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Gewichtig stampften die herausgetriebenen riesigen indischen Elefanten eine Bahn frei durch die sich wie toll gebärdende Menge, die immer wieder einer ungeheuren Sturzwoge gleich gegen den Zirkuseingang schlug mit seinen zweihaushohen Seitenplakaten. In meterhohen Buchstaben kündigten diese Plakate den gigantischen Ring- und Boxmatch an, unter Mitwirkung der zwei größten Weltchampions: O'Bry und Tom King.

Die Schaustellung im Wintergarten war nur eine großangelegte Vorreklame gewesen für Tom King und diesen achttägigen Match, zu dem die berühmtesten Athleten aller fünf Weltteile zusammengetroffen waren.

Die Logen und Plätze der ersten Ränge wurden zu schwindelerregenden Preisen unter der Hand verkauft, die zwei Kassen überhaupt abends nicht geöffnet. Die viereckigen kurzen Tafeln mit dem schwarzglänzenden »Ausverkauft« verrammelten nicht nur die Kassenfenster, sondern auch jede Hoffnung.

Und obwohl es zur Genüge bekannt war, daß sich nicht eine Stecknadel mehr in das überfüllte Haus einschmuggeln ließ, so stand doch am ersten Abend eine unabsehbare, grollende, heulende, schwatzende, erregte Menge vor allen Straßenausläufen, drängte sich in lebensgefährliche Nähe an die heransausenden Autos, die ratternden Droschken, klumpte sich zusammen an den Haltestellen der Elektrischen und gröhlte ihre Angebote, bewarf glückliche Kartenbesitzer mit Schimpfworten, wälzte sich, alles mit sich reißend, dahin, wo durch einen Laut, eine hochgehobene Hand, einen Ruf die oft fälschliche Annahme geweckt wurde, daß ein Billett im letzten Augenblick abzugeben sei.

Häufig war es nur ein Manöver – wie auf der Börse. Und schamlos wurden Nachfragen und Angebot hin- und hergebrüllt, wirbelten Zahlenklänge auf, die alles in den Schatten stellten, was je für den Genuß oder die Lüste einer Stunde geboten worden war.

Kari Taß, die sich damit brüstete, daß ein spleeniger Engländer ihrem Dienstmädchen einmal tausend Mark angeboten, wenn sie ihm für die Dauer einiger Minuten Gelegenheit verschaffte, das Schlafzimmer ihrer Herrin zu betreten, während diese schlief – Kari Taß erbleichte vor Neid, wenn sie sich die Unsummen vorstellte, die eine tollgewordene Stadt auf die Blößen etlicher Männer häufte. Vor Neid und hilfloser Verliebtheit.

Denn was immer sie versucht hatte, um sich Zutritt zu Tom King zu verschaffen – erst schüchtern fast, dann zynisch – roh wurde sie von dem ekligen Stephens an die Luft gesetzt. Das letztemal tätlich, indem er sie mit seinen zwei großen Händen um die Mitte faßte und sie nachdrücklich und mühelos, als wäre sie eine kleine Porzellanfigur, auf den Teppichläufer des Korridors aufstellte. Nicht mal ihr wütendes Strampeln vermochte ihrer Gestalt eine selbstgewollte, sich sträubende Kurve zu geben. Schlimmer als das engste Schnürmieder hatten diese fürchterlichen Hände gefaßt und gehalten, ob sie mit den kleinen Fäusten auch noch so wild gleich einer Furie auf die eisenharten Arme einschlug.

» Well, das nächstemal leg' ich Sie über das Knie und mach' Frikassee von Hühnerfleisch aus Sie ...«

Sie spuckte ihm ins Gesicht und schoß die Treppe hinunter. Aber die Lust der Beharrlichkeit war ihr vergangen.

Sie ließ sich von ihrem Leibdichter ein Chanson schreiben, in das sie alle Lauge ihrer Enttäuschung hineinspie und alle nur denkbaren und von der äußerst nachsichtigen Zensur erlaubten Grausamkeiten dem »hinkenden Riesen« andichtete. Ihre Wut war zu echt. Sie wurde zum erstenmal ausgepfiffen. Nur der Name machte die Runde von Berlin: »Der hinkende Riese.« Ein junger Komiker, der ein witziges Couplet auf diesen Namen machte, holte sich mit ihm seinen ersten Erfolg. Da wäre Kari Taß beinahe kontraktbrüchig geworden. Von ihrem Platz im Zirkus konnte sie jedenfalls niemand vertreiben, und Abend für Abend war sie da, wenn der gigantische Kampf entbrannte. Saß nahe – ganz nahe. Mußte das Aufklatschen der Hände auf dem nassen Fleisch hören, das Pfeifen der aufblähenden Nüstern, das gurgelnde Stöhnen, das krachende Aneinanderprallen der Schädel. Mußte den Luftdruck spüren von den atemraubenden Stößen, mußte die Muskelspannung sehen und die leiseste Sehnenzerrung, das Auf- und Ablaufen des Blutes in den Adern, die anschwollen wie Stricke, und mußte das Röcheln in sich aufnehmen der Ermatteten, Besiegten.

Vor allem aber mußte sie den jetzt Verhaßten, ihr Unbegreiflichen sehen, der über der Kraft zu stehen schien und seinen Körper wie eine fühllose, durch keine Macht der Erde zum Wanken zu bringende Mauer all der Gewalttätigkeit entgegenstellte, die sich auf ihn stürzte. Den Mann, der mit einer Anstrengung, die fast gekünstelt erschien – eine absichtliche Täuschung nur, um nicht jede Spannung aufzuheben – den Gegner zur Strecke brachte.

Drüben am Artisteneingang saß Ria Roma, das stolze, schöne Römerprofil leicht über ein Heft geneigt, über dessen Seiten ihre Hand in großen, kühlen Schwingungen flog.

