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Graf Anton Sternfeld war für die Tragik des Lebens nicht geschaffen. Da, wo er sie spürte, wich er ihr von weitem aus. Da, wo sie wie ein Schicksal auf ihn zuschritt, duckte er sich, rollte sich zusammen wie ein Igel, oder er steckte den Kopf unter die Flügel wie Vogel Strauß.

Mit der Mama hatte er unterwegs vereinbart, er hätte gebeichtet. Sie wüßte alles, sie hätte verziehen, sie wär' ein Engel. Und der Frau des teuren Vetters wäre sie bereit, ihre mütterlichen Arme zu öffnen.

Als sie aus dem Fenster des anfahrenden Zuges die schmale und jetzt zusammengesunkene Gestalt des deutschen Vetters erblickten, seinen feinen, hageren Kopf sahen, mit dem starren Gesicht, das völlig blutlos schien, murmelte der Graf: »Das arme Mädel ... jessas, das arme Mädel!«

»Sie weiß alles – sie ist ein Engel!«

Dieser Satz war der erste, den Graf Sternfeld bei der Umarmung seinem Vetter zuflüsterte, und mit verhaltener Erregung beugte sich der Fürst über die Hand der Gräfin.

»Wo steigt ihr ab? Ihr verzeiht, daß ich euch nicht bei mir aufnehme. Aber ich bin räumlich so beschränkt ... Und dann –«

»Ja ... was denn? So red' doch, um Gottes willen?«

Ein bissel heiser war er plötzlich, der Graf Sternfeld, vor Angst, es könnte wirklich was g'schehen sein mit der Agath'. Aber nein. Es ging gut. Erstaunlich gut. Nur die Agath' sehen – das durften sie nicht. Das hätte der Arzt verboten.

Wie hatte er doch gesagt, der Doktor Kürer? Die im Delirium ausgestoßenen Rufe nach dem Vater hätten sich nicht als eine Willensäußerung erwiesen, sondern als die Auslosung eines kurz vor Ausbruch der Krankheit stattgefundenen Phantasiespiels. Und dann wörtlich: »Als Arzt bürge ich für nichts, wenn Sie der Patientin jetzt in der ersten Zeit der Rekonvaleszenz ein Wiedersehen mit ihren Angehörigen aufzwingen, das sie zu schrecken und in große Aufregung zu versetzen scheint.«

»Nein ... nein ... lieber Doktor ... nichts soll gegen Ihren Willen geschehen – nichts,« hatte er da geantwortet.

Wie sollte er das alles in Kürze und ohne sie zu verletz[[??t??]]en den Wiener Verwandten erklären?

»Ich habe euch gerufen, und nun – – es ist mir sehr peinlich, ihr könnt es mir glauben.«

Graf Sternfeld aber sah nicht aus wie einer, der enttäuscht ist. »Peinlich! Aber woher! Der Arzt ist ein ganz vernünftiger Kerl! Wo wird man einem schwachen Weiberl solche Aufregungen und Erschütterungen zumuten? Kommt da plötzlich ein fremder Papa hereing'schneit – das sind so Sachen, weißt, Erasmus.«

»Heikel,« bestätigte die Gräfin, »sehr heikel, lieber Erasmus,« und eine Zentnerlast fiel ihr vom Herzen.

»Ich hab' im Esplanad' ein Appartement b'stellt. Im Bristol war nix mehr zu haben ... Aber ich bitt' dich, Erasmus, unter uns brauchen wir doch keine G'schichten zu machen. Schaun uns eben Berlin an und rutschen dann runter zu den Kindern. Was sagst zu unserer Schwiegertochter, lieber Erasmus? Ein bisserl sehr stumperisch noch? Na, das Stumperische, weißt, is nit das Schlimmste. Aber da is so ein alter Verwandter von ihr – der Dostal. Du – ich sag' dir, das ist das größte Mistvieh, das mir in meinem ganzen Leben begegnet ist. Der bewuchert sich selbst ... bei Gott und Seligkeit!«

»Geh, Puzi ...«

Graf Sternfeld lachte begütigend. »Na ja, alsdann red'n wir nit drüber. Wär' ja auch schad', die Zeit damit zu verschandeln. Was habt's ihr denn hier Schönes zu sehen?«

Er fuhr mit seinen Handschuhen über die angelaufenen Wagenfenster und spähte neugierig und lebenshungrig auf das brodelnde Straßengetriebe. »Sapperment, sind das Zetteln! Box- und Ringkämpfe. Fünfmalhunderttausend Mark für den Sieger. Wann ist das? Übermorgen? Du, Muzi, da müssen wir hin. Bin grad' in der Stimmung. Wann's den Dostal verwalken täten, die Brüder – zehntausend Kronen leget ich für mein Teil ganz allein hin. Wär' mir ein Genuß!«

Wieder zupfte die Gräfin den Papa am Arm. Hatte er denn ganz den Kopf verloren? Merkte er denn nicht, wie stumm der Vetter Erasmus ihnen gegenübersaß?

