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Einige Tage später überbrachte Mr. Quick Wanda einen Brief ihres Mannes, in welchem er sie um »vorläufige Trennung« ersuchte, auf Grund der übereinstimmenden ärztlichen Gutachten, die sie für unfruchtbar erklärt hatten. Die notarielle Zusage einer glanzvollen Abfindung lag bei.
Es war dem kleinen Mr. Quick gar nicht behaglich in diesem Augenblick, und er atmete ordentlich befreit auf, als er sah, wie Wanda diesmal das Schriftstück zerriß. Mit undurchdringlichem Gesicht sagte sie: »Ich weiß, daß Sie den Inhalt eines jeden Briefes kennen, Mr. Quick, also auch dieses Schreibens. Bitte, sagen Sie meinem Mann, daß, solange ich nicht Beweise habe, daß die Schuld ausschließlich auf meiner Seite liegt, ich an keine Trennung denke.«
Mr. Quick brachte nicht den Mut zu einer persönlichen Bestellung auf. Wanda schrieb wenige Zeilen – mit ruhiger, sicherer Schrift.
»Dann, bitte ... so ...«
Tom King las. Sah stumpf vor sich hin. Lachte plötzlich ganz laut auf und schlug mit der Faust auf die Mahagoniplatte des Tisches, daß sie sich in zwei Teile spaltete.
» Old man ... willst du hören, old man ...«
Stephens machte einen runden Rücken. »Laß mich zufrieden mit deine dumme Korrespondenz von Zimmer zu Zimmer. Ich brauche Mister Quick für ernste Geschäfte.«
Tom King riß die Tür zu Wandas Salon auf, ohne anzuklopfen. Sie war keine Frau mehr für ihn.
»Ich bin anständig zu dir gekommen und habe gesagt: Geh' weg von mir. Was willst du noch?«
»Bei dir bleiben.«
»Ich will nicht. Du sollst gehen. Du bist nur eine Aufpasserin ... Ich brauche eine Mutter für mein Kind.«
Sie sagte ruhig – und kein noch so feines Ohr hätte die leiseste Schwankung in ihrer Stimme wahrgenommen: »Ich will eine Mutter sein für – dein Kind.«
Er sah sie wie entgeistert an. »Mein Kind von einer anderen, verstehst du?«
»Das will ich.«
»Du wirst es ... umbringen?«
Sie lächelte nicht einmal. »Ich werde es erziehen, in Liebe zu dir, zu deinem und seinem Land drüben. Ich werde ihm eine gute Aufpasserin sein.«
Er schluckte ein paarmal. »Warum willst du das tun, Wanda?«
Und da sie nicht antwortete, herrschte er sie gereizt, zornig an: »Warum machst du sowas? Nur um mich fester zu halten? Es nützt nichts. Ich will frei sein ... hörst du?«
Er ging aus dem Zimmer, ohne ihre Antwort abzuwarten. Aber sie hörte ihn noch auflachen, bitter, höhnisch. Und dieses Lachen schnürte ihr das Herz mehr zusammen als das schlimmste Wort. Sie fühlte: hinter diesem Lachen stand ein Entschluß. Nur welcher – wußte sie nicht.
Der Pariser Aufenthalt zog sich in die Länge. Zwei Matches in anderen Städten hatten aufgegeben werden müssen, weil die nötigen Garantiesummen nicht aufgebracht werden konnten. Die »nur acht Points« stempelten den Sieg Tom Kings fast zu einer Niederlage.
Stephens war übler Laune. Noch vor einem Jahr war eine Absage ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Tom Kings Namen hätte genügt, eine kleine Völkerwanderung zu veranlassen. Zudem traf man in den Sportblättern immer häufiger den Namen O'Brys. Der Kerl machte wieder von sich reden, wagte sich von Zeit zu Zeit mit versteckten Angriffen vor.
Stephens schäumte. »Den mußt du unterkriegen, Tom ... solange der Kerl sein Dreckmaul an dir wetzt, bist du nie Herr.«
»Er wird ihn unterkriegen, daddy,« sagte Wanda und lächelte.