Kari Taß wußte, welchem Gift Ria Roma ihre Ruhe verdankte, die Ruhe, die ihr Ruhm zu bringen hatte. Sie wußte auch, daß sie Gnade gefunden hatte vor dem hinkenden Riesen und hineingedurft hatte zu Tom King, um eine Skizze von ihm zu entwerfen, während er mit seinem Trainer arbeitete. Sie wußte, daß er ihr Modell gestanden, zwei volle Stunden, nachdem er ihre flüchtige Skizze gesehen. Und daß er ihr so viele Sitzungen zugesagt hatte, wie sie brauchte, um den Akt zu modellieren, den er bei ihr bestellte.

Ria Roma hatte gefragt: »Soll er Tom King heißen?«

»Nein, Kraft.«

»Das ist dasselbe.«

» Well. Er soll auf der Brücke stehen am Eingang von Kingstown. Am Ausgang aber soll eine Frau stehen. Groß und stark, und die soll heißen: Schönheit.«

»Wen soll ich dazu nehmen?«

»Wen Sie für geeignet halten.«

Da hatte Ria Roma gelächelt. Und hatte weder Freund noch Feind mehr in ihre Werkstatt hineingelassen, die auf dem Hofe einer Grunewaldvilla ihren koketten Giebel zeigte.

Kari Taß wußte auch durch einen ihrer Freunde, dessen Vater Spiegelfabrikant war, daß die Bildhauerin für Tausende wandhohe und wandbreite Spiegel gekauft hatte, die sie in der Werkstatt, aus der alle Teppiche und schwellenden Ottomanen entfernt worden waren, hatte anbringen lassen. Und da ward ihr zur Gewißheit, daß Ria Roma sich selbst modellierte, sich dem Ton King schenkte – mit dem Marmor, aus dem sie selbst sich schuf.

Kari Taß biß sich mit ihren scharfen Mausezähnen die Lippe blutig. Sie hätte unbedenklich der Bildhauerin die Pulsader durchgebissen. Plötzlich stutzte sie.

Eine Dame, in schwarzem Jackenkleid, schmal und hell von Angesicht, in der gleichen Loge wie die Bildhauerin, nur um eine Stufe höher, neigte sich über die prachtvollen Schultern Ria Romas und blickte starr auf die Zeichnung. Sie schien etwas zu fragen. Ria Roma schüttelte den Kopf, sah sich dann um und legte ihr Skizzenbuch zurück auf ihren Schoß.

Die Fremde aber ließ ihre schmale, behandschuhte Hand von der Seitenbrüstung aus rotem Samt herabfallen, die den Artisteneingang von den Logen trennte.

Nach der großen Pause, die den Ringkampf vom Boxmatch schied, trat Tom King als letzter in die Arena. Der Applaus schwoll orkanartig an. Der Australier O'Bry, untersetzt und stiernackig, blickte dreist um sich und zuckte die Achsel.

Unter den Stallmeistern und Artisten in blauen Fräcken mit goldenen Knöpfen, sie alle um einen halben Kopf überragend, stand Stephens in Frack und weißer Binde. Wie ein Habicht umkreiste er mit seinem einzigen glänzenden Auge die Ränge und legte sich dann gleichmütig, mit einem kurzen Nicken für die Bildhauerin, an die Logenrampe. Sein Kopf streifte die Hand der jungen Dame in Schwarz.

» Beg your pardon

Sie antwortete englisch; und in ihrem Tone mußte etwas sein, was den Alten aufblicken ließ.

Kari Taß beobachtete nun, wie einige Worte zwischen den beiden gewechselt wurden, wie der hinkende Riese seine Hand zur Schläfe hob, als wollte er einen unsichtbaren Hut lüften.

Wer war die Fremde? Kari Taß, die stets alle Männer und Frauen erkannte, die dem Ringe des »Ganz-Berlin« einverleibt waren, hatte zu keiner Stunde und an keinem Ort dieses schlanke, merkwürdige, in sich geschlossene Wesen getroffen, für dessen Vornehmheit sie trotz der klösterlichen Einfachheit der Kleidung Blick hatte. Sie hielt kaum noch an sich vor Neugier. Die Neugier wurde nicht zu ertragende Spannung, als die Fremde plötzlich verschwand und mit ihr der hinkende Riese. Wenn sie nicht so entsetzlich Angst gehabt hätte vor den Eisenpranken! ...

Wanda Hoheneck stand jetzt mit Stephens in Tom Kings Garderobe. Mit größter äußerer Ruhe ließ sie den Habichtblick des Mannes über sich kreisen, in dem Unwillen lag und Mißtrauen.

»Ob Ihr Sohn Ihnen von seinem Aufenthalt im Laboratorium meines Vaters gesprochen hat, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß er mit einem rücksichtslosen, ich kann wohl sagen verbrecherischen Gegner zu tun hat, der seinen älteren Ruhm gefährdet sieht. Und darum –«

» Thank you, thank you – das weiß ich alles selber. Ich bezahle in Berlin drei bestrenommierte Detektives von die allererste Bureaus. Tom King wird immer beobachtet. Ich weiß auch, daß er gewesen ist nachts bei Ihnen.«

Stephens verstummte ganz plötzlich vor dem Blick der hellen, blauen Augen. »Sie müssen schon verzeihen, aber die Damen, die für Tom King haben Interesse, kann ich nicht mehr zählen. Das bringt sein Beruf so mit.«

»Mein Interesse ist gewiß anderer Art. Es gilt seinen Zielen, die ich zum Teil kenne – durch Doktor Kürer, durch ihn selbst; es gilt dem neuen Land, das er gegründet hat, den neuen Ideen, die seine Kraft verwirklichen hilft.»

»Damit Sie gleich wissen: wir wollen keine Frauen aus Europa,« schnitt Stephens kurz ab. »Der Mann soll herüber, weil er viel weiß und viel kann. Aus demselben Grunde soll die Frau nicht zu uns. Ich kann Ihnen das nicht alles so erklären. Aber es ist so.»

»Ein Gesetz von Ihrem Herrn Michael?»

Er stutzte.

»So, den kennen Sie auch. Mein Sohn spricht selten von ihm zu Fremden.»

Sein Ton war um einen Schatten weniger abweisend. Wanda feuchtete die ausgedörrten Lippen an.