Ganz fassungslos war Fürst Erasmus der harmlosen Fröhlichkeit seiner Wiener Verwandten gegenüber – seines Vetters vor allem, der gekommen war, um sein sterbenskrankes Kind zu sehen, und jetzt nur daran dachte, wie er sich in Berlin vergnügen konnte. Aber als er davon sprach, nach Hause zu fahren – da hielt ihn der Anton Sternfeld mit Gewalt zurück. Sie hätten doch noch so viel Wichtiges zu bereden, nit wahr? Da blieb er denn und fuhr mit hinauf in das bestellte Appartement und wurde Zeuge des fröhlichen Besitzergreifens der eleganten, in Weiß und Rot gehaltenen Zimmer.

Graf Sternfeld knipste an allen Schaltern, bis der luftige Salon in einem Meer von aprikosenfarbigem Licht ertrank.

»Ah, da schau her, Puzi, die Vase mit den Glasblumen ist ja auch eine Lampe,« jubelte die Gräfin und klatschte wie ein kleines Mädchen in die Hände.

»Du – und fesche Bildern haben's dir hing'hängt vom Reznicek.«

Wie spielende Kinder waren sie. Brachen plötzlich erschrocken ab, weil sie im goldgerahmten Spiegel unvermutet das alte, starre Gesicht des Fürsten Erasmus erblickten.

Er stand plötzlich auf, ging eilig durch das Zimmer.

»Wohin ...?«

Fürst Erasmus hatte die Tür aufgemacht. Das kalte Metall der Klinke brachte ihn zur Besinnung. Etwas wie Verlegenheit huschte über sein bleiches Gesicht. »Verzeiht ... mir ist manchmal so ... als würde mir das Zimmer zu eng, als müßte ich gehen ... Und dann dachte ich ... Wanda ... sie wollte doch herkommen.«

Die Wanda ... ja richtig! An die hatte noch keiner von ihnen gedacht. Aber die Gräfin Sternfeld fand sich gleich zurecht. Die liebe Wanda! Ja – da hatte sie schon längst fragen wollen. Wenn sie jetzt kam, dann sollte sie gleich ein Schalerl Tee mit ihnen trinken und ein bissel plauschen. Die Wanda! Du lieber Gott – wie die Zeit verging! Als einen Backfisch hatten sie's zuletzt g'sehen, und jetzt war sie eine große Gelehrte, wie der Xaver ihnen geschrieben hatte. Kein Wunder, wann man von solchen Eltern stammte! Aber doch schad', daß sie nit g'heiratet hatte. Mit den Epouseurs hatte es ja im Krieg allerdings bös ausg'schaut ... Aber jetzt gab's doch wieder Chancen.

»Weißt, Erasmus, sie müßt' uns in Wien besuchen, die Wanda ... Nur ein paar Wochen, und in ein paar Monaten kommt's dir als Millionärin zurück. Also was sagst?«

Fürst Erasmus reckte sich auf. Alles an ihm war eisige Abwehr. »Eine Prinzessin Hoheneck tauscht ihren Titel nicht gegen Geld ein. Eine Prinzessin Hoheneck befleckt nicht die ehrwürdige Tradition ihres Hauses durch eine Verbindung unter ihrem Stand.«

Graf Sternfeld räusperte sich verlegen, die Gräfin seufzte ein bißchen verletzt auf. Sie verstanden plötzlich, warum er den alten Namen so feierlich betonte. In der Chronik seines Hauses durfte es eben kein »Fräulein Stumper« geben – –

Wann er die Wahrheit wüßte über die Agath' ...

Sie hielten ihn nicht zurück, als er ihnen die Hand zum Abschied hinstreckte.

»Wenn ihr aus Lugano zurückkommt, dann sehen wir uns ... dann ist auch Agathe wieder wohlauf.«

»Ja freilich, freilich ...« Zentnerschwer fiel es ihnen vom Herzen, und ganz vergnügt wurden sie erst wieder, als er seinen Hut nahm. Nur nit rühren an der alten, bösen G'schichte. Und über Berlin brauchten sie auf der Rücktour grad auch nit zu fahren ...