Tom sah sie beinahe furchtsam an – so mochte auch sie sein. Die Prinzessin Hoheneck ruhte nicht eher, als bis sie ihn untergekriegt hatte ... ihn, Tom King, ihren Mann.
Es war ihm ungemütlich in ihrer Nähe. Er legte seinen Beruf zwischen sich und sie. War den ganzen Tag mit Trainern, Boxern, Schülern zusammen. Oder verschwand – niemand wußte, wohin. Kam einmal spät abends in Wandas Zimmer. Bleich, mit flackerndem Blick. Kingstown stünde vor einer Krisis. Der Vater verheimliche ihm alles Mögliche, aber Michael hätte ihm an seine Geheimadresse gekabelt. Seine Schöpfung, sein Lebensinhalt, seine Mission – alles, alles stand auf dem Spiel, wenn nicht neue Mittel aufgetrieben würden. Der Alte, der alles Geld verwaltete, sagte: »Wir wollen sehen.« Da gab's nichts zu sehen. Entweder Kingstown bekam Hilfe – oder – –
Er sprach erregt, wie sie es noch nie an ihm gekannt. Sie ging in ihr Schlafzimmer, kam zurück mit einem unterschriebenen Blankoscheck.
Er fragte, wieviel er darauf ausgezahlt bekäme, und als er es hörte, zuckte er die Achseln. Das wäre ja doch nur ein Tropfen auf einen heißen Stein. Sie ging abermals in ihr Schlafzimmer, brachte eine Kassette aus Ebenholz mit goldenen Beschlägen. Darin lag ihr Schmuck. Der Schmuck einer Kaiserin.
»Bitte.«
»Du bekommst schöneren,« sagte er und riß die Kassette an sich wie ein Trunkener. Stand dann unschlüssig im Zimmer.
Dann sagte er: »Du bist sehr gut, indeed.« Die Zunge gehorchte ihm nur schwer.
Einige Tage später beurlaubte sich Mr. Quick bei Stephens. Er war schon zu bekannt in den großen Zentren wie Paris und Berlin, um einen solchen Schmuck zu verkaufen. Wenn es aber hieß: Tom King läßt Juwelen veräußern, dann schadete es ihm, setzte seinen Kredit herab – den Wert seiner Muskeln. Darum reiste Mr. Quick nach der Schweiz, nach Holland. Auch durfte Stephens nichts von dem Verkauf erfahren; das hatte Tom King von ihm verlangt. Aber er fürchtete Stephens noch mehr als Tom King. So ging es nicht mehr lange weiter. Einmal mußte er Schluß machen – er war es müde, herumgejagt zu werden.
Als er in den Zug stieg mit der Kassette in der krampfhaft geschlossenen Hand, drehte er sich nicht einmal um nach den zwei Herren, die ihm von der Ecke der Rue Auber bis zur Bahn in einem Auto gefolgt waren. Es kam öfters vor, daß er unter Bewachung zweier Geheimdetektive reiste. Auf die Dauer aber war es eine lästige und gefährliche Geleitschaft. Er nährte sich in diesen Tagen nur von harten und weichen Eiern, die ihm sein Boy kochte. Sein Magen rebellierte. Als er sich in Vlissingen einschiffen wollte, um in London die Krone aus Brillanten zu verkaufen, die er nirgends hatte loswerden können, und die die Prinzessin Hoheneck an ihrem Hochzeitstag getragen, da wurde ihm plötzlich sehr übel, und er beschloß, die Überfahrt zu unterlassen. In altes Zeitungspapier gewickelt, unter schmutziger Wäsche versteckt, so brachte er die Krone nach Paris zurück. Es schien ihm am ratsamsten, sie Stephens selbst in die Hände zu spielen. Tom King hatte keine Ahnung von Geld. Die Ausweise der verschiedenen Banken würden ihm als günstiges Resultat erscheinen. Auch hatte seinerzeit nicht er, sondern Stephens den Schmuck gekauft.