» Well, um was handelt es sich?»

»Sie gestatten wohl, daß ich mich setze.»

» Please ... wenn Sie glauben, daß Sie hier sitzen können, als Dame.»

Er selbst blieb stehen, die Beine breitspurig auseinander, die mächtige Brust herausgedrückt, die Daumen in den Täschchen seiner Frackweste aus schwarzem Samt. Und es lag trotz der Unverrückbarkeit seines Körpers eine so ärgerliche Ungeduld über ihm, daß ihr die Worte über die Lippen stürzten, vor Angst, er könnte sie nicht zu Ende sprechen lassen.

Sie hatte vorgestern zwei Stunden eingekeilt in der dichten Menschenreihe gestanden, die sich zum Kassenschalter hinwälzte wie eine ungeheure Schlange. Plötzlich hatten Worte an ihr Ohr geklungen, in einem Slang, den in Europa sicherlich keine zehn Menschen verstanden, der ihr aber in Erinnerung geblieben war von einer ihrer größten und längsten Forschungsreisen her, die sie vor Jahren mit ihren Eltern in das Innere Australiens unternommen. Es war derselbe Slang, dessen sich die zwei Dragomans untereinander bedienten, und der in einem kaum zu erkennenden Englisch bestand, untermischt mit einem der vielen australischen Dialekte, der von den Tasmaniern gesprochen wird. Sie hatte damals auf der fast zweijährigen Expedition diese merkwürdige Sprache erlernt und wollte, da sie sie jetzt nach länger als zehn Jahren wieder hörte und zum größten Teil verstand, den zwei Männern, die sich laut und sorglos unterhielten, einige Worte in ihrem Dialekt zurufen, als Tom Kings Name an ihr Ohr schlug. Sie ließ einige Leute an sich vorbei, um unauffällig noch mehr von dem Gespräch aufzufangen. Sie entnahm ihm, daß die zwei Männer, die einen Dressurakt im ersten Teil des nächsten Programms stellten, von O'Bry empfohlen und heimlich gedungen worden waren, Tom King einen Streich zu spielen, indem sie ihm unauffällig den tasmanischen Würger vor die Füße spielten. Es war dies eine Art Falle, wie gewisse australische Stämme sie manchmal anwendeten, um Raubtiere einzufangen. Sie selbst hatte solch eine Falle einmal gesehen: zwei untereinander verbundene Metallringe, mit erdfarbigem Leder umwunden. Das Tier stolperte, und die Ringe schlossen sich selbsttätig und mit Blitzesschnelle um das eingefangene Glied, das sie bis zur völligen Lähmung zusammenpreßten. Auch bei kriegerischen Überfällen von Dorf zu Dorf wurde dieser Würger lassoartig verwendet. Die Männer hatten die Absicht, diese Ringe, die nichts Auffälliges boten unter den vielen Zirkusgeräten, hinter sich herzuschleifen, wenn Tom King am Abend des Entscheidungskampfes aus seiner Garderobe treten würde. Stand einer seiner Füße in dem Ring, so brauchten sie nur anzuziehen, und er lag da. An ein Auftreten Tom Kings innerhalb der nächsten Tage war dann nicht zu denken. O'Bry aber schützte ein anderweitiges Engagement vor, um am nächsten Tage abzureisen, ohne sein Ansehen verloren zu haben. Der gestiftete Preis einer halben Million für den Sieger ging dann freilich verloren, aber Geld hatte der alte Fuchs genug, und schäbig genug dünkte es sie, was er ihnen als Belohnung zugesagt hatte. Sie sprachen dann von der Verteilung des ihnen versprochenen Geldes, gerieten in heftigen Wortwechsel und redeten so schnell, daß sie ihnen nicht mehr folgen konnte. Was sie wußte, würde ja auch wohl genügen, um Gegenmaßregeln zu ergreifen.

Sie schwieg, atmete tief auf und erhob sich.

Ein unheimliches Gefühl überrieselte sie, als sie den Mann da vor sich stehen sah, regungslos, mit dem einen, jetzt blutunterlaufenen Auge, das ihm aus der Höhle zu treten schien. Plötzlich schwankte sein mächtiger Oberkörper, und seine Hand umkrallte prankenartig Wandas Arm.

»Warum kommen Sie heute? Erst heute? Sie bleiben jetzt hier, Miß. Bleiben hier, bis Sie mir haben die Schufte gezeigt.«

Weiße Klümpchen stauten sich in seinen Mundwinkeln, während er es ihr ins Gesicht zischte. Eine feine, durchsichtige Blässe legte sich über ihre Züge. Sie hatte das Gefühl, als läge ihr Haupt im Rachen eines wildgewordenen Tieres. Eine Bewegung – und ihr Schädel war zermalmt, ihr Antlitz zerfleischt. Sie spürte die rohe, ungebändigte Kraft einer Natur, die jeder Vergewaltigung, jedes sinnlosen Verbrechens fähig war. Aber, obwohl ihr das Herz bis in den Hals hinauf schlug, blieb sie äußerlich ruhig, und ohne es zu wissen, bekam ihr leuchtendes, blaues Auge die stählerne und zugleich mystische Gewalt einer Tierbändigerin.

»Ich habe geschrieben. Sie haben meinen Brief nicht erhalten oder nicht gelesen. Im Hotel wurde ich nicht vorgelassen. Mir blieb nichts übrig, als den heutigen Abend abzuwarten.«

»So, so ... Well ...«

Seine Hand glitt von ihrem Arm ab. Gleich darauf aber entstellte neuerliche Wut sein Gesicht.

»Oh, diese Schufte – ich weiß, ich hab' sie gesehen ... Dresseure! Ich schlage ihnen die Schädel ein. I will kill them! Kaputt sollen sie gehen – kaputt! Vor die Staatsanwalt schleppe ich sie – Sie sind Zeugin!«

Wie ein Ungeheuer, keuchend und prustend, stand er da, schlug mit den Fäusten Löcher in die stickige Luft des kleinen Raumes.