Aber Fürst Erasmus hielt noch immer ihre beiden Hände fest, in krampfhaftem Druck, und um seine Lippen zuckte es, als er gedämpft sagte: »Wenn ich nicht so aus dem Krieg zurückgekommen wäre, hätte ich euch gebeten, ihr möchtet Agathe adoptieren ... ihr rechtmäßig den Namen zuerkennen, auf den sie durch ihr Blut Anspruch hat. Aber so ... wie es nun mal steht ... ist es nicht nötig. Die Hauschronik braucht nichts zu vermerken von einer zweiten Ehe des letzten Hoheneck. Ihr versteht mich – –«

Und dann war er auch schon an der Tür, und der Papa Sternfeld lief ihm nach, beflissen, verwirrt, immer denselben stummen Fluch auf den Lippen: »Himmelsakra, Himmelsakra ... Der Lift ... Erasmus ... wart', der Lift ...!«

Merkte es gar nicht, daß er selbst mit einstieg, barhäuptig wie ein Lakai. Schrak nur zusammen, als mit einem kurzen »Verzeihung« die Tür von außen zurückgehalten wurde und ein Herr eintrat, so breit, so groß, daß das schwebende Zimmer plötzlich ganz angefüllt schien von einer Masse mit menschlichen Umrissen.

»Himmelherrgott ...«

Graf Anton Sternfeld lachte ganz leise vor sich hin, richtete seine freundlichen, braunen Augen in uneingedämmtem, bewunderndem Staunen auf den jungen eleganten Riesen, erwartete in seiner Wiener Gemütlichkeit ein Antwortlächeln, um herausplatzen zu können mit einem Wort, das, wie er es augenblicklich lebhaft wünschte, eine Brücke schlüge zwischen ihm und dieser unwahrscheinlichen »Größe«.

Aber das Gesicht des Mannes blieb gleichmütig, ruhig – wie in absichtlichem Übersehen. Ein bißchen ärgerlich wendete Graf Sternfeld sich dem Fürsten Erasmus zu.

Ja, aber wie schaute denn der wieder aus? Grün war er. Und seine tiefliegenden Augen, die keinen Glanz mehr hatten, nur manchmal noch ein krankhaft phosphoreszierendes Flackern, hafteten wie gebannt mit einem Ausdruck schreckhaften Erinnerns an dem großen Mann.

Langsam, lautlos schwebte der matterleuchtete Raum mit seinen facettierten Spiegelwänden, die in ihrer Gesamtheit erst die Umrisse dieses Riesen zu einem Bilde einsammelten, aus dem zweiten Stock herunter. »Verzeihung,« sagte er nochmals und ging als erster hinaus.

»Ist das ein Kerl! Was sagst, Erasmus? Ich frag' amal gleich, wer's ist.«

»Nicht nötig. Ich weiß es. Ein Ringkämpfer ... Boxer ... ein Athlet. Wir waren mit Xaver im Wintergarten, als er auftrat. Ich habe nur einmal in meinem Leben solch einen Körper gesehen ... nur einmal ...«

Wieder breitete sich hilfloses Verlorensein auf den Zügen des Fürsten Erasmus aus. Gleich darauf schien er von einer heftigen Bewegung ergriffen, die sich in dem Zucken seiner ruckhaft vorgestreckten Hand verriet. An jenem Abend war Agathe ohnmächtig geworden. Von da ab lag sie krank ...

»Ich muß nach Hause, verzeih. Also auf eurer Rückfahrt sehen wir uns. Was hat übrigens so ein Mensch hier in dem Hotel zu tun? ... Ja, also Empfehlung deiner Frau. Ich denke, Wanda wird jeden Augenblick kommen. Gute Reise ...«

Ein eiliger, matter Händedruck, mit einem Blick, der weit weg war. Die Gestalt vornübergeneigt, die Schritte eilig, wie auf der Flucht vor etwas, so durchschritt er die Halle. Graf Sternfeld blickte noch einmal durch das vergoldete Gitterwerk des Aufzugs, drückte auf den Knopf des zweiten Stocks und gleich danach auf das Haltsignal. Denn der Athletenkerl hatte sich von einer der verbergenden Hallensäulen gelöst und lüftete plötzlich den Hut vor einer schlanken, blonden Dame mit einem Strauß Rosen im Arm.