Mit einer ihm sonst fremden Ungeschicklichkeit ließ Mister Quick, als er sich noch staubbedeckt bei Stephens melden ließ, die Krone aus der Zeitungsumhüllung auf den Teppich fallen. »Was ist das?« herrschte Stephens ihn an.
»Um Gottes willen ... so waren es nicht Ihre Geheimagenten, die mich verfolgt haben?« fragte er mit gutgespieltem Staunen.
»Wie ... was ...? Ich habe Sie nicht verfolgen lassen.«
»Dann steht es schlecht um die Finanzen, Mister Stephens. Denn ich habe den Schmuck verkaufen müssen für Mrs. King.«
»Den Schmuck?«
»Und bin vom ersten Tage ab beaufsichtigt worden. Ich dachte, von Ihnen, Mister Stephens.« Und er hob die rollende, funkelnde Krone auf.
»Wem gibt man sie jetzt?« Mister Quick hielt das Krönchen in der Hand, wie Hamlet Yoricks Schädel. »Mrs. King nimmt sie nicht zurück, so wenig sie den Blankoscheck zurückgenommen hat, den sie Mister King eingehändigt hat.« »Was ist mit den Geldern geschehen, Mister Quick?«
»Sie sind wie immer an die Bank von Denver gegangen zur Überweisung an Herrn Michael aus Kingstown.«
Vor Stephens' Augen tanzte das ganze Zimmer, mit allem, was darin war. Kingstown war der Ruin ... Kingstown ... Michael ... Ria Roma ... die vor allem. Michael verlangte Geld ... immer wieder Geld und unheimliches Geld. Tom hatte ihm den Verkauf der Juwelen gekabelt ... die Geheimagenten waren also von Michael aufgeboten worden! Michael, der große Idealist, war habgierig geworden und mißtrauisch. Michael saß Tom auf dem Nacken und sog ihm sein Blut aus, seine Kraft. Wenn das so weiterging ... schickte er ihm Mörder, ihm, Stephens, daß sie ihn aus dem Wege räumten. Schnell, schmerzlos. Das brachte er fertig, der Michael.
»Was ist Ihnen, Mister Stephens ... Mister Stephens?«
Der schwere Körper fiel wie ein Sack auf dem dicken Teppich zusammen. Mister Quick lief an beide Türen, schloß sie ab. Mühte sich um den riesigen, wie leblos daliegenden Körper. Riß Kragen und Halsbinde auf, flößte ihm vom kalten Kaffee ein, der noch auf dem Tisch stand. Nach wenigen Minuten schlug Stephens die Augen auf. Erhob sich, fast ohne Hilfe. Noch immer waren Bärenkräfte in ihm.
»Ich muß nach Kingstown, Mister Quick,« sagte er mit einer Stimme, die noch rauher klang als sonst, wobei die Worte ihm gleichsam stockend über die Lippen kamen und sein Mund sich seitlich verzog, als müßte er weinen oder lachen.
»Sie fahren mit mir. Denn ich will vorher noch Kontrakte machen für meinen Sohn da und dort. Meine Schwiegertochter kann führen die geschäftliche Korrespondenz von meinem Sohn. Sie schreibt Maschine ebensogut wie Sie, Mister Quick, und kann kalkulieren noch besser als Sie. Nur, was Kronen sind, das weiß sie jetzt nicht zu schätzen. Geben Sie die Krone der Winter. Sie soll sie gut aufheben. So eine Krone kann immer noch nützlich sein, specially, wenn ... Well, Mister Quick, Sie verstehen, und was hier los war – das bleibt zwischen uns zwei.«
Aber das war selbstverständlich. Darüber brauchte Stephens kein Wort zu verlieren.
Während Stephens mit noch unsicheren Händen seine Halsbinde knotete, schloß Mr. Quick leise die Türen auf. So erfuhr in der Tat niemand, daß Stephens einen Ohnmachtsanfall gehabt hatte, und daß diese Ohnmacht eigentlich ein kleiner Schlaganfