht wahr, ich hatte doch recht, mich in ihn – – und an ihn zu glauben? – Er aber – er, er – er glaubt nicht an mich ... Er glaubt an mein Mann. Er sagt mir: ›Sie lügen ... ‹«

»Oh! oh! oh!« rief sie aus, wieder ganz Spanierin – oder auch Yankeetochter – und ballte die kleinen Hände. Das Blut trat ihr ins Gesicht, sie warf die Decke zurück, wie um nicht zu ersticken. Dann brach sie in Tränen aus und schluchzte; das hatte er noch niemals gehört.

Unsinniges, doppeltes Mitleid, mit ihr und mit sich, schüttelte ihn nun auch. – »Aber Sie lieben ihn noch?« fragte er, sich wieder erbarmungslos marternd.

»Er soll mir's abbitten,« war ihre Antwort; »abbitten – hier zu meinen Füßen. Eher hab' ich nicht Ruhe; nie!«

»Sie lieben ihn aber noch?«

»Ich weiß nicht. – Es ist möglich.« – – Die großen, von Wimpertropfen umzitterten Augen sahen ihn rührend ehrlich an: »Ach, lieber Freund, ich fürchte! Ja!«

»Warum auch nicht,« brummte er zwischen den Zähnen; »er ist's wert. Er ist's wert. – Möchten seine Frau werden?«

»Wie können Sie von etwas reden, das unmöglich ist. Er hält mich ja für – – Er verachtet mich! – – Aber beim Baron bleiben – – Glauben Sie das nicht. Ich kann bald nicht mehr. Gott sei Dank, ich hab' wenigstens keine Kinder ...«

»Liebe Donna Clara!« sagte er von Mitleid gefoltert, – jetzt nur Mitleid mit ihr. »Warten Sie's noch ab. Steigen Sie gefälligst auf eine Wolke und schauen Sie von da herunter: da liegt die Baronin Pillnitz auf einer Chaiselongue und blickt mit Verzweiflung in die dunkle Zukunft; aber gleich rechts um die Ecke – sie kann's nur nicht sehn – kommt schon die andre Schildwache, die sie ablösen soll. Sie stehn jetzt auf Ihrem Posten. Das ist der große Drill. Das sind Prüfungen. So sehe ich jetzt alles an, was mich trifft; das bekommt einem gut. Wer hielte die Geschichte sonst aus!«

»Ja – Sie haben wohl recht! – Stärken Sie mich nur, Sie armer, geplagter Freund. Reden Sie mir nur zu!«

»Sie haben Kraft; verzagen Sie nicht an sich. Seit ich Sie kenne, wie sind Sie gewachsen; wie haben Sie Ihrer weichen Seele das Rückgrat gestärkt –«

»Glauben Sie?«

»Ich weiß es gewiß. Es steht ja auch auf Ihrem Gesicht. Als wüchse aus der Spanierin immer mehr und mehr die Amerikanerin heraus ... Denn sehn Sie, Sie werden nicht nur immer – holder, immer reizender –«

»Lieber, guter Freund!« sagte sie gerührt. »Sie meinen es mir so gut! Sie wollen mich in mein Unglück trösten!«

»Ich sage nur, wie es ist. Nicht nur immer reizender: auch Ihr Geist – Ihr Ernst ... Man braucht ja nur in Ihre Augen zu schauen: die sind um hundert Meter tiefer geworden ...«

Er sah ihr in diese vertieften Augen; es tat ihm aber nicht gut. Sie drückte ihm dankbar die Hand; das ertrug er nicht mehr, er beugte sich hinab, um wenigstens einen ihrer Finger zu küssen. »Oh!« rief sie verwundert aus. »Wie heiß Ihre Lippen sind!«