Wanda Hoheneck – blaß und schmal, einen seltsamen Ausdruck entrückter Entschlossenheit in den Augen – hielt abwehrend die schlanke Hand vor sich hin. Es war eine fast lächerliche Bewegung in diesem Augenblick. So lächerlich, daß der Mann stutzte und abrückte, wie vor etwas Übernatürlichem. Und ihre Stimme drang in der gleichen ruhigen Beherrschung abermals an sein Ohr.

»Sie werden nichts dergleichen tun, Herr Stephens. Sie werden warten, wie ich habe warten müssen. Denn es kommt nicht darauf an, den Kampf unmöglich zu machen, sondern ihn unter allen Umständen durchzuführen, sich mit O'Bry zu messen – und ihn zu besiegen.«

Verständnislos glotzte sein Auge das fremde Mädchen an, das eine so entschlossene, bestimmte Sprache führte und ihn – er fühlte es mit fast abergläubischem Schreck – ihrem Willen unterzwang. Ähnlich wie dort drüben jenseits des Ozeans ein Mann es getan hatte, ein kleiner Krüppel, ein elender Torso. Was war das mit den beiden Menschen, die einander nicht kannten, die nichts waren – kleine, jämmerliche Kreaturen im Vergleich zu ihm – und die ihn, der vor Tod und Teufel nicht zurückschreckte, ihrem Willen gefügig machten?

In seinem riesigen Schädel wälzten sich losgerissene Gedanken wie Felsenstücke. Wie ein Lallen war es von einem Betrunkenen: »Ich zahle das Geld zurück ... O'Bry wird eingesperrt ... Prozeß, aufgehängt. Wenn er nach Amerika kommt – gelyncht. Ich selbst ...«

Grauenvoll sahen seine Hände aus in ihrer krampfhaften Umklammerung des unsichtbaren Gegners.

Wanda sagte langsam, leise: »Dann wird es eben immer einen Menschen gegeben haben, den Tom King nicht besiegt hat. Aus welchem Grunde, ist gleichgültig. Das aber darf doch nicht sein, es darf nicht sein ...?!«

Er wiederholte verständnislos in gleichem Tonfall fast wie sie: »Es darf nicht sein.« Der Kragen wurde ihm zu eng. Er spürte jedes Haar einzeln an seinen Schläfen. »Der drüben sagt auch immer: Es darf nicht sein. Woher wissen Sie? Sie – hier, er dort?«

»Weil wir zu ihm gehören,« sagte sie einfach, »weil wir ihn lieben.«

Kaum hatte sie ihre eigenen Worte vernommen, so war ihr, als müßte die Decke über ihr zusammenbrechen, als müßten die wilden Tiere, deren Gebrüll von Zeit zu Zeit dumpf in die Stille des Raumes gedrungen war, laut aufheulend die Tür mit ihren Pranken einschlagen, um sich auf sie zu stürzen, als müßte der Mann da vor ihr sie hinauswerfen, daß ihr Körper auf den Steinen draußen zerschellte.

Nichts von alledem geschah. Nur ein schweres, rasselndes Atmen stand in der heißen Luft, und das grollende Brausen eines ungeheuren, tosenden Beifallsturmes mit dem abebbenden, gewehrsalvengleichen Geknatter aneinanderschlagender Hände.

Langsam zog Stephens eines der weißen Tücher, die über Ständern und Stuhllehnen hingen, herab und trocknete sein Gesicht, von dem der Schweiß unaufhaltsam herabrann. Als er das Tuch fallen ließ, lag eine tiefe Erschöpfung in seinen Zügen, und schwer rangen sich die ersten Worte von seinen Lippen.

» Well – was Sie da gesagt haben von ›lieben‹ – Ihnen möchte ich es glauben. Möchte. Nur, weil Sie anders sind wie sonst Ihr Geschlecht. Denn, was da Liebe genannt wird ... da – sehen Sie mich an, Miß, mein Auge – mein Bein –!«

Er lachte bellend auf.

»Weiberliebe! ... Ein Fluch, eine Fuchsfalle, ein erbärmlicher Betrug! Wenn ich je hätte gebetet zu einem Gott, ich hätte gebittet, daß alle Frauen hätten zusammen ein Herz, um es ihnen herauszureißen und es zu zertrampeln unter meine Sohlen! Und später habe ich gelacht über sie und hätte sie nur gern gezüchtigt wie Katzen ... Und habe meinen Sohn bewahrt vor ihnen und keine zu ihm gelassen – damit nicht ihm passiert, was mir geschehen ist.«

Er schöpfte tief Atem.

» Sie dürfen kommen, Miß.«

Sie antwortete nicht. Neigte nur kaum merklich den Kopf und glitt zur Tür hinaus in zitternder Angst, er könnte plötzlich sein »Sie dürfen kommen« zurücknehmen, aus Laune oder aufsteigendem Mißtrauen. Mühsam drückte sie sich an den Menschen vorbei, die mit vor Spannung erhitzten Gesichtern die halbdunklen, weiten Gänge füllten.

Stephens hatte sie erst führen wollen; aber dann hatte die aufgewühlte Wut ihn aufs neue gepackt, und sein Auge hielt Umschau.

Da entdeckte er die zwei australischen Tierbändiger, wie sie in Hemdärmeln, Schulter an Schulter, gleichmütig an einem der hohen Holzgerüste lehnten. Und es riß ihn in den Händen, daß er nicht anders konnte, als sie beide am Riemgurt zu fassen und in die Luft zu heben. Dort drüben hätte er nicht viel Federlesens mit ihnen gemacht, hätte ihre Köpfe aneinandergeschlagen, bis dem einen oder andern die Gehirnschale eingedrückt wäre. Hier schüttelte er die Kerls nur, mit einem leisen, teuflischen Lachen. Und ließ sie plötzlich fallen, daß sie hinplumpsten, wie reife Birnen. Und griff fast gleichzeitig nach seinem Nacken, um den sich das kalte Metall eines übergeworfenen Ringes schloß.

Die Kerls wälzten sich am Boden und zogen mit ihren Körpern die fürchterliche Schlinge eng um den mächtigen Nacken.

Blaurot wurde das Gesicht des Mannes, aber kein Laut entrang sich seiner Kehle. Als schnürte die Scham, so übertölpelt worden zu sein, seinen Hals noch enger zusammen, als der eiserne Ring es tat.

Niemand hatte den stummen Kampf bemerkt in der aufregenden Anteilnahme an den Vorgängen jenseits der niederen Zirkusbarriere. Und Stephens sah es kommen, daß die beiden behenden Australier ihn zu Fall brachten, Rache nahmen in schimpflicher Weise oder ihn den zerstampfenden Tritten der sich drängenden Menge preisgaben. Da – während er eine letzte, verzweifelte Anstrengung machte, mit seinen beiden Händen die dicken Lederstränge zu zerreißen, gellten in hellem Frauendiskant ein paar unverständliche Worte über alle Köpfe zu ihm herüber.

Die Australier schnellten empor. Der Ring um seinen Nacken lockerte sich, glitt plötzlich wie in zwei Teile geborsten an ihm herab auf den weichen Filz des Bodens. Sein Gesicht wurde jetzt fahl. Aus dem weit aufgerissenen Auge starrte er in fassungslosem Entsetzen um sich. Und dann schob sich Wanda Hoheneck zu ihm durch und faßte ihn bei der Hand, während die zwei Australier, mit abergläubischer Angst in den Zügen, dastanden – geduckt und zitternd, wie geprügelte Hunde, die auf Ausreißen sinnen. Wieder rief sie ihnen etwas zu, und sie bahnten mit ihren Armen eine Gasse für den großen Mann und seine schmale, schlanke Begleiterin.

In Tom Kings Garderobe, nahe der Tür, blieben sie stehen, stumm, fast lächerlich verängstigt durch den Gegensatz zu der betonten Wildheit ihrer Köpfe.

»Nun bin ich wiedergekommen, und eher, als Sie ahnten, Mister Stephens.«

Die mächtige Gestalt reckte sich, die Pranken griffen aus. Die Kerls waren verloren, wenn er jetzt zupackte.

»Lassen Sie das, Mister Stephens, ich werde schon fertig mit ihnen.«

Wie eine Schulreiterin sah sie aus in dem knappen, schwarzen Jackenkleid und dem schwarzen Filzhut, der nur den dichten Knoten ihres hellblonden Haares frei gab. Und etwas Verwandtes, Vertrautes schlug von ihr herüber zu dem alten Artisten. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie eine Reitpeitsche aus dem Gürtel gezogen hätte, um ihnen eins über das Gesicht zu ziehen, die da plötzlich ganz feige und armselig dastanden und nicht mal den Mut fanden, auszukneifen; wie festgenagelt von den heimatlichen Klängen, die vielleicht kein anderer mehr in ganz Europa sprach. Ihm aber, der noch nie gewußt hatte bis heute, was Furcht war, zitterten die Knie. Der Tod hatte ihn mit seiner Sense am Nacken gestreift, und ein Weib hatte ihn gerettet! Ein Weib – ihn – der nur einen kannte, der stärker wäre als er: seinen Sohn. Eine Niederlage war es für ihn.

Das Blut schoß ihm in den Schädel wie flammender Brand. Ein Tropfen, glühend heiß, rollte ihm aus dem Auge. Er wendete sich ab, und krachend zersplitterte das morsche Brett einer Kiste, auf die sein mächtiger Körper hemmungslos niederfiel.

Wanda Hoheneck aber peitschte die Kerls mit den grausamsten Worten ihres wie durch ein Wunder wiedergefundenen Wortschatzes. Mörder waren sie, von O'Bry gedungen. Sie wußte alles, hatte ihr Gespräch gehört, das sie in ihrer Sprache vor zwei Tagen geführt hatten. Sie murmelten etwas von unglücklichem Zufall. Hart schnitt sie ihren beginnenden Wortschwall ab. Zufall? Ihr machten sie nichts weis. Eine mißglückte Generalprobe – das war es. Aber, daß es nicht zur Vorstellung käme, dafür wollte sie schon sorgen. Sonst setzte es Zuchthaus hier in Europa. Ob sie wüßten, was das sei?

»Prügel ...,« war die Antwort.

»Und drüben der erste beste Strick!«

Sie warfen sich auf die Knie vor ihr, wie es die Wilden oft getan, wenn sie mit ihrem Browning einen tückischen Angriff abgewehrt hatte.

»Ihr seid jetzt in Diensten Tom Kings – verstanden?«

Sie haschten nach ihren Händen, sie schlichen um die Kiste, auf der Stephens immer noch abgewandt saß. Sie suchten Rechtfertigungen hervor in ihrem Artistenkauderwelsch. Vor Schreck darüber, plötzlich in der Luft zu zappeln, wäre einem von ihnen der verdammte Ring aus den Händen gefallen und gerade auf Mister Stephens' Kopf. Sie hätten Mühe gehabt, in dem Gedränge wieder auf die Beine zu kommen, und dabei, ohne es zu wissen, an den Riemen gezogen ... So war es. Aber O'Bry's Auftrag – nonsense. Nie hätten sie ernstlich daran gedacht, ihn auszuführen! Auf ihr Ehrenwort. Als Gentlemen. Waren ja doch alle Kameraden bei der Arbeit. Vom Tom King herunter bis zum letzten Pferdejungen!

Fabelhaft treuherzig sahen sie aus, wie sie das alles jetzt vorbrachten.

Aber Wanda Hoheneck lächelte nicht einmal. Ein verträumter Ausdruck glitt über ihr Gesicht. Und gewaltsam mußte sie Erinnerungen zurückdrängen an eine ferne, köstliche Zeit, eine Zeit, die angefüllt gewesen war mit Abenteuern und Gefahren aller Art. Vergangenheit und Gegenwart verschmolzen in diesem Augenblick zu eins, als hätte sich ein Stückchen Wildnis verfangen zwischen den buntbeklebten Wänden der stickigen Artistengarderobe. Ein ganz leiser Rausch verwischte plötzlich die harten Umrisse ihrer nüchternklaren Gedankenarbeit, und sie fühlte, fühlte seit Jahren wieder zum erstenmal – daß sie lebte.

»Einen Bleistift, Herr Stephens, ein Blatt Papier.«

Stephens antwortete nicht. Wie gelähmt schien er, niedergebeugt von etwas Übernatürlichem.

»Mein Notizbuch macht's auch.«

Es war ein abgegriffenes, altes Saffianbüchel, das Wanda Hoheneck aus ihrem Täschchen nahm; zu zwei Dritteln angefüllt mit wissenschaftlichen Formeln, mit Titeln von Broschüren, Adressen namhafter Gelehrter.

Hastig, in ihrer großen, ausgeschriebenen Schrift, warf sie einige Zeilen in englischer Sprache hin: »Wir Unterzeichneten gestehen hiermit ein, daß uns der Boxer O'Bry gedungen hat, Tom King am Abend seines Entscheidungskampfes mit ihm durch unseren Lasso die Beinmuskeln abzuschnüren, um ihn an diesem und den nächstfolgenden Abenden unfähig zu machen, den Kampf abzuhalten. Wir gestehen auch ein, Herrn Stephens mit unserem Lasso gewürgt zu haben, da wir eine vorzeitige Aufdeckung durch ihn befürchteten.«

»So ...«

Sie las den Männern das Geschriebene vor, hielt ihnen ihren Füllfederhalter hin:

» Go on – euren Namen!«

Und wiederum war es fast lächerlich, dieses rasche, feige Ducken der schwarzbärtigen Gesellen unter dem Blick der blauen Augen, unter der herrischen Gebärde der schlanken, weißen Mädchenhand. Als handelten sie unter dem gleichen Zwange, der ihre Urahnen unter das Joch der weißen Rasse gespannt – und als wäre ihre Handlung jetzt nur unbewußtes Erinnern vorzeitlichen Sklaventums.

»Mac Dunk.«

»Morris Mackillup.«

Steif, ungelenk reihten sich die Buchstaben aneinander. Dann unterschrieb sie selbst: Wanda Prinzessin Hoheneck, als Zeugin.

»Und Sie, Mister Stephens.«

Sie drückte ihm den Federhalter in die Hand.

Er unterschrieb mit drei Kreuzen und einem Schnörkel.

» That's enough

Tom Kings Vater konnte nicht schreiben! Langsam klappte sie das Büchlein zusammen.

Die Australier standen mit dem Rücken am Spiegel, und das grelle Licht der Birne zeigte das scheue Flackern ihrer Augen. Was wollte die Herrin mit dem Schriftstück machen? Sie waren doch arme Teufel. Wenn sie ins Zuchthaus kämen – was wurde aus ihren Tieren, ihrem Geschäft?

Ins Zuchthaus kämen sie nur, wenn sie den Mund nicht hielten, denn O'Bry durfte nicht ahnen, daß sie seinen Auftrag nicht ausführten.

»Und jetzt marsch!«

Sie gab sich nicht mehr die Mühe, in ihrem Slang zu sprechen. Mit dem Kopfe zeigte sie auf die Tür.

Sie schritten rücklings. Auf ihren Gesichtern lag die spitzbübische Freude derer, die Gelegenheit gefunden haben, einen Betrüger zu betrügen. Dann aber schossen sie hinaus, wie Wilde fliehen vor einem nachgesandten Pfeil.

Wanda Hoheneck lachte plötzlich auf. Und brach mitten im Lachen ab – so fremd, so unglaubhaft fast schlug ihr das eigene Lachen ans Ohr. Wann hatte sie zuletzt gelacht? ... Sie wußte es nicht mehr. War es irgendwo in Kleinasien gewesen oder in den Klüften Griechenlands? War es, als sie einen Jaguar vom Baum geschossen, mit einem giftbestrichenen Pfeil, den ein Indianer ihr geschenkt hatte? War es damals, als sie eine Nacht vor ihren Zelten gesessen, das Gewehr im Anschlag, um den vorausgesagten Überfall einer wilden Horde abzuwehren, die sich gegen Sonnenaufgang als eine friedliche Prozession bettelnder Pilger entpuppte? Oder aber war es, als ihre Arbeiten zum erstenmal Achtung gefunden und sie eingereiht worden war in die Zunft der Wissenschaftler? Nein, damals nicht. Nur ein Leuchten war da über ihr gewesen, ein Leuchten, das bald erlosch – erstickt durch ergebnisloses Forschen und fruchtloses Grübeln. Gelacht hatte sie nur inmitten von Gefahren, und jetzt hatte sie gelebt, da ein Stückchen langentbehrter Abenteurerromantik in die kärgliche Nüchternheit ihres Berliner Daseins hereingeplatzt war.

Ihre feinen, durchsichtigen Nasenflügel bebten noch, da sie die heiße Luft des kleinen Raumes einatmete, in dem etwas von dem Geruch wilder Tiere stand ...

Da wurde die Tür aufgerissen.

» Knock out! Knock out!! Ready

Ein junger beweglicher Bursche, mit Augen, aus denen der Stolz blitzte, des »Unbesiegbaren« Diener zu sein, stürmte herein. Und es strömte mit ihm zugleich ein Brausen der Luft, ein Dröhnen der Entladung – wie ein Orkan in die Stille der vier schmalen Wände.

Weit auf blieb die Tür. In Bademäntel gehüllt, mit dampfenden Leibern schritten die Letzten des Kampfes vorbei. Um sie herum eine Menge in der Maßlosigkeit delirierender Ekstasen.

Der Ausgang war Wanda abgeschnitten; sie wäre erdrückt worden in dem Strudel der brüllenden Menschenwogen, aus denen heraus leises Aufkreischen, wehleidiges Aufschreien und laute Rufe hervorbrachen.