Die Dame blieb stehen. Die Rosen fielen auf den Teppich. Der Kerl hob sie nicht einmal auf, hatte sie wohl nicht gesehen, denn sein Fuß trat auf eine der Blüten. Aber er streckte der Dame die Hand hin, und sie legte die ihre hinein, mit einer scheuen, ernsten Vertraulichkeit und doch so damenhaft – –

Graf Sternfeld, der keine Frau ansehen konnte, ohne die ganze Emballage zu taxieren, hatte gleich das Wort bereit, das Etikett: So ein feines Hascherl! Hat's am End' gar dem Kerl die Rosen gebracht?

Ganz merkwürdig vertraut mutete ihn die schlanke Frau an. Oder war's ein Mädel? ...

Sie standen beide und sprachen. Die Dame hatte einen ernsten, gesammelten Ausdruck, und doch war eine merkwürdige Erregung in ihren Zügen. Und dann bückte sich der Boxer, schien um Entschuldigung zu bitten, hob die Blumen auf. Warf die zertretene in den Papierkorb. Sie streckte die Hand aus. Graf Sternfeld war weitsichtig. Er zählte vier schöne Rosen. Die beiden gingen Seite an Seite, schritten auf die Treppe zu. Ganz zart und klein sah sie neben dem Mann aus. Und war es doch eigentlich nicht.

»Lift!« rief irgend jemand. »Was is denn los mit dem Lift, der steckt ja wo ...«

Himmelherrgott nein, so eine Spioniererei, verflixte!

Graf Sternfeld lachte vor sich hin, drückte auf einen Knopf, fuhr hinauf. Das mußte er der Mama erzählen. Die liebte so G'schichterln. Und in den Zirkus, da gingen sie hin ... Und wann die zwei Billette tausend Kronen kosteten! Sie hatten's ja ... Da hatte der Dostal, das Mistvieh, gar nix dreinzureden.

Die Mama arrangierte gerade den Tee, als er den luftigen, kleinen Salon betrat. Sie war sehr guter Laune und rückte mit Mariannens Hilfe das Tischchen und bequeme Sessel unter einen pfirsichfarbenen Lampenschirm. Sie nickte ihrem Mann freundlich und geschäftig zu. »Wir wollen recht lieb sein zur Wanda. Am End' verhelfen wir ihr doch noch zu ihrem Glück in Wien. Eine Revanch' sind wir dem Erasmus eh schuldig. Denn weißt, Puzi ... so's ganze Leben mit einem Schuldgefühl herumgehn – das is auch nix. Grad hat mir die Mariann' gesagt, das Futter von seinem Wintermantel, den er im Entree hat hängen lassen, das wär' schon ganz schlissig gewesen. War's nit so, Mariann'?«

»Halten zu Gnaden, Gräfin Erlaucht. Und im Pelzkragen haben sich auch die Motten eing'fressen ...«

»Sowie die Prinzessin Wanda kommt, läuten's nach dem Tee, Mariann',« rief die Gräfin ihr nach.

Graf und Gräfin Sternfeld setzten sich einander gegenüber.

»Hübsch schaut's ja aus hier, aber so kommod wie mein Sessel in Baden is der nit.«

»Ein kommoder Sessel würde da gar nit hineinpassen.«

»Und das Tischerl in der Mitte ist für deine große Napoleonpatience auch zu klein, Puzi, meinst nit?«

»Ja aber, wir sind doch nit in Berlin, um Patiencen zu legen! Drah'n wollen wir, gell, Muzili! Heute zeitig ins Bett, ausschlafen, und morgen – –«

Sie lachten beide, ein bißchen nachsichtig und im Innersten vergnügt, daß sie so viel »akkommodanter« waren dem Leben gegenüber als der »arme Erasmus« und das Leben ihnen auch um so vieles mehr in den Schoß geworfen. Aber dann wurden sie ein bißchen nervös, weil sie nun schon eine halbe Stunde wie die »ang'malnen Türken« dasaßen, ohne ihren gewohnten Tee.

»Ich wart' jetzt nimmer länger,« sagte die Mama ärgerlich. Da steckte aber auch schon die Mariann' den Kopf zur Tür herein.

