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Die junge Gräfin Sternfeld hätte es nicht für möglich gehalten, daß das Leben so fad sein könnt'. »Zum Auswachsen,« wie sie zehnmal am Tag wiederholte. »Da hat's ja beim Leichenhemdnähen mehr Hetz' g'habt,« versicherte sie ihrem Mann.
Aber der hatte auch das Lachen verlernt in den letzten Wochen. Weder das schwelgerische Essen im Du Parc, noch die böhmische Köchin im Chalet hatten seinen Knochen das erhoffte Mark, seinen Nerven die ersehnte Widerstandskraft gegeben. Er mußte sich gestehen, daß er wie so ein Bummerl neben der prächtig aufblühenden und immer selbstsicherer werdenden Steffi einherpendelte, daß er eine traurige und höchst überflüssige Figur in dem stetig wechselnden Bild ihrer Umgebung bildete.
Und diese Umgebung gefiel ihm wenig. Nicht darum, weil sich Steffi den Hof machen und zum Five o'clock bei Huguenin ihre hellen Rehledernen von einem halben Dutzend Männerlippen »abschlecken« ließ. Nicht – weil sie plötzlich Ausflüge verabredete, ohne ihn auch nur zu fragen, und ihm einfach erklärte: »Du, Xaverl, heut' woll'n wir in Luzern im National nachtmahlen –« und sich dann zu der treu begleitenden, ständigen Garde plötzlich noch ein paar befrackte Herren hinzufanden. Nicht einmal, weil sie immer zerstreuter wurde, wenn er vergeblich Antwort erwartete auf seine jetzt recht seltenen ehelichen Zärtlichkeiten. Sondern weil die Steffi plötzlich etwas so merkwürdig Geschäftiges an sich hatte und Geheimnistuerisches, hinter dessen Ursache er noch immer nicht kommen konnte. Die Damen, mit denen sie, wenn auch oberflächlich, verkehrte, gefielen ihm noch weniger als die Herren. Einige von ihnen hatten Titel und schönen, modern gefaßten Schmuck. Nur die Ehemänner sah man nicht. Die waren immer unterwegs. Und wenn sie eintrafen, wurden die Damen unsichtbar.
Xaver wußte auch oft nicht, warum Steffi guter, warum sie schlechter Laune war.
Manchmal gab sie ihm Weisungen: »Bitt' dich, Xaverl, sei recht lieb mit dem Marchese della Sarte,« oder letzthin: »Du Xaverl, lauf' der Baronin Tutzer ihren Griffon ab für mich. Aber Handel' nit – ja? Biet ihr selbst den Preis.«
Und sie nannte ihm eine Summe, die in gar keinem Verhältnis stand.
»Das ist ja Wahnsinn, Steffi ... Man wirft das Geld doch nit so zum Fenster 'naus.«
Sie konnte ihn bei solchem Widerspruch bitterbös anblitzen. »Ich weiß selber, was ich mit meinem Gerschtel anstellen darf oder nit ...«
Und gehorsam kaufte er der Baronin den alten Griffon, mit dem Star auf dem linken Auge und fehlenden Vorderzähnen, für dreitausend Franken ab. Drei Tage darauf fand er ihn auf einem Polsterstuhl zusammengerollt in einem kleinen Antiquitätengeschäft der Via Nassa. Steffi hatte ihn gegen eine alte Brosche umgetauscht, auf die sie ganz versessen war, wie sie sagte. Und nach weiteren zwei Tagen lud die Baronin den Grafen und die Gräfin Sternfeld zu einem Diner nach Bern ein.
Xaver Sternfeld erklärte, er dächte nicht daran, zu fahren. Und es schien ihm selbstverständlich, daß Steffi der alten Wurzen abschrieb. Steffi aber dachte nicht daran. Und bis zum letzten Augenblick war jedes von ihnen überzeugt, daß der andere nachgeben würde.
So fuhr denn Steffi nach Bern. Sie machte nicht mal die erwartete Szene. Sie sagte beinahe freundlich: »Bist ein rechter Tschap, Xaverl ... aber meinethalben kannst schimmeln in Lugano, wann'st durchaus willst. Mein Stumperl kommt ja nach Bern, da bin ich eh chaperonniert.«
»Dein Vater? Was hat denn dein Vater in Bern zu suchen?« Nun war er es, der außer sich geriet. Sie wäre eine junge Frau, eine Gräfin Sternfeld. Es gehörte sich einfach nicht, daß sie allein in Bern herumliefe und Einladungen annähme.
»Aber ja, Bubi, weiß schon.«
Sie antwortete nicht. Da ließ er es laufen und tat sich was zugute drauf, daß er doch nicht mitfuhr. Wär' ja nur ein elendiges Nachgeben gewesen!
So gut hatte ihm das Chalet nie gefallen wie jetzt, da er es allein bewohnte. Er machte Ausflüge, die Steffi nicht ausstehen konnte, ruderte über Mittag auf dem See, fühlte, wie seine Brust sich weitete, seine Lebensfreude wieder erwachte. Merkte es gar nicht, daß aus den drei von Steffi angekündigten Berner Tagen acht geworden waren, und erschrak, als am neunten ein Telegramm eintraf, das wohl ihre Ankunft ankündigte. Aber sie telegraphierte: »Vater ladet mich nach Italien ein. Fahren Genua–Mailand. Von dort Brief. Pussis. Affi.«
Da erschrak er noch mehr.
Affi ...! Wie lange hatte er sie nicht so genannt. Daß sie das Kosewort ihrer Flitterwochenzeit heraussuchte, bedrückte ihn fast. – –
Es war ein regnerischer Spätmorgen mit schwerem Föhn. Die ganze Nacht über hatte es vom Himmel geschüttet.
Mißmutig schritt Xaver Sternfeld in den zwei unteren Chaletzimmern auf und ab. Die Bewegung fehlte ihm, an die er sich gewöhnt hatte. Er betrachtete seine Hände – und die Schwielen vom Rudern machten ihm Spaß. Wenn Steffi zurückkam, wollte er mit ihr den Kauf eines Segelbootes besprechen. Oder ...?
Er zog seine Brieftasche heraus, zählte seine Geldscheine. Achthundert Franken ... das war zum Krenreiben. Er mußte sich wirklich mal ernsthaft mit Steffi auseinandersetzen. Sie hatte ihm allerdings noch nie einen Wunsch versagt, aber –
Himmelherrgott – war er denn ein dummer Bub? Wann sie Wünsche hatte, dann fragte sie keinen. Sagte ihm nit amal: Du, ich brauch' das, oder ich möchte dies. Kaufte sich einfach die Brillanten, die ihr gefielen. Pelze ... Ja, sogar das Chalet hatte sie gekauft, ohne daß er vorher was g'wußt hätt'. Das nannte sie dann: ihn überraschen. Eine andere Überraschung bereitete sie ihm, als sie ihm während eines Tango-Tees im Palace ganz nebensächlich erzählte, daß die Wiener Cottagevilla, die ihm so gut g'fallen hätte, und auf die er sich freute, verkauft wär'. Da hatte er doch Specktakel machen wollen, aber war dann von der Steffi so komisch ang'schaut worden, so ...
Nein, an den Blick mochte er nicht zurückdenken. Seine Brieftasche allerdings, die war niemals leer. Aber mehr war auch nie darin, als grad nötig war für die laufenden Ausgaben von etwa einer Woche.
Steffi kokettierte sogar damit, daß sie nie über hundert Franken in ihrem Geldbeutel hatte. Von dem Scheckbuch sprach sie nicht, das bei ihrem Schmuck lag.
Immer rastloser lief er auf und ab, schlug mit der Handfläche manchmal gegen die Wand, als würden ihm die Mauern seines Hauses zu eng. Vielleicht war es doch nicht gut, daß sie ihn so lange allein ließ. Ein Paar langbewimperter, hellbrauner Augen sah ihn plötzlich todtraurig aus irgendeiner Ecke an – ein süßes, feines Profil neigte sich über eine Brüstung – eine weiße Gestalt stand vor ihm im dunklen Fensterrahmen, das gelöste Haar wie einen Mantel um die zarten Schultern – und wieder wie damals rang es sich ihm von den Lippen: Ein Schweinkerl warst, Xaver, – ein infamer Lauskerl ...
Wie so ein Mädchenhändler war er gewesen. Ob er nun eines verkauft hatte oder zehn oder zwanzig. Nicht Steffi – die Agathe – die verschaffte ihm sein Wohlleben. Sein Chalet, seinen Diener, seinen satten Magen. Der Steffi – der zahlte er ja schließlich ab, was er von ihr nahm. Zahlte es mit seinem Namen, mit jedem Kuß ... Aber die Agath'? Der Ekel würgte ihn. An den erstbesten starken Ast g'hörte so einer wie er.