»Nicht drängeln! ... Langsam ...«

Und über all dem Rufen, dem Schreien und Kreischen – Tom Kings Name wie eine Fanfare. Im nächsten Augenblick war die Garderobe überflutet von Zylindern, Fräcken, von großkarierten Anzügen, von Pelzen und Raglans. Abermals ein Aufkreischen – hell und durchdringend: »Doktor ... so helfen Sie mir doch!«

In giftgrüner Seide, den schwarzen Seidentüllhut verbogen, zierlich wie eine Eidechse, mit übergroßen Augen und dünnen Kinderarmen – Kari Taß. Ihre beiden Hände hielten Doktor Kürers Arm umklammert. Sie lachte wie ein boshaftes, hysterisches kleines Mädchen. »Nun bin ich da ... bin doch da! Nun wollen wir sehen!!«

Von irgendwo kam Stephens' Stimme: »Weiber raus!«

Kari Taß lachte abermals auf. »Na, wieso denn, da ist doch schon eine!«

Und sie pflanzte sich auf vor Wanda Hoheneck, mit infamem Blick, jeder Dreistigkeit fähig, da ein Männerwall stand zwischen ihr und dem hinkenden Riesen. Sie fühlte, wie Doktor Kürer ihren Arm abschüttelte, hörte seine Worte: »Wie kommen Sie hierher, Prinzessin?«

Kreischte auf.

»Prinzessin ... Gott wie vornehm! Gibt's das noch – Prinzessinnen?«

Rohes Männerlachen fiel ein in den schrillen Diskant. Prinzessinnen, die zu einem Boxer in die Garderobe gingen – das war so was! ...

»Es ist unerhört,« murmelte Doktor Kürer, »wie durften Sie –«

Wanda Hoheneck blickte über ihn hinweg. Im Türrahmen stand Tom King. Seine Arme fegten alles zur Seite.

» What's the matter

Wanda Hoheneck lief das Blut aus dem Gesicht. Sie, die eben noch mit Tod und Leben und Menschenschicksalen gespielt, stand wortlos da und suchte in einem krampfhaften Lächeln das bißchen Würde zu wahren, das ein dreistes Dirnenlachen in Fetzen gerissen hatte.

»Mister Stephens weiß –«

Aber schon hatte Tom King sie erkannt, streckte ihr die Hand aus seinem über der Brust zusammengebundenen weißen Flanellmantel entgegen.

» Oh ... well, das ist nett. Sie sind mir damals nachts im Tiergarten plötzlich von der Seite geschwunden. Ich hab's erst später gemerkt. Pfeifen und rufen konnte ich doch nicht – zu dumm war das. Ich habe den Doktor gebeten, er soll mich entschuldigen – –«

Das Lächeln lag noch immer um Wandas Mund. Kindlich, fast hilflos war es jetzt.

»Darf ich bitten, Prinzessin –«

Es war die Art einer Zeit, aus der kaum je noch ein Klang zu ihr herübergedrungen seit vielen Jahren. Es war ein Appell. Mechanisch legte sie ihre Fingerspitzen auf den Arm des jungen Arztes.

»Platz da!« schrie Stephens.

Noch immer kochte Wut in seiner Stimme.

Kari Taß schrie auf mit gespieltem Entsetzen. Sie fühlte sich sicher. »Der Olle bringt uns noch um. Den sollte man an die Kette legen ...!«

Ria Roma schwenkte von der Tür aus ihr Skizzenbuch.

»Halt, Tom King, halt! Nicht anziehen! Ich brauche Ihre Kniekehle. Schmeißen Sie doch die Leute raus. Die Skizze soll nach London – es eilt. Raus, raus, Herrschaften, wir haben zu arbeiten ...«

Sie brach ab, trat unwillkürlich ein wenig zur Seite.

»Nanu, wer ist denn die?«

Und sie sah Wanda Hoheneck nach, die schlank, aufrecht, mit mühsam erzwungener, aber sichtbar zur Schau getragener Ruhe am Arm Doktor Kürers zur Tür hinausschritt.

»Eine Bevorzugte, mit der Tom King nächtliche Tiergartenspaziergänge macht! Eine – wer's glaubt, kriegt 'n Haus in der Friedrichstraße – Pe–rinzessin ... tjawoll!«

Da warf sich Stephens mit dem Gewicht seines Körpers nach vorn über alle vorgestreckten Arme und griff aus. Ein schwarzes Tüllhütchen blieb ihm zwischen den Fingern.

Mit glucksendem Lachen wirbelte etwas Grünes zur Tür hinaus. Unsanft wurden die Zylinder, Pelze und Mützen durcheinander geschoben.

»Zum Teufel mit euch allen ... zum Geier ...!«

Ria Roma setzte sich ruhig auf die Kiste. Tom King trocknete gleichmütig seinen heißen Körper vor dem Spiegeltisch, während sein Vater die Leute hinausbugsierte.

»Svendsen könnte sich auch die Nägel kürzer schneiden,« sagte Tom King und strich mit der Hand über einen langen Kratzer am Unterarm.

Stephens hielt Schildwacht draußen im Gang vor der Tür. Bob, der junge Diener, legte die Sachen seines Herrn zusammen, tränkte den fußballgroßen Gummischwamm mit einer starken Essenz.

»Nur fünf Minuten, Tom King. Bitte wie vorhin – kurz vor dem Knock out. So ... richtig ... nur bitte das Knie mehr beugen –«

Sie strichelte ruhig, souverän – ohne eine Regung in ihrem prachtvollen, stolzen Gesicht.

Bob fuhr mit dem Schwamm über den vorgestreckten Arm seines Herrn.

»Sie, Tom King – war das eine Waschechte?«

Ein kurzes Lächeln. »Prinzessin, meinen Sie? Ich denke schon.«

»Schade.«

»Warum?«

»Die müßte als Dritte im Bunde sein, zwischen Ihnen und mir.«

»Wie meinen Sie das?«

»Halten Sie doch still ... Knie vor. So. Ja also ... Schönheit und Kraft sind gut. Fehlt aber was.«

»Nun?«

»Weisheit.«

»Hm ...«

»Die würde ich dafür nehmen. Mir kam der Gedanke schon, als ich sie im Zirkus sah. Guter Kopf. Im ersten Augenblick – ein reifes Knabengesicht. Viel Ernst in den Augen. Aber dann um den Mund – Weib. Herb wie eine saure Frucht. Wird süß vom Liegen. Ganz interessant. Wäre keine Schablone. Auch Figur. Rassig. Edelzucht. Mal was anderes. Keine langweilige präraffaelitische Jungfrau und keine schwammige Germania.«

»Sie ist Gelehrte – Chemikerin, Physikerin. Sie ist nicht wie andere Frauen.«

»Na sehen Sie ... Kreuz einziehen, bitte ... So. Moment. Gleich bin ich soweit. Also keine Vorurteile, denke ich. Versuchen Sie –«

»Akt ist doch ausgeschlossen.«

Ein sarkastisches Lächeln legte die blendenden, breiten Zähne der Bildhauerin frei. »Ausgeschlossen ist gar nichts. Sie müssen nur wollen.«

» Nonsense.« Tiefes Rot stieg in Tom Kings Schläfen.

»Meinetwegen Halbakt. Taxiere: kleine unberührte Brüste, schmaler Knabenrücken, feiner Halsansatz. Ich denke mir die Linien edel und rein, vielleicht ein bißchen asexuell, aber dennoch voll Reiz. Wo das Weib beginnt, roher Marmorblock. Symbolisch ausgedrückt: der Weisheit Schluß. So. Danke.« Sie klappte ihr Buch zu, drehte den Stift in die goldene Hülse ein, stützte das Knie auf den Handrücken, den Ellbogen auf ihr Knie. »Das wäre doch was, Tom King, wie?«

»Wenden Sie sich ab, Ria Roma ...«

Sie zuckte die Achseln. »Für mich gibt's keinen Mann.« »Aber für mich gibt's Frauen.« Grob klang seine Stimme, und ärgerlich streifte er das hingehaltene seidene Hemd über.

Ria Roma lachte kurz auf und erhob sich. »Hoffentlich.«

Sie griff nach einer Kristallflasche mit silbernem Stöpsel und goß sich vom Inhalt in die Hand. »Gut riecht das!« Sie streckte die Zunge über die Lippen, strich mit ihr über die angefeuchtete Stelle. »Ob ich's auf Zucker versuche?«

»Sie sind verrückt.«

»Verrückt ist nur der, der sich einen Genuß entgehen läßt.«

»Ich würde Sie aus Kingstown hinauspeitschen lassen.«

»Wäre auch eine Sensation. Das Leben ist so armselig.«

Er griff nach ihrem Arm. »Hören Sie ...«

»Ja ...«

»Wenn Sie nicht so schamlos wären – ich glaube, Sie wären die Frau, die ich brauchte.«

»Brauchen Sie denn überhaupt eine Frau?«

Er ließ ihren Arm los, riß Bob den dunklen Selbstbinder aus der Hand, knotete ihn mit unwirschen Bewegungen.

»Ich weiß, wie Sie's meinen, aber ich liebe keine Spitzfindigkeiten. Nicht Frau – meinetwegen –: Weib.«

»Sexus – ich kann mir denken! Ist das ein Handel, Tom King?« Ihre prachtvollen, dunklen Augen loderten ihn an.

»Kokain ist nicht meine Münze.«

»Na ja! ...« Ein nahezu wehmütiges Lächeln riß an ihren schön geschweiften Lippen. Sie nahm ihr Skizzenbuch auf und die dänischen Handschuhe, die sie darauf gelegt hatte. »Kann Ihr Diener meinen Pelz aus der Garderobe holen?«

Sie zog die Nummer aus dem Westentäschchen ihres maskulin geschnittenen Tuchkostüms.

Wieder, diesmal heller noch, stieg das Rot in Tom Kings Gesicht. »Bob hat zu tun. Ich komme selbst mit Ihnen. Sie können mein Hotelauto benützen, um nach Hause zu fahren.«

»Und Sie?«

»Ich mache mir noch Bewegung.«

»Danke, Tom King, meinen Pelz hole ich mir allein.«

»Wie Sie wünschen.«

Er stand zum Fortgehen bereit unter dem rieselnden Licht der elektrischen Birnen.

»Fenster auf!« befahl er.

Das Fenster ging auf einen schwarzen Straßendurchgang hinaus. Aber in der Ferne breitete sich der milchige Schein der Bogenlampen aus, und herein drang das dumpfe Gemurmel der sich vor den Eingängen stauenden Menge.

»Ist denn noch keine Ruhe ...?«

»Sie haben schon wieder die Elefanten hinausgeschickt. Sonst hätte kein Wagen an- und abfahren können. They are all mad

»Sieh nach, ob du Mister Stephens wo findest.«

Bob verschwand.

Tom King trat ans Fenster, atmete tief die dunkle kühle Nachtluft ein. Er dachte an nichts. Nicht an seinen Erfolg, nicht an das Rasen des Publikums. Wäre zum Fenster hinausstiegen, um ganz allein und unerkannt durch dunkle Seitengassen zu wandern. Hätte sich allein in ein kleines Café gesetzt und vielleicht – gewiß war das auch nicht – eine seiner kurzen Karten an seinen Lehrer geschrieben,, die mit zwanzig Worten Entscheidungen brachten über Menschen von Ruf und Namen, über Vermögenswerte, die in die Hundertlausende gingen.

Vielleicht sagte er ihm heute, daß er eine der schönsten Frauen, die er je gesehen, und eine der Begabtesten tödlich verletzt hatte, vielleicht sagte er, daß er neben Kraft und Schönheit auch der Weisheit einen Platz zugedacht in Kingstown. Nicht viel weniger als eine halbe Million würden die drei Figuren kosten. Oder mehr noch? Nicht in Geld, aber –?

»Hallo!«

Es war sein Vater, der ihm auf die Schulter klopfte. »Die Elefanten werden hereingetrieben und die Lichter gelöscht. Bob besorgt uns eine Droschke – darin sucht dich kein Teufel. Komm, ich habe dir was zu erzählen, my boy

* * *


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