»Die Prinzessin Durchlaucht is grad' aus dem Lift g'stiegen.«

Graf Sternfeld rückte seine Weste zurecht, die Krawatte. Die Bewegung war ihm zur zweiten Natur geworden, wenn er einer Dame gegenübertrat. Und weil es seine einzige Nichte war zugleich, fühlte er sich zu einer breiten, gemütlichen Herzlichkeit geradezu verpflichtet. »Meine liebe, liebe Wanda ...«

Er sagte es noch her, als auf das »Herein!« der Gräfin die Tür sich vollends aufgetan hatte. Aber als dann im Türrahmen die schlanke, schmale junge Dame aus der Halle stand, mit den Rosen in der Hand ... da verschlug es ihm die Rede, und seine Arme fielen ihm herab, als hätte sie ihm jemand mit einem Holzhieb abgeschlagen.

Die Gräfin drückte Wanda mit einem großen Aufwand mütterlicher Zärtlichkeit an ihre Brust, schnupperte gleich darauf an den Rosen.

»Geh, Wanderl, was machst für G'schichten?«

Graf Sternfelds Augen aber wurden ganz starr, fast wie die des Fürsten Erasmus. Denn er zählte nur mehr drei Rosen statt vier ...

Draußen aber vor dem Windfang stand ein alter bebrillter Herr, geisterhaft bleich unter dem Licht der gerade aufflammenden Bogenlampe. Stand und starrte durch die Glasscheiben der beweglichen Tür in die Halle hinein, mit ihren gedeckten Teetischen, an denen in roten, tiefen Klubsesseln Frauen saßen in Toiletten, deren schlottrige Eleganz die letzte Mode des Tages noch unterstrich, Frauen, deren Gesichter zwischen den tiefsitzenden Krempen ihrer Hüte und der zu den Lippen geführten Tasse kaum noch sichtbar waren.

Immer mehr Kraftwagen nahmen die Kurve zur Auffahrt, immer rascher drehten sich die Flügel des Windfangs, immer lebhafter wurde es in der Halle. Junge, elegante Bürschlein tauchten hinter den roten Lederlehnen auf, bissen in die Sandwiches hinein, die ihnen lachend über die Schultern von beringten Händen zwischen die Lippen geschoben wurden wie verwöhnten Schoßhündchen. Männer, untersetzt, breitschultrig, stampften über den Teppich mit vorgeschobener Unterlippe, protzige Nichtachtung der Emporkömmlinge in jeder Bewegung für alles, was außerhalb ihrer brutal zur Schau getragenen Betriebsamkeit stehen mochte.

»Wat guckt denn der Olle immer 'rin?« fragte einer von ihnen und klopfte seine Zigarette auf die goldene Platte seines Zigarettenetuis ab, während er sich vom Portier Feuer geben ließ.

»Viele von unseren früheren Gästen sehen jetzt mal im Vorbeigehen herein, und die sich früher die Nasen platt gedrückt haben an den Fensterscheiben, sitzen drinnen – das bringt so die Zeit mit sich.«

Höflich hielt der Portier das Streichholz, und es war gut, daß in dem Gewölk des ihm grad ins Gesicht geblasenen Zigarettenrauches sich der Ausdruck seines Lächelns verlor.

Fürst Erasmus aber schlug nachdenklich den Heimweg ein. Er mußte seine Augen untersuchen lassen. Die Brille taugte nichts mehr.

Nicht ein einziges von früher her bekanntes Gesicht hatte er in der Halle gesehen – nicht ein einziges. Und dann hatte er gemeint, Wanda – –

Unsinn. Der Boxer und Wanda ...! Die letzten Wochen mit der Angst um Agathens Leben und dem Ansturm alter Erinnerungen ... seine Nerven waren herunter. Er mußte etwas für sich tun, mußte sich Bewegung machen ... Wie schön war es doch gewesen, über den weißen Schnee zu wandern, Stunden, Tage, Wochen. Ach, was wußten die Menschen von dem Frieden, der von weißen, unberührten Gefilden aufstieg und seine Seele erfüllt hatte? Was wußten sie von der Wohltat eisiger Kälte, die alle glühenden Male der Vergangenheit löschte und die heiße, verzehrende Sehnsucht nach einem jungen Weibe zur Ruhe brachte? Was von der Gnade des Vergessens – der Loslösung von sich selbst?

Schwer und breiig tropfte vereister Regen auf ihn herab, zwang ihn zu rascherem Gehen. Vorübersausende Wagen bespritzten ihn mit gelbem Schlamm. Drüben lag der Tiergarten. Milchig schimmerten schneeige Wege durch die kahlen Baumstämme. Und ohne bewußtes Wollen überquerte er den Damm, magnetisch angezogen von der Unberührtheit des weißen Bodens – –

* * *


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