Jetzt aber hinaus an die Luft, in den Wind hinaus, sonst probierte er noch, ob nicht das Fensterkreuz des Chalets gut genug für so einen wie er war. Der schrille, feine Glockenton der Gartenpforte brachte ihn zur Besinnung. Gleich darauf trat sein Diener ins Zimmer mit einer Visitenkarte auf dem silbernen Tablett, das in prunkhaftem Relief die Grafenkrone zeigte.
»Der Herr Marchese lassen fragen ...«
Marchese della Sarte? Was wollte der bei ihm? Wie ein kalter Wassersturz wirkte der Name auf seine erregten Nerven. Er hatte nie ernst bleiben können, wenn die Rede auf den geckenhaften, quirligen Italiener kam, dessen Großvater noch das ehrsame Schneiderhandwerk betrieben, und dessen Vater sich durch päpstliche Nobilitierung einen Marchesentitel erhandelt hatte.
»Ich lasse bitten,« sagte Xaver Sternfeld und mußte jetzt lächeln bei dem Gedanken, daß das Marchesenschneiderlein vielleicht nur gekommen war, um – in Abwesenheit der Contessa einen kleinen Pump bei ihm anzulegen. Er wollte es dem armen Hascher nicht schwer machen, denn viel Unterschied mochte nicht sein zwischen so einem Marchese und dem kleinen verschuldeten Leutnant, der er selbst einmal war ...
» Scusi ...« Da stand er auch schon vor ihm. Im Mantel, den Hut in der Hand, die eleganten Stiefel voll Straßenkot; sein sonst kühn aufgedrehtes Schnurrbärtchen fiel wie ein trauriges Bürstchen über seine Oberlippe, gab ihm ein ganz verändertes Aussehen.
»Womit kann ich Ihnen dienlich sein, Herr Marchese? Ein Glaserl Sherry? Eine Zigarette –?«
»Nein, nix ... bitte nix, signor conte.«
Jetzt bemerkte Xaver Sternfeld auch, wie blaß der kleine Herr war. »Ja ... aber setzen müssen's Ihna doch ... Machen Sie sich's kommod, Herr Marchese, nachher plauscht sich's noch einmal so leicht.«
Aber der Marchese wehrte ab. Stand da, den weichen Filz gegen die Brust gedrückt, mit zuckenden blauen Lippen. Dem Xaver fiel ein, daß der Marchese des öfteren Bakkarat spielte. Der sah jetzt grad' aus wie einer, den der Teufel am Genick hielt. Ein bißchen kleinlaut murmelte er: »Herr Marchese ... wann's Unglück g'habt haben beim Jeu – fünf- bis siebenhundert Frankerln hätt' ich grad' disponibel.«
Wieder wehrte der Marchese ab. Und obwohl es schien, als wäre alles an ihm fliegende, atemlose Hast, kam es doch gepreßt, zögernd von seinen Lippen:
»Die Contessa ist noch in Italien, nicht wahr?«
»Ganz recht ... wir sind ganz ungeniert ...«
Jetzt fiel der kleine Herr ohne Aufforderung auf den nächsten Sessel, beschattete einen Augenblick seine Augen mit der Hand. » Dio ... Dio!«
Das ging dem Xaver Sternfeld über den Spaß. Kam der Marchese am End', sich bei ihm auszuweinen, weil Steffi eine Reise machte?
»Also bitte ... explizieren Sie sich, Herr Marchese ... was hat die Reise meiner Frau mit Ihrer Verstörtheit zu schaffen?«
»Verstörtheit? ... non capisco.«
Er hätte aber auch nicht verstanden, wenn Xaver im schönsten Italienisch gesprochen hätte. Das fühlte der Xaver Sternfeld, weil er Ähnliches ebenfalls von früher her kannte. Und wieder siegte die Gutmütigkeit.
Er unterdrückte rasch ein Lächeln. »Na, alsdann, Herr Marchese ... jetzt reden's aber. Soll ich meiner Frau was ausrichten?« Und freundlich rückte er seinen Stuhl näher zum Marchese heran.
Abermals schüttelte der Marchese den Kopf. »Nein. Nichts ausrichten. Nur Briefe zurückgeben, den ...«
Xaver Sternfeld rückte plötzlich von ihm ab, und sein hübsches, freundliches Gesicht bekam einen merkwürdig verschlossenen Ausdruck.
»Briefe? Von wem, wenn ich bitten darf?«
»Von mir ...«
»Briefe an meine Frau?«
Jetzt standen beide Herren. Della Sarte nagte an seiner Unterlippe. »Ich gebe Ihnen mein Wort, als Edelmann ...«
Xaver Sternfeld lachte ihm plötzlich ins Gesicht.
»Als Mann,« korrigierte della Sarte fast demütig.
»Sparen's Ihre Ehrenwörter, Herr Marchese. Vielleicht haben Sie zu gelegenerer Zeit noch Verwendung dafür.«
» Non capisco ...«
Das war bequem. Wenn der Kerl nicht verstehen wollte, dann sagte er: » Non capisco.«
»Ich kann kein Italienisch, Sie Herr ... Mit meiner Frau haben's auch nicht Italienisch gesprochen.«
Xaver Sternfeld griff plötzlich nach dem Reitstock, der quer über seinem Schreibtisch lag. Da sah er, wie das Gesicht des kleinen Mannes grau wurde, wie seine sonst lebhaften Augen den Ausdruck eines gequälten Tieres bekämen. »Ich habe keine Waffe bei mir,« sagte er leise.
Der Reitstock flog in die Ecke.
»Ein andermal, Herr Marchese. Für so was braucht man Zeugen.« Auch Xaver Sternfeld war jetzt leichenblaß.
»Ich glaube, wir haben einander nix mehr zu sagen, bitte –«
Und er machte weit die Tür auf vor dem Italiener.
Della Sarte ging nicht. Er umklammerte die Lehne eines Stuhles und sagte tonlos:
»Bitte, Graf, machen Sie die Tür wieder zu. Ich gehe hier nicht fort, als bis Sie mir versprochen haben, meine Briefe an die Gräfin herauszugeben. Es sind keine Liebesbriefe. Ich bin verheiratet. Ich habe zwei Kinder. Ich lebe für meine Familie – nur für meine Familie. Meine Frau ist schön. Sie verbraucht viel Geld. Ich war immer schwach, Herr Graf, meiner Frau gegenüber. Sie verlangte von mir, daß ich Geschäfte mache, wie alle ihre Bekannten, die reich geworden sind während und nach dem Kriege ... Und ich hatte Glück. Aber es waren doch nur kleine Geschäfte – mit kleinem Resultat. Tips von einem großen Finanzmann, die ich ausnützte, gelegentliche Beteiligungen an Lieferungen. Die Millionen, auf die meine Frau rechnete, die kamen nicht. Aber ich war in den Kreis von Geschäftsleuten aufgenommen, in dem es vielleicht einmal zum großen Coup kommen konnte. Zwei Bekannte beredeten mich, nach Lugano zu fahren. Es wäre dort eine Gräfin Sternfeld, deren Vater einer der größten Exporteure und Importeure Österreichs sei. Die Dame selbst wäre ...«
»Alsdann – weiter,« drängte Xaver Sternfeld, »weiter.«
»Nichts Ehrenrühriges, signor conte – es hieß: liebenswürdig und zugänglich. Und hieß weiter, man könnte durch sie mancherlei erfahren und fabelhafte Abschlüsse machen, wenn sie ihren Vater interessierte. So kam ich nach Lugano. Gleich in den ersten Tagen vermittelte die Baronin Tutzer die Bekanntschaft. Ich hatte mit meiner Frau eine Geheimschrift verabredet für den Fall. Etwas ganz Harmloses, so daß wir uns sogar auf offenen Karten und Telegrammen alles Geschäftliche mitteilen konnten. Die Gräfin war viel geschäftsklüger als ich, als wir alle. Sie hat uns sehr lange zappeln lassen ... sehr lange. Dann kam sie mir mit einem Angebot. Welchem, ist ja gleichgültig. Ich und zwei andere Herren – im ganzen waren wir vier – konnten uns in drei Millionen Lire teilen, wenn das Geschäft gelang. Aber ich zweifelte. Denn die Ausfuhrbewilligung war meiner Ansicht nach, und wie ich auch meiner Frau schrieb, nicht zu erreichen. Wir versuchten alles vergebens. Eines Tages aber, nach vielen Verhandlungen, schrieb meine Frau, die Sache wäre in Ordnung, und einer der Herren käme nach Bern, um der Baronin Tutzer die unterschriebene Bewilligung einzuhändigen, die die Gräfin verlangt hatte.«
»Ja ...,« sagte Xaver Sternfeld und setzte sich, ohne es zu merken.
Der Marchese fuhr sich mit der Hand über die Oberlippe. Auf seinen hageren Wangen brannten zwei kreisrote Flecke.
»Um diese Bewilligung drehen sich die Briefe, von denen ich Ihnen sprach, Herr Graf ... Ich nannte in diesen Briefen immer wieder meine Frau ...«
»Und die Bewilligung, was ist mit der Bewilligung?« Es war Xaver Sternfeld, als schnitte jemand ganz langsam an seinem Halse herum.
»Die Bewilligung übergab die Baronin bei dem Diner in Bern Ihrem Schwiegervater.«
Xaver Sternfeld blickte nicht auf. Wie in siedendes Wasser war er getaucht. »Nun ja ... der Vater meiner Frau ist Geschäftsmann ... was weiter?«
»Ich habe den Verdacht, Herr Graf ... den Verdacht, daß die Bewilligung –«
Graf Xaver Sternfeld schnellte aus seiner sitzenden Stellung auf. »Was ist mit der? So reden's doch ...«
Er fragte nicht ein zweites Mal. Der Mann mit dem leichenblassen Gesicht und den roten Flecken hatte etwas, was ihn erschütterte.
»Wann kam Ihnen der Verdacht?«
»Als der Vater der Gräfin das Papier in Empfang nahm, schüttelte er erst den Kopf. Dann sah er mich eigentümlich von der Seite an. Darauf lächelte er und zeigte die Unterschrift seiner Tochter. Die Gräfin zuckte die Achseln. Dann sprachen sie leise zusammen, und Signor Stumper legte das Blatt in seine Brieftasche. Da kam mir ... nein, Verdacht ist zu viel... ein Angstgefühl, so will ich sagen.«
»Als ich mich am nächsten Vormittag bei der Gräfin im Hotel meldete.«
»Was sagte sie?«
»Ich habe sie nicht gesprochen. Sie war mit ihrem Vater mit dem ersten Zug nach Genua gefahren.«
Xaver Sternfeld atmete auf.
»Das wäre also am Tage nach dem Diner bei der Baronin Tutzer gewesen?«
»Allerdings.«
»Da kann ich Sie beruhigen. Sie hat sich einfach verleugnen lassen. Meine Frau ist erst eine Woche nach dem Diner abgereist. Ich kann Ihnen ja die Depesche zeigen –«
Der Marchese hatte ein verzweifeltes Lächeln.
»Das Telegramm wird von der Baronin Tutzer aufgegeben worden sein.«
»So ...«
»Übrigens war noch die Camerista der Gräfin in Bern und beauftragt, mit dem Koffer nach Genua nachzukommen. Ich war auf der Bahn. Ich gab ihr hundert Franken: sie sollte mir nur sagen, ob sie wüßte, daß ich der Gräfin öfters geschrieben hätte. Sie dachte gewiß – Verzeihung, Herr Graf – es handle sich um Briefe anderen Inhalts. Sie lächelte und sagte: ja. Ich fragte weiter, ob sie glaubte, daß die Gräfin meine Briefe verwahrt hätte und wo. Sie lächelte wieder und sagte: ja. Sie lägen in der Schmuckkassette. Die Kassette hätte ein Kunstschloß und stünde im Schlafzimmerschrank unter Wäsche und Spitzen verborgen. Beide Schlüssel hätte die Gräfin bei sich. Ich gab ihr noch hundert Lire und nahm ihr das Versprechen ab, über die Unterhaltung zu schweigen. Als ich nach der Adresse der Gräfin fragte, könnte sie mir keine Auskunft geben. Die Gräfin wollte sie von der Bahn abholen. Dann ging der Zug ab.«
Xaver Sternfeld preßte beide Hände gegen die Brust. Mit schwerer Zunge murmelte er: »Angst ... Verdacht ... das alles ist doch nur Vermutung ... nicht Gewißheit.«
Gänzlich ausdruckslos kam es nun von den Lippen des Marchese: »Gewißheit. Auch. Gestern bekam ich eine Depesche von meiner Frau. Sie beschwört mich, das Papier, das sie mir schickte, zu vernichten. Heute morgen ein Expreßbrief. Sie hat offenbar Angst bekommen. Angst vor Entdeckung. Der Brief ist in großer Aufregung geschrieben, ziemlich konfus, nach einem Besuch, den ... die Gräfin Sternfeld ihr gemacht hat. Ich wollte erst sofort nach Hause reisen, aber – wenn irgendein Verdacht bei den Behörden vorliegt, dann wird nachgeforscht. Auch bei der Gräfin. Und wenn dann meine Briefe gefunden werden, in denen ich von meiner Frau sprach und gewissen einflußreichen Personen, bei denen sie verkehrte, und bei denen sie in unserem Interesse tätig war ... wenn ...«
Die Stimme des kleinen Marchese brach ab, und plötzlich schrie er wie ein vom Wahnsinn Gepackter: »Geben Sie mir meine Briefe zurück ... Herr Graf ... die Briefe ...
»Ja ...,« sagte Xaver Sternfeld und taumelte durchs Zimmer. Dann blieb er stehen. Es war ihm, als schlüge jemand mit einem Hammer auf seinem Schädel herum, als müsse ihm das Blut aus den Augen spritzen. Er sagte: »Das Schloß vom Schranke kriegt' ich am End' auf. Das Kassettenschloß aber kann ich nicht aufbrechen. Da müßt' schon ein Schlosser kommen.«
»Dann vergraben ...«
»Vergraben ... ja.«
Die zwei Männer, die zu lallenden Kindern geworden waren in ihrer Not – hielten sich plötzlich bei den Händen, ohne es auch nur zu wissen, als erwarte einer vom anderen einen Ausweg.
Und plötzlich, unvermittelt, schleuderte Xaver Sternfeld die Hand, die ihn umklammerte, von sich, zischte in kaum artikulierten Lauten: »Ja ... wie können's denn wagen, Sie, ... auch nur anzunehmen, daß meine Frau, daß eine Gräfin Sternfeld mit einem g'fälschten Papier Geschäfte macht? Ja, wissen's denn nicht, wer wir sind? Ja, glauben Sie, daß wir uns unseren Namen gekauft haben wie Sie? Wann Sie oder Ihre sauberen Herren g'fälscht und betrogen haben – dann g'hören Sie ins Zuchthaus, Herr Marchese – und nit unter anständige Leut'! Und wann Ihre Frau jetzt Angst hat, dann g'schieht ihr schon recht und ist die geringste Strafe.«
Er sprach zu schnell, zu sehr wienerisch. Der Marchese della Sarte verstand das wenigste, nur am Ausdruck der sonst so freundlichen, braunen Augen des österreichischen Grafen merkte er, daß es Furchtbares sein mußte, was ihm da ins Gesicht geschleudert wurde.
Er stammelte: »Sie glauben doch nicht, daß die Gräfin meine Frau anzeigt ... daß sie darum ... so schnell abgereist ist, mit ... Ihrem Schwiegervater?«
Xaver Sternfeld nickte wie geistesabwesend. »Doch... ganz gewiß ... das glaub' ich ... da bin ich überzeugt.«
Er stand jetzt regungslos – als wäre er versteinert. Und merkte es nicht, daß der Marchese aus dem Zimmer stürzte, mit offenem Mantel, ohne Hut. Und wußte es nicht, daß der kleine Mann jetzt lief ... lief, als müßte er ohne anzuhalten und schneller noch als der Expreß von hier nach Genua laufen, und als könnte er damit der geliebten Frau Rettung bringen – – –
Den ganzen Nachmittag brachte Xaver Sternfeld auf dem Postamt zu. Telephonierte die ersten Hotels von Mailand, Genua, Rom und Neapel an. Und da er keine Auskunft über den Aufenthalt eines Signor Stumper aus Vienna erhalten konnte, wiederholte er die Rundfrage, indem er sich nach der Contessa Sternfeld erkundigte. Das Resultat blieb das gleiche.
Als er das Postamt verließ, war es sieben Uhr abends. Er merkte erst jetzt, daß er den ganzen Tag nichts genossen hatte. Die schlechte Luft, die er in den engen Telephonzellen und beim Warten in der überfüllten Halle eingeatmet hatte, verursachte ihm einen lähmenden Schwindel. Es war ihm ganz unmöglich, bis zum Chalet zu kommen. Auch empfand er eine nicht zu überwindende Furcht, die hübschen, engen Zimmer wiederzusehen, in denen sich die Szene dieses Morgens abgespielt hatte.
Eine weiche, drückende Lust legte sich ihm um die Stirn. Vom See herauf stiegen die Nebel. Wie durch einen Schleier blinzelten die gelben Lichter der Berge, die schmalen Lichtseiten der zwei Anlegebrücken. Essen ... Schlafen ... Die Trostlosigkeit der letzten quälenden Stunden in einem Meer von Licht ersticken – sich selbst verlieren in dem Gewoge fremder Menschen ... Und wie ein Gaul, der schon schlafend auf seinen Stall zutrottet, so fand er, ohne bewußte Absicht, den Weg ins Du Parc.
Der Portier mochte ins Chalet hinauftelephonieren, daß der Diener ihm gleich einen größeren Handkoffer herunterbrächte, mit Wäsche und Anzügen für ein paar Tage. »Das alte Appartement, Herr Graf? Es ist gerade frei geworden.«
»Nein ... nein ... irgendein Zimmer ... irgendeines. Ich bin allein.« Aber es war alles besetzt. Und so fand er sich in dem Zimmer wieder, das er schon einmal drei Wochen bewohnt hatte, und das nur durch den Baderaum von Steffis Zimmer getrennt war.
»Frau Gräfin wohlauf?«
»Ja ... danke.«
Xaver Sternfeld warf sich auf des Ruhebett. Erschöpft, zerschlagen. War es denn menschenmöglich – er wußte nicht, wo seine Frau war! Jetzt erst fiel es ihm auf, daß sie ihm nie eine Adresse angegeben, und daß er nie das Bedürfnis empfunden, ihr zu schreiben ... Warum hatte er den kleinen Marchese so angebrüllt? Welches Recht hatte er dazu? Er, der ihm nicht mal sagen konnte, wo die Frau sich befand, die eine Gräfin Sternfeld war ...
Plötzlich fuhr er auf. An der Tür stand sein Diener mit dem Handkoffer. Ach so ... ja richtig.
»Einräumen.« Wieder fielen ihm die Lider herab. Und dann schüttelte er gewaltsam den Schlaf ab.
»Befehlen der Herr Graf, daß ich herunten bleib'?«
»Nein. Bringen's mir nur die Korrespondenz, wann was kommt ...
»Einen Brief für den Herrn Grafen hab' ich daher g'legt.«
Das Blut wirbelte dem Xaver Sternfeld zu Kopf. »Is recht. Alsdann morgen.«
Der Diener ging. Xaver Sternfeld spürte, wie ihm das Herz gegen die Brust schlug. Wann die Steffi ihm jetzt ihre Adresse schrieb – noch heute nacht reiste er ab, ihr nach. So ging das nicht weiter ... er mußte wissen ... wissen ...
Aber der Brief sank ihm aus der Hand. Er erkannte die Schrift der Mama. Es fiel ihm nicht auf, daß der Poststempel Berlin zeigte, und daß es deutsche Marken waren, die in der rechten Ecke wie immer ein bissel windschief aufgeklebt waren. Die gute, liebe Mama ...
Unter acht Seiten machte sie es nie. Und es kamen immer die gleichen Ermahnungen und Klagen über den Dostal und Seufzer, die der Steffi galten, und Fragen nach dem »Enkerl« und Bitten, doch ja recht bald zurückzukommen und allerlei, was er jetzt in seiner Verfassung nicht über sich brachte zu lesen.
Er warf den uneröffneten Brief in die Betttischlade und kleidete sich rasch um. Das Hungergefühl war unerträglich geworden.
Nach dem ersten Glas des starken Weines, den er bestellte, schlug er sich vor die Stirn. Esel, der er war ... An die Tutzer mußte er telephonieren, nach Bern ... Die wohnte immer im Bellevue. Die wußte gewiß. Und wenn es ihr auch komisch Vorkommen mochte, daß er bei ihr anfragte – er konnte ja den Brief seiner Frau mit der letzten Adresse verlegt haben ... Na ... also! ...
Und nun speiste er mit gutem Appetit, spülte die letzten Aufregungen des heutigen Tages mit noch einigen Gläsern Wein herunter und ging dann, eine angerauchte Zigarette zwischen den Lippen, in die Halle, von deren erstem Treppenabsatz ein kleines Orchester seine neuen Tanzweisen herabschallen ließ.
Er tauschte einige knappe Grüße aus und rauchte eine leichte Zigarre an, während der Mokkaduft aus seiner kleinen, feinen Tasse aufstieg. Gern hätte er schweigend dagesessen und seine immer noch erregten Nerven von den weichen Klängen der Geigen einlullen lassen – aber ehe er es verhindern konnte, war sein Tischchen, das er absichtlich in der Tiefe der Halle gewählt hatte, von flüchtigen Bekannten umringt, die ihm den Klatsch der großen Hotels zutrugen, in denen sich das mondäne Leben Luganos abspielte.
Höflich beantwortete er alle Fragen nach dem Befinden seiner Frau, nach seiner Zufriedenheit mit seiner »improvisierten Häuslichkeit.« Und dann wurde er plötzlich verlegen, als man ihn nach dem und jenem der Herren fragte, die früher zu seiner und Steffis Gesellschaft gehörten. Und er maß an der Verlegenheit, deren er nicht gleich Herr werden konnte, die Einschätzung des Kreises, in dem er sich mit echt Sternfeldscher Unbekümmertheit bewegt hatte. Ob er denn nicht wüßte, daß man den Marchese della Sarte schon seit einigen Tagen beobachte? Die Schweiz machte nicht viel Federlesens mit solchen Herrschaften. Vorige Woche hätte man einen gewissen Scaripelli verhaftet ...
»Ich glaube,« sagte ein preußischer Legationsrat, »der saß auch mal bei Ihnen am Tisch. Es ist gar nicht zu glauben – wie diese Leute es verstehen, sich überall heranzudrängen. Und wir sind noch froh, wenn sie vor dem Tage erkannt und abgefaßt werden, da sie zu uns aufs Konsulat wegen ihrer Pässe nach Deutschland kommen.«
»Wir wollen keine Schieberstatistik auf völkischer Grundlage aufstellen, Herr Legationsrat,« warf ein Baseler Großrat ein. »Aber auf einen Italiener, der in Deutschland schieben will, kommen gut zehn Deutsche, die es in der Schweiz erfolgreich betreiben.«
»Die Deutschen haben wenigstens den Vorzug, daß sie sich offen zu ihrem – sagen wir, Gewerbe – bekennen.«
»Na ja ... aber, Voltaire sagt schon: ›Die Heuchelei ist eine Huldigung für die Tugend‹; darum ihre Berechtigung. Um nun auf den della Sarte zu kommen ... der ist, wie ich denke, mehr Verführter als Verführer. Ein Schlepper, der mit seinem Titel verschlossene Türen einrennt und sich dann mit ein paar Prozenten begnügt, während die anderen Hunderttausende einsacken. Hab' Sie schon recht verstanden, Graf Sternfeld, daß Sie es vorgezogen haben, mit Ihrer Frau in ein nettes Chalet zu ziehen. Das schönste Hotel kann einem ein heimeliges Häuseli nit ersetzen, in dem man sein eigener Herr ist und dem zudringlichen Gesindel die Tür vor der Nase zusperren darf – und auch muß. Also nix für ungut, Herren, ich gehe jetzt noch zu meinem Jaß – in der Riviera. Drei, vier Runden. Dann zu Bett...«
Xaver Sternfeld fühlte einen starken und langen Händedruck, wie er ihn von diesem stacheligen Schweizer noch nie empfangen.
»Na, lieber Graf ... man kann nie vorsichtig genug sein. Ein junges, reiches Ehepaar als Geschäftsparavent – das ist sehr beliebt. Ich sitze hier lange genug und kenne meine Pappenheimer ... Empfehlung an Frau Gemahlin ...«
Xaver Sternfeld verbrachte eine fast schlaflose Nacht. Zu viel stürmte auf ihn ein an Befürchtungen aller Art. War Steffi doch noch so naiv, daß sie all das Treiben nicht durchschaut hatte, oder ...? Keinen der hunderterlei Gedanken, die ihm im Kopf herumwirbelten, wagte er zu Ende zu denken. Und der telephonische Anruf in Bern blieb das einzige, was ihm Ausweg zu bieten schien in all dem Wirrsal.
Er wollte nicht aus dem Hotel telephonieren und ging am nächsten Morgen zur Post. Rascher, als er gehofft, bekam er die verlangte Verbindung. Als er aber nach der Baronin fragte, wurde ihm der Bescheid, sie wäre seit etwa zehn Tagen abgereist, und es sei noch nicht bestimmt, wann sie zurückkäme. Ihre Adresse hätte sie nicht angegeben.
Da faßte er das Hörrohr mit beiden Händen und blieb stehen wie betäubt.
Aus der Nebenzelle klang eine Stimme, nasal und quäkend. Er horchte auf, als einzelne Worte durch die doppelte Polsterung zu ihm hereindrangen: »Dann ist alles verloren ... tutto, tutto ... ich will nicht, no ... no ... keinen centesime ... nur die Briefe ... Aber das ist ja gemein ... hören Sie ... gemein ...« Drei, viermaliges Schnurren der Kurbel. Ein verzweifeltes: »Sind Sie da? ... Prego ... Sind Sie noch da ...?«
Dem Xaver Sternfeld lief alles Blut aus dem Gesicht. Mit zitternder Hand hing er das Schallrohr an den Haken zurück, riß die Tür auf. Im gleichen Augenblick trat aus der Nebenzelle der kleine Marchese. Wachsbleich war das sonst dunkel getönte Gesicht. Die sonst unruhigen Augen blickten starr.
»Mit wem haben Sie eben telephoniert?«
Wie ein Raubtier sprang Xaver Sternfeld den kleinen Mann mit dieser Frage an. Der wurde noch bleicher, und seine Lippen zerrten sich zu einem blauen Strich, der das Gesicht in zwei ungleiche Hälften teilte. Xaver Sternfeld wiederholte die Frage.
»Mit ... mit der Baronin ...«
Xaver Sternfeld mußte es ihm von den Lippen ablesen. »Geben Sie mir Ihr Wort, Marchese ... Ihr Ehrenwort ...«
Er verstummte plötzlich und wendete sich ab, als suche er etwas. Ein untersetzter, breitschultriger Mann schritt wie zufällig ganz nahe an ihm vorbei, stellte sich am Zahlschalter auf. Der Marchese legte einen Schein auf das Brett, strich das Kleingeld ein, automatenhaft, langsam ... Hob plötzlich den Kopf, sah dem fremden, untersetzten Mann ins Gesicht mit einem Ausdruck seltsamer Neugier und nachdenklicher Verwunderung. Dann ging er ...
Xaver Sternfeld waren die Beine wie mit Bleigewichten beschwert, der Hals zugeschnürt. Es war ihm, als liefe der Marchese, liefe ... wie gestern, so daß er ihn weder mit seinen Füßen noch mit seiner Stimme je zurückholen zu können vermeinte. Draußen von der obersten Stufe sah er noch die schmächtige Gestalt um die Ecke biegen, sah den untersetzten Mann mit großen, gemütlichen Schlenderschritten die Straße kreuzen – – Da zwang er seinen Körper, die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen.
In seinem Zimmer im Du Parc wartete der Diener: »'s is nur a Korrespondenzkarten gekommen, Herr Graf.«
»Legen's hin.«
»Schaffen der Herr Graf noch was?«
»Nichts. Sie dürfen gehn.«
Die Hände in den Taschen seines Mantels näherte sich Xaver Sternfeld dem Tisch. Es war Steffis Schrift. Und er las, ohne die Karte zu berühren:
»In zwei, drei Tagen bin ich wieder da. Ja, Xaverl. Das war einmal eine fesche Reise. Und ich bring Dir auch was Wunderschönes mit. Viele Pussis. Affi.«
Mit dem Nagel seines kleinen Fingers wendete er die Karte um. Sie trug den Poststempel von Genua. Sein Körper fiel, ohne daß er es wußte, in den Sessel. Sein Kopf sank zurück an die Lehne.
So schlief er ein. Als er aufwachte, sah er, daß er noch immer im Mantel war. Er bückte sich nach dem grünen Filz, der ihm vom Kopf gerutscht war, und blickte durchs Fenster. Die Nebel hatten sich zerteilt, und die Sonne glitzerte in silbernen Funken auf dem See. In diesem Augenblick erschütterten laute Gongschläge die Stille.
Sein erster Gedanke war: niemanden sehen, niemanden sprechen ... Wenn er jetzt sofort die Treppe hinunterlief, konnte er unbemerkt durch den hinteren Garteneingang verschwinden. In einer kleinen Kneipe der Via Nassa ließ er sich ein Kotelett geben mit Spaghetti, trank eine halbe Flasche Chianti und telephonierte ins Hotel, er unternehme einen dreitägigen Ausflug.
Dann trieb er sich wie all die letzte Zeit in der Umgegend herum ohne Richtung und Ziel, aber ohne zu beachten, wie weit er gegangen war und wo er sich befand. Er übernachtete in kleinen Gasthäusern. Ein paar Scheiben Dörrfleisch, Käse und Landwein war alles, was er verzehrte.
Es war gegen Abend des dritten Tages, als er wieder die Lichter um den großen, dunklen Kreis gleich verstreuten Funken aufblitzen sah. Lugano grüßte ihn. Und obwohl auch jetzt wie immer die Schönheit des Bildes ihn gefangen nahm, so konnte er doch einem Gefühl wachsenden Unbehagens nicht wehren bei dem Gedanken an das Wiedersehen mit seiner Frau. Flüchtig dachte er daran, in weitem Bogen das Chalet zu umgehen, an dem er auf jeden Fall vorbeigehen mußte, selbst wenn er diese Nacht noch im Hotel zubringen wollte. Aber es war reichlich spät für einen neuerlichen Umweg. Auch würde Steffi wohl erst morgen eintreffen – –
Er merkte es gar nicht, daß er plötzlich vor dem braunen, zierlichen Holzhaus stand, das er hatte fliehen wollen.
Vielleicht war er unbewußt wie ein Nachtfalter angezogen worden von dem hellen Licht, das sich aus allen Fenstern des oberen Stockes in die Nacht ergoß.
Sollte Steffi schon gekommen sein? Um einen ganzen Tag früher, als er angenommen ... gehofft hatte ...? Hatte sie allein oder mit dem Herrn Stumper ihren Einzug gehalten? War sie ärgerlich, ihn nicht daheim gefunden zu haben im gewohnten Sessel, in der gewohnten Ecke, wie ihr Parfümflakon, ihre Zigarettendose, ihre goldenen Wecker, nach denen sie nur die Hand auszustrecken brauchte ...? Und das Herz klopfte ihm gegen die Brust wie einem säumigen Buben, der die Schule geschwänzt hatte.
Das niedere Holzgitter, das ein Stückchen Halde als Gartenland um das Chalet zäunte, stand offen. Auf Zehenspitzen, als könnte man seine Schritte hören, schlich er sich an eines der Fenster des Erdgeschosses heran, die ebenfalls alle erleuchtet und nur durch leichte Rollvorhänge aus primitiv bemalten Rohrstäbchen von außen abgeschlossen waren.
Der eine Vorhang war offenbar an einer der blumigen Kretonnegardinen hängengeblieben, so daß ein handbreiter Spalt entstanden war, durch den Xaver Sternfeld jetzt in das Innere des Zimmers hineinspähte.
Und er sah Steffi – noch in Hut und Reiseschleier, wie sie abgefahren war. Sie mußte also eben erst mit dem Abendzug eingetroffen sein.
Ihr Gesicht hatte den unzufriedenen, gewöhnlichen Ausdruck, den er bereits kannte an ihr, wenn sie sich auf etwas versteifte. Sie schien ärgerlich zuzuhören und klopfte mit den abgestreiften rehledernen Handschuhen ungeduldig auf die Innenfläche ihrer Hand. Dann sprach sie. Und um ihre Lippen spielte ein unbekümmertes Lächeln, dem das begleitende Achselzucken fast etwas Zynisches verlieh.
Mit wem sprach sie nur so? An ihren Vater verschwendete sie gewiß nicht diese Lauge beleidigender Geringschätzung. Vergeblich versuchte Xaver Sternfeld die zweite Person zu entdecken. Plötzlich warf Steffi die Handschuhe in weitem Bogen von sich, beugte sich vor, und ihren geschürzten, jungen Lippen schien ein Schwall leidenschaftlicher Worte zu entströmen. Ihre eine Hand, zur Faust geballt, schlug immer wieder auf den Tisch.
Im nächsten Augenblick preßte Xaver, auf die Gefahr, entdeckt zu werden, seine Stirn ganz eng an die Scheibe und klammerte sich mit den Händen an das vorspringende Fensterbrett. Denn wer jetzt in den Lichtkreis der elektrischen Hängelampe trat und so nah auf Steffi zu, daß sie sich zurückbog in plötzlichem Erbleichen – das war der Marchese della Sarte. Seine schmächtige Gestalt bebte vor Erregung. In seinen Augen lag die Verzweiflung eines gehetzten Tieres, und die leidenschaftliche Sprache seiner mageren, bleichsüchtigen Hände war ergreifend. Er bat – er beschwor sie offenbar um etwas. Sie aber hatte wieder ihren eigensinnigen, gewöhnlichen Gesichtsausdruck gefunden, ihr gleichmütiges Achselzucken ... dann ein Lachen, kurz und so schneidend, daß der Xaver Sternfeld es draußen hörte und das Blut ihm aus den Wangen lief.
Gleich darauf aber sah er, wie sie die Hände vor die Ohren hielt, sah ihre Kopfbewegung, mit der sie zur Tür wies – sah ein plötzliches Zurückbäumen ihres Oberkörpers und in ihren Augen, die starr wurden, das Aufblinken einer tierischen, mit Wut vermischten Angst – und fast gleichzeitig sah er die blutlose, magere Männerhand blitzartig unter den Mantel greifen, einen kleinen Gegenstand vorziehen. Da aber hatte Xaver Sternfeld auch schon mit dem Ellbogen die Fensterscheibe eingeschlagen und den Rollvorhang heruntergerissen. Sein Gesicht erschien im zersplitterten Fenster.
Steffi schrie auf und klammerte sich an den Mann, der eben noch ihr Leben bedroht hatte. Der Marchese stellte sich vor sie hin und richtete die Waffe gegen das Fenster. Im nächsten Augenblick sank sein Arm herab. »Ihr Mann ... contessa.«
Türen klappten auf und zu, Schritte wurden laut.
»Schau'ns, daß's davonkommen, Marchese,« sagte Xaver Sternfeld. Und er schloß die Augen, weil er nicht sehen wollte, welchen Weg der Italiener nahm.
Er selbst bog um die Ecke, öffnete die Haustür. Die Dienerschaft wisperte im Flur. Dann, wie er plötzlich dastand unter ihnen: »Jessas, der Herr Graf ...«
»Ich hab' einen Witz g'macht und leider meine Frau dabei erschreckt. Is schon alles gut.«
Die Leute versuchten ein bißchen zu lachen. Er drückte auf die Türklinke und verschwand im Zimmer.
Steffi hockte auf einem Sessel. Hut und Schleier lagen auf dem Teppich. Sie war noch sehr bleich. Aber in ihren Augen loderte mehr Zorn als Schreck.
»Wann das jetzt ein Spaß sein soll – Fensterscheiben brauchst noch immer nit zerteppern!«
Ihre Stimme hatte einen Klang, der ihm wie mit Messern in die Ohren schnitt.
»Wie red'st denn, Steffi?«
»Soll ich dir hernach vielleicht um den Hals fallen? Gut schaust übrigens aus!«
Sie sprang auf, schob mit einer heftigen Handbewegung den Stuhl weit hinter sich, schleuderte mit der Fußspitze den Hut in irgendeine Ecke. Zornige Röte stand in ihrem Gesicht. »Erlaub' mal ...«
Sie beachtete seinen Einwand nicht; die Worte sprudelten ihr wie Wasser über die Lippen, mit der zänkischen Betonung scheltender Marktfrauen.
»Mein Telegramm liegt seit gestern hier uneröffnet. Kein Mensch auf der Bahn. Vom Herrn Grafen ka Spur nit – weder hier, noch im Hotel. Dann – noch eh ich mir die Handschuh' abg'streift hab' – überfällt mich der Herr Marchese – und zum Schluß schlägt mir einer von draußen das Fenster ein, und wie ich hinschau, ist's der Herr Graf. Also jetzt – soll ich vielleicht noch Küß d'Hand sagen?«
Xaver Sternfeld stopfte seine Hände in die Taschen seines Mantels. Wie die Frau sprach ...! Wie sie sprach ...! Ihm war, als höre er sie zum ersten Male.
Sie ging auf die Tür zu. So rasch, daß er nicht Zeit fand, sie aufzuhalten, und die Gewißheit, daß sie so hastig davongegangen war, nur, um ihm nicht Rede und Antwort zu stehen auf die Fragen, die jetzt kommen mußten, sich erst einstellte, als ihre Schritte auf der Holztreppe verklangen.
Und als er sein Schlafzimmer betrat, hörte er sie herumkommandieren: »Das Nachtmahl unten im Salon um halb neun. Und nageln's inzwischen eine Matratzen vors Fenster im Speis'zimmer – falls der Glaser nit gleich kommen kann. Ja ... und dann ... es soll gleich einer ins Du Parc hinunter und die Sachen vom Herrn Grafen heraufholen.«
Er hätte es nicht zu sagen gewußt, was ihn gerade an diesem letzten ganz natürlichen Befehl aufbrachte. Aber er klinkte seine Tür auf und rief in den Gang hinaus: »Meine Sachen bleiben unten, bis ich's sag'.«
»Ah ... da schau ...«
Irgend etwas klirrte im Zimmer nebenan. Dann hörte er ein schneidendes, kurzes Lachen. So mußte das Lachen geklungen haben, das er gesehen hatte, als er spähend am Fenster gestanden. Und nun sah er auch wieder den Marchese vor sich mit dem Blick eines gehetzten Tieres ...
»Was schaffen der Herr Graf für einen Anzug?« fragte der Diener.
»Rauchjackett ...« Er hatte ja alles doppelt und dreifach. Konnte nicht in Verlegenheit kommen, der Xaver Sternfeld ...
Es war acht Uhr, als er hinunterging.
Sie hatte ihr Reisekleid gegen einen ihrer immer ein bißchen kokottenhaft anmutenden Schlafröcke umgetauscht und machte große Augen, als sie ihn in Gesellschaftsuniform vor sich sah. »Ja ... was is denn, Xaverl, wollen wir denn noch aus?«
»Ich Hab' eine Verabredung,« log Xaver Sternfeld.
Sie zerrte an der Spitze ihres Kleides. »Bist ja recht lieb ...!«
Noch nahm sie sich zusammen. Auch wirkte der alte Reiz seiner eleganten Silhouette mit den hübschen Bewegungen. Sie stand auf, machte das Gesicht eines gescholtenen Kindes. »Bist arg bös auf mich, Xaverl?«
Sie faßte ihn unter den Arm, hob ihr Kinn auf seine Schulter. Er brauchte sich nur sehr wenig herabzuneigen, um ihre vollen, roten Lippen mit den seinen zu berühren. Von ihrem gesunden Körper wehte der Atem gepflegter Jugend zu ihm herüber, vermischt mit dem Duft eines starken Parfüms.
Das Parfüm erinnerte ihn an etwas: an einen Menschen, eine Situation, an ... Ja, jetzt wußte er. Als Agathe damals ohnmächtig im Wagen gelegen, da hatte Steffi ihr zugefächelt mit ihrem Taschentuch, das mit diesem selben Parfüm getränkt gewesen – überreich. Damals hatte Agathe die Augen aufgeschlagen und ihn angesehen, ihm zum ersten Male voll ins Gesicht gesehen. Und er hatte zum ersten Male gefühlt, daß er eine Schufterei begangen... Er hatte dann Steffi später gebeten, dies Parfüm nicht mehr zu benutzen. Und sie hatte es unterlassen. Run war seine Bitte vergessen, oder es war ihr »wurscht«, was er mochte oder nicht.
Er schob sie leicht von sich. Aber sie hob seine Hand schmeichelnd an ihre Wange.
»Geh. Ich hab' mich so auf dich g'freut und hab' dir so was Schönes mitgebracht – einen Smaragd, du, als Krawattennadel. Aus dem Diadem der Zarin. Ein Vermögen! Aber mein Stumperl hat sich nicht lumpen lassen. Wann dein Mann gut is zu dir, hat er g'sagt, da soll er meinethalben alles kriegen, was du willst ... Schau her, Xaverl...«
Sie griff rasch nach einem Etui, das auf dem Tisch lag, und öffnete es. »So schau doch, Xaverl ...« Ein lüsternes Lächeln lag um ihre Lippen. Als schmecke sie den Stein, als trinke sie seine grüne Flut.
Xaver Sternfeld blickte flüchtig hin, klappte den Deckel zu und stellte das Etui zurück auf den Tisch. »Ich hab' dich schon öfters gebeten, Steffi ... mir keine so kostbaren Geschenke zu machen.«
Sie lachte hell auf. »Aber geh, Xaverl, bist ein Tschap. 's gibt heutzutag bald keine bessere Kapitalanlag' als wie Schmuck. Was sind unsere Kronen wert? An Schmarrn. Aber ein Stein bleibt ein Stein. Vom Tragen wird er nit schlechter, und wann man Geld braucht, dann verkauft man ihn und macht noch ein gutes Geschäft damit.«
»Ja ... so ... das G'schäft. Das vergeß ich halt immer wieder.«
Sie blickte ihn von der Seite an, wußte nichts Rechtes mit seiner Antwort anzufangen. Wurde plötzlich unruhig. »Wollen wir nit lieber gleich nachtmahlen ... oder ... soll ich mich anziehen, und wir speisen unten im Hotel ...?«
Sie hatte schon wieder die Türklinke in der Hand. Aber diesmal legte er seine Hand auf die ihre, mit dem harten Griff des Reiters, der ein durchgehendes Pferd am Zügel packt. »Das Essen hat Zeit. Vorher möcht' ich wissen, was das hier mit dem Marchese gewesen ist?«
»Laß doch den faden Kerl!«
»Wann ein fader Kerl zum Revolver greift – dann steht's schon dafür zu fragen: warum?«
Er lehnte jetzt an der Tür. Ihr war der Ausgang abgeschnitten. Ärgerlich zuckte sie die Achseln, trat zurück und fing an, ein Buch auf der Innenfläche ihrer Hand zu balancieren. »Laß das Spielen, Steffi – red'! Gib Antwort.«
»Verstehst ja doch nix von solchen Sachen.«
»Am End' doch ...«
Sie lachte leise, warf das Buch in großem Bogen auf den Tisch zurück und fiel in einen Sessel. »Geh, plausch nit, Peperl!«
So eine Geringschätzung lag in ihrer Stimme, daß ihm war, als sauste eine Reitpeitsche über sein Gesicht. Alles in ihm bäumte sich auf. »Du, Steffi, treib's nit zu arg!«
Etwas in seinem Ton ließ sie aufblicken. Eine fahle Blässe lag über seinen Zügen, und seine Augen funkelten drohend. In ihr aber kochte der Zorn auf, daß er Rechenschaft von ihr verlangte – er, der doch nur Sinn hatte in ihrem Leben, wenn er sich wie ein braves Schoßhunderl von ihr verwöhnen ließ und ihr den Glanz seines alten Namens lieh.
»Was hast für G'schäfte mit dem Marchese? Und mit der Tutzer und der ganzen Bande? Und was war das für eine Reise mit deinem Vater?«
Sie trommelte mit den Fingerspitzen auf die Armlehnen ihres Sessels. »Wann du alles weißt ... was fragst nachher?«
Aber sie schrak doch plötzlich zusammen, als sie sein Gesicht ganz nahe über dem ihren erblickte und zwischen seinen aneinandergepreßten Zähnen die Worte sich lösten: »Machst am Ende schieberische G'schäfte? Vielleicht gar mit g'fälschten Papieren?«
Ihre Augen weiteten sich, und sie schnellte auf.
»Ihr habt ein Verbrechen auf dem Gewissen. Habt in Bern mit gefälschten Papieren ...«
Sie riß so heftig an einem Band ihres Kleides, daß es ihr zwischen den Fingern blieb. »Wer hat gesagt, daß die Papiere g'fälscht sind? Wer? ...«
Jetzt lag auf ihrem Gesicht die gleiche fahle Blässe wie auf dem seinen. Sie standen beide einander gegenüber, und keiner von ihnen wagte sich auch nur mit einem Wort weiter. Zwischen ihnen schwankte der Boden. Wie ein unabsehbares Meer schien er ihnen beiden, und ihre Blicke sahen einander nicht mehr. Vielleicht hätten sie brüllen mögen in diesem Augenblick. Brüllen ... vor Angst ...
»Gib dem Marchese die Briefe heraus ...«
Sie antwortete tonlos: »Von g'fälschten Papieren steht nix drin.«
»Nein. Aber von seiner Frau steht drin, die er schützen will, falls meine Frau sich ihre Verirrung zunutze gemacht haben sollte.«
»Die Briefe täten nur beweisen, daß wir betrogen worden sind, wenn ... wirklich ...«
»Macht euer G'schäft rückgängig...«
»Rückgängig?«
Ihre dunklen Augen liefen an den Wänden entlang, den Bildern ... blieben hängen an seinen bleichen, verfallenen Zügen. Ein dummer Bub' war er, der Xaverl... Ein dummer Bub' ... Wie konnte man so ein Geschäft rückgängig machen? Hieße das nicht zugeben, daß man etwas ahnte – zum mindesten etwas befürchtete ...? Wie viele Namen waren da mit eingewoben, wie viele Gelder schon verspritzt ... Millionen standen auf dem Spiel.
Was hätte sie da alles herholen müssen, um dem Xaver das alles zu erklären. Er verstand ja doch nix ... so rein gar nix von all den hundert Fäden, die ineinandergriffen. Glaubte, man könnte aus einem solchen Geschäft herausspringen, wie aus einer falschen Tram ... Und sie sagte, fast traurig, so großem Unverstand ausgeliefert zu sein: »Rückgängig? Geh, Xaverl... Das gibt's doch nit bei so was! ...
Er mißverstand ihre plötzliche Sanftmut, und ihm schien, als wäre ein feiner, ferner Lichtstreif in undurchdringliches Dunkel gefallen. Ein unerzogenes Menschenkind war sie, ohne sittliche Begriffe. Aber sie liebte ihn auf ihre Art. Und aus Liebe zu ihm ... ja ... an diese Liebe mußte er appellieren. »Steffi!« murmelte er und streckte ihr die Hand hin.
Sie aber war auf ihrer Hut. Fürchtete sich vor Überrumplung – gerade weil sie die streichelnde Bewegung seiner schlanken Hände herbeisehnte. So holte sie sich zurück in raschem Entschluß, sagte plötzlich trocken, nüchtern: »Der die Unterschrift gegeben, weiß, warum er's getan hat. G'fälscht ist sie nur dann, wann einer die Pferde scheu macht – denn immer muß der Kleinere ausbaden, was der Größere ang'stellt hat. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz und wird mit ... berechnet im Tarif.«
Da kroch dem Xaver Sternfeld ein Gefühl des Ekels bis in den Hals hinauf. Der Boden stürzte ein zwischen ihm und der Frau, die seinen Namen trug. Ganz fremd war sie ihm plötzlich. Nicht einmal Feindschaft brachte er auf oder eine Revolte des Blutes ... An Steffis Platz sah er plötzlich wieder den kleinen, beweglichen Mann, mit den Augen eines gequälten Tieres, mit der Verzweiflung des zum Wahnsinn Getriebenen in jeder Gebärde. Und der Mann rückte näher, immer näher an ihn heran, daß er die Todesnot körperlich fühlte, in der er sich wand.
»Gib die Briefe heraus,« sagte er kurz.
»So laß doch die dummen Briefe. Sonst glaub' ich, meiner Seel, du bist eifersüchtig.«
Sie versuchte Spott in ihre Stimme zu legen. Aber ihre Sinne verfingen sich ohne ihr Wollen in dem Wort. Ihr Atem ging rascher. Der Instinkt ihres Weibtums wies ihr den einzigen für sie gangbaren Weg: »Sag', Xaverl ... glaubst am End' gar, daß es Liebesbriefe sind?«
»Ja ... das glaub' ich.« Er rang sich die Worte ab, als die größte Lüge seines Lebens.
»Geh ... Bubi.«
Da lachte sie ganz leise und ein bißchen ungläubig und doch innerlich bewegt, daß sich ein Schimmer jener Verliebtheit in ihm erhalten, die einst ihr Entzücken gewesen war. Und mit dem Ungestüm ihrer Natur, die jede Beherrschung als Fesselung empfand, wollte sie ihre Arme um seinen Hals werfen. »Du Tschap ... du!«
Hart wie Eisen war der Arm, der sie fernhielt. »Erst die Briefe.«
Sie haschte nach seiner Hand, empfand vielleicht den ersten wahrhaft wollüstigen Schauer bei dem ungewohnten Widerstand. Trank das Bild, die schlanke, edelgezüchtete Gestalt ihres Mannes in sich ein, wie vorhin das grüne, versteinerte Wasser des köstlichen Steines aus dem Diadem der Zarin.
»Die Kassette ist in meinem Schlafzimmer,« sagte sie, und ihre Stimme hatte einen dunklen, verlangenden Klang.