»Das tut nichts ... Donna Clara! Sie sind ja – – Sie sind einfach die Poesie. Ja, ja, die Poesie ... Alles an Ihnen redlich und wahr, nicht so viel Falsch in Ihnen – aber dieser Duft über allem, aus Aristokratie, Schönheitsgefühl, Seelengüte gemischt ... Sie leben in dieser prosaischen, kalten Welt wie in einem Zaubersee, der nie gefriert; oder wie die Schwäne, die ich einmal in einem endlos kalten, nordischen Winter sah: man hatte ein kleines Stück vom Fluß für sie aufgehauen, sonst war alles erstarrt, nur die edeln Vögel schwammen so schön, so ruhig auf ihrem Wasser dahin. Wenn ich Sie sehe, muß ich so oft an diese Schwäne denken ...«

Seine Stimme begann zu zittern; daß er dagegen kämpfte, nützte ihm nicht mehr. Er bewegte nur den Kopf, den fieberig glühenden, und ward still. Sie horchte und blickte befremdet, beunruhigt.

»Lieber Freund,« fragte sie, »was ist Ihnen? Sie haben so heiße Augen; sprechen auch so ungleich. Sie sind doch nicht krank?«

Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht etwas nervös vom Arbeiten,« stammelte er, mit Widerwillen lügend; »weiter nichts, weiter nichts! – – Wie klein sie ist,« dachte er; »aber wie gottverboten holdselig liegt sie da. Nur ein einzigmal einen Arm unter ihren Rücken legen – – das wär' ein Gefühl ... Wie zutraulich sie daliegt. So spät in der Nacht. Wie so ganz allein; als wären wir ein Liebespaar, als hätte Baron Pillnitz recht ... Sie liebt nur unglücklicherweise den andern – und so nach und nach werde ich verrückt!«

Mehrere Türen gingen; es wurden Schritte laut durch die stille Nacht. Hermann fuhr zusammen. »Der Baron kommt nach Haus«, sagte die Baronin ruhig, mit einem Anflug von Lächeln. »Fürchten Sie sich nicht: hierher kommt er nicht mehr. So spät tut er das nie. Er geht gleich zu Bett!«

»Er geht gleich zu Bett«, wiederholte Hermann sich in Gedanken, halbbewußt, verstört. Ihm war unsinnig bang »verbrecherisch« zumut ... Ihm! – »Hat man je so etwas erlebt!« dachte er. »Ich bin wirklich toll!« – – Die Schritte entfernten sich. Bald war wieder alles still.

Sie nahm von neuem seine Hand; er bebte. »Wie war das wieder lieb und gut,« sagte sie, »von der Poesie, von den Schwänen; es war wie ein Gedicht. Ach, ich bin nur nicht so, wie Sie von mir sagen; ich bin so arm, so schwach. Ach, mein einziger Freund! Verlassen Sie mich nicht! Helfen Sie mir! Ich selber kann mir nicht helfen!«

Plötzlich durchlief ihn ein brennender, sonderbarer Schmerz; er sah, wie durch eine geöffnete Tür, auf ein noch traumhaftes Bild: wie er helfen könne. Nur seine Liebe und seinen Haß mußt' er dabei opfern ...

Eine Uhr im andern Salon schlug zwölf; dann auch eine Kirchenuhr draußen. Er horchte; endlich stand er auf, langsam, widerstrebend – als nehm' er nun wieder von einem goldenen Wahn seines Lebens Abschied. »Nun muß ich doch fort«, sagte er. Seine Zunge war wie Blei. Donna Clara lag noch; seine trüben Augen verschlangen sie. »Am liebsten würd' ich sie küssen«, dachte er ... »Aber damit wäre ihr nicht geholfen ...«

Er trat zurück; nun taumelte er. Sie bemerkte es. » Dios mio!« sagte sie fast bestürzt. »Was haben Sie?«

»Nichts,« antwortete er; »eine Nervendummheit. Oder auch eine sehr gescheite, vernünftige Mahnung; ›mach, daß du zu Bett kommst!‹ – Ich werde das also tun. Morgen ist es gut!«

»Ich hoffe!«

»Ja, ganz gewiß. Gewiß – Und ich werde – –«

Es ward ihm dunkel vor den Augen, darum verstummte er.

»Was werden Sie, lieber Freund?«

»Ihnen helfen werd' ich. Darüber hören Sie mehr. Gute Nacht. Ja, ich werd' Ihnen helfen!« –

Er war draußen, er schloß die Tür. Er ging durch das noch beleuchtete Vorzimmer; seine Schritte hallten, wie vorhin die des Barons. Die Glieder waren noch schwerer, träger, als da er kam; dennoch bemühte er sich, möglichst geräuschlos zu gehn, als müsse er sich hüten, an sein Dasein zu erinnern. In einem Kabinett, das an das Vorzimmer stieß, lag der Diener, der ihm die Haustür öffnen sollte, in einem Lehnstuhl und schlief. Er mußte ihn wecken; der schlaftrunkene Bursche sah ihn verdutzt und etwas bedenklich an, wie einen »glücklichen Verbrecher« – so dachte Ifinger mit wildem Humor – der von seiner »Herrin« in die Nacht hinausschleicht. Und ihm war so elend ums Herz ...

Ein leichter Taumel wollte ihn nicht ganz verlassen; endlich war er zu Hause, entkleidete sich und warf sich ins Bett. Die Augen schlossen sich gern; es kam aber kein Schlaf. Das ganze Hirn schien zu schmerzen; doch das störte ihn nicht so sehr, wie die Gedankenjagd ... Es erging ihm wie vor zehn Jahren oder darüber, als er im Fieber einer Grippe, zum Bett und zum Alleinsein verurteilt, die jugendliche Torheit begangen hatte, mit sich Schach zu spielen, und nun in den endlosen, qualvollen Phantasien des überreizten Gehirns alles zum Schachspiel ward: was er auch zu denken versuchte, die Landkarte von Europa, das Quadrat von a + b, der »kategorische Imperativ«, die Idee des »Guten und Schönen«, alles verwandelte sich ihm wie durch eine verhexte Taschenspielerkunst in eine Schachfigur und fuhr als Läufer schräg übers Brett oder hüpfte als Springer im Rösselsprung vorwärts und zur Seite. So mühte er sich jetzt vergebens, Bilder hervorzurufen, Erinnerungen zu wecken, Vorstellungen anzuschauen; aus allem ward der Gedanke: »Hermann Ifinger, hilf! – Beiß nicht ins Kopfkissen, das nützt nichts, du musst dich opfern und helfen. Helfen heißt nicht bloß verzichten, sondern beistehn heißt es. Sie kann nicht ohne ihn leben, also geh hin, bring ihn ihr zurück! Hast bei deiner ersten Liebe für dich selbst gelebt, wie ein Egoist; das kannst du bei der zweiten nun gutmachen. Du sprachst ja zu der kleinen Frau so weise, vom ›großen Drill‹ und von ›Prüfungen‹; jetzt sag das auch zu dir, Hermann Ifinger! Geh auf deinen Posten!«

Das Fieber war im Blut und in seiner Seele, er lag wie im wachen Traum, er kam sich vor wie der Erzvater Jakob, der nachts mit dem Engel ringt. Es siegte aber der Engel, wie er endlich spürte ... »Ach,« dachte er ermattet, und doch wie vom Bett gehoben durch ein wunderlich, schmerzlich seliges Gefühl: »ich fing so schön an, ihn zu hassen, und nun soll ich ihn lieben ... Ja, ja, ich muß ihn lieben, dann geht's. Wenn ich ihn ihr gönnen kann, kann ich ihm auch seinen Wahn aus dem Herzen reißen, und mir dieses Gift ...«

Gegen Morgen kam, mit dem Entschluß, der ersehnte Schlaf; doch wie jene Kobolde, jene Schachfiguren durchfuhren ihn immer wieder sinnverwirrte Träume. In alle Sprachen, die er kannte, mußte er übersetzen: »Geh auf deinen Posten!« und »Hermann Ifinger, hilf!«


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