»So geh'n wir halt in dein Schlafzimmer ...«
»Is ja zu dumm ... der Marchese und du ... ist ja zu dumm...«
Er hörte nichts von dem, was in ihrer Stimme lag, spürte auch nicht die Flammen ihrer Haut, als er sie am Arm faßte, um sicher zu sein, daß sie mitkam. Auf der Treppe preßte sich Steffi eng an ihn. Als sie das Licht einschaltete, schlug ihm das starke Parfüm entgegen mit der laulichen Wärme des kristall- und silberflimmernden Raumes. Das Bett war aufgedeckt, bezogen mit feinem Linnen aus Steffis Brautschatz.
»Is nit schön hier?« fragte Steffi zärtlich und hob wieder die Arme stärker noch als das erste Mal und spürte wieder die eisige Abwehr:
»Erst die Briefe.«
»Jessas, Xaverl ... man könnt' sich fürchten! ... Na wart', du Othello ...«
Xaver Sternfeld sah, wie sie einen Schlüssel an einem langen goldenen Kettchen aus dem Ausschnitt ihres Kleides zog und ihren Schrank öffnete.
Unter Stößen duftender, mit Bändchen aller möglichen Farben umbundener seidener Wäsche zog sie eine schwarze Kassette vor. Einen zweiten kleineren Schlüssel führte sie in das Kunstschloß ein, nachdem sie durch Buchstabenverschiebung die Mechanik gerichtet hatte. Dann sprang der Deckel auf. Kleine abgegriffene Bücher lagen ganz oben; mit abgestoßenen Ecken. Bücher, die sie mit in die Ehe gebracht hatte aus ihrer Mädchenzeit ...
Xaver Sternfelds Lippen zuckten, und in seinen Händen kribbelte es, als müßte er sich auf diese Bücher stürzen.
Langsam hob Steffi den ersten Einsatz heraus. Dann den zweiten. Ihre Bewegungen hatten plötzlich eine weihevolle Bedächtigkeit, als verrichteten sie eine heilige Handlung. Auch ihr Gesicht bekam einen gesammelten andächtigen Ausdruck. Und dann leuchtete ein Päckchen weißer Bogen zwischen ihren Fingern auf ...
»Gib acht,« wollte sie sagen.
Aber schon hatte Xaver Sternfeld ihr das Päckchen entrissen. »So!«
»Ja ... hörst – –«
Nein. Er hörte nicht. Seine Augen waren wie verankert in den hastigen, windschiefen Zeichen des zu oberst liegenden Schreibens:
»... aber leider waren Sie nicht zu Hause. Sie waren in den letzten Lagen nicht zu sprechen für mich. Ich wiederhole Ihnen: meine Frau ist halb wahnsinnig vor Angst, seit sie weiß, daß ihr Name in unserer geschäftlichen Korrespondenz vorkommt. Sie fürchtet, T. spielt eine Doppelrolle und würde sich nicht besinnen, alles auf uns abzuwälzen, wenn sich Schwierigkeiten einstellen sollten. Denken Sie an meine Kinder, contessa ... ich beschwöre Sie ... Meine Frau überlebt einen Skandal nicht. Sie hat im guten Glauben gehandelt, erst nachträglich sind ihr Zweifel gekommen. Aber sie hat die Fäden nicht mehr in der Hand. Am Gottes willen, contessa, bringen Sie mir meine Briefe nach Bern. Um meiner armen Kinder willen. Ich verzichte auf alles ... keinen centesime will ich – nur die Briefe ... die ja für Sie ...«
Xaver Sternfeld merkte es gar nicht, daß er laut las. Fuhr nur zusammen, als er plötzlich Steffis kurzes, ironisches Auflachen vernahm. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn.
»So ist doch was Unsaubres an der G'schichte.«
Sie blickte an ihm vorbei, schlug mit einer Nagelfeile immer wieder klirrend gegen ein Kristall.
»Warum nit gar.«
»Also warum hast dann dem Mann die Briefe nit zurückgegeben? Red' jetzt, wann ich dich frag'.«
Wie in tückischem Vorbehalt zog sie die Mundwinkel ein. »Brauchst nit so aufbegehren, daß die Leut' es im ganzen Haus hören.«
»Ich frag' dich noch einmal im guten, Steffi...«
Seine Hände krampften sich um das weiße Päckchen. Sie saß halb abgewandt von ihm, beide Ellbogen auf ihren licht- und spitzenberieselten Putztisch gestemmt.
»Wann er so blöd ist, Briefe über so was zu schreiben, so bin ich nicht blöd genug, sie herauszugeben. Jetzt hat er gut reden: keinen centesime ... Aber vorher haben's Hunderttausende sein müssen. Wer Hunderttausende verdienen will von heut' auf morgen – ohne Kapital – nur mit ein paar Besuchen und Verbindungen – der muß auch was riskieren. Wir alle riskieren. Und wann ich jemand hab', auf den ich mich rausreden kann, wann's wirklich zu Schwierigkeiten kommen sollte – ja dann verdient' ich doch Schläg', wann ich meine einzige Waffe aus der Hand geben tät ...«
Xaver Sternfeld suchte im Zimmer nach einem Halt für seine sich verwirrenden Gedanken, für seinen Körper, der zusammenzubrechen drohte.
»Ja, um Gottes willen ... um Gottes willen ... kam es tonlos über seine Lippen.
Da erkannte sie seine Fassungslosigkeit, und das Atmen wurde ihr leichter. Mit einem Ruck wendete sie sich ihm zu, und ihr Lächeln gab ihre spitzen, blinkenden Rattenzähnchen Preis. Sie spürte Oberwasser. »Ja, mein Lieber, so redet's ihr alle. Wann sich's mal spießt, dann heißt's: um Gottes willen ... um Gottes willen, als wann ihr vom Mond gefallen wäret und nit wüßtet, wieviel zwei mal zwei ausmachen.«
Wie mit Kolbenstoßen sauste es ihm gegen die Stirn. »Steffi!« Es war der Schrei eines Wehrlosen. Aber sie war im Zuge – sah und hörte nichts.
»Aber das ist ja wohl euer Stolz uns Stumperischen gegenüber – daß ihr nit rechnen könnt. Geld – das muß ein anständiger Mensch haben, nit wahr, Xaverl. Nit erwerben. Und hübsch abg'standen muß es sein, denn wann's noch warm is von der Stumperischen Müh', dann stinkt's, nit wahr? Und ihr halt's euch die Nasen zu und schließt die Augen und tut's euch einbilden, wir wüßten nicht, daß ihr doch nur um unseres stinketen Geldes wegen g'heiratet habt.«
Furchtbar tosten ihre Worte in sein Ohr, und ihre Augen liefen über sein Gesicht, seine Brust, seine Hände... Stachen ... stachen bis aufs Blut. Ekel und Entsetzen schüttelten ihn. Und doch waren seine Züge wie versteinert, als er sagte: »Was die Steffi Stumper für Geschäfte macht, das geht mich nix an ... Den Namen Sternfeld, den geb' ich nit her für so was ... Merk dir's ... du!«
Da stand sie plötzlich mitten im Zimmer, fast schön in ihrer fessellosen Wut. Und vernichtend prasselte der Hohn von ihren Lippen: »Ja, zu was heiratet ihr uns denn? Weil ihr etwa verliebt seid? Für das, was eure Verliebtheit von uns haben will, da braucht's kein Standesamt. Das Standesamt, das laßt ihr euch von unsern Vätern abkaufen – und das ist euer G'schäft. Ein welches von beiden sauberer ist – das müht ihr ja wissen! Das unsrige oder das eure!«
Und abermals lachte sie. Wie die Steffi Stumper in ihrer Kellerzeit wohl gelacht haben mochte. Gleich darauf sauste etwas durch die Luft. Ein dumpfer Schrei, Scherbenklirren –
»Xaver...!«
Eine Tür, die zuschlug, Schritte, die sich hastend auf der Treppe verloren. Angehaltener Atem in dunklen Ecken.
In Xavers Zimmer brannte Licht. Er raffte Hut und Mantel vom Ruhebett. War plötzlich ganz ruhig. Sah sich um. Was hier zurückblieb in Schränken und Koffern, daran hatte er kein Teil mehr. So war es kein Losreißen für ihn und keine Wehmut. Auch kein Zorn. Es war einfach aus. Wie ein Licht, das einer ausgeblasen hätte. Nur als seine tiefliegenden Augen sein Spiegelbild trafen, wendete er sich ab, wie er sich abgewendet hätte, wenn er einen Kameraden plötzlich an einem öffentlichen Pranger gesehen hätte. Dann ging er, nicht leiser und nicht rascher als sonst, die Treppe hinunter.
Noch stand das Gartengitter auf. Und so schritt er weiter ohne Aufenthalt, aus dem gelben Lichtkegel des elektrischen Lichtes hinaus in das vertraute Dunkel des abwärts führenden Pfades.
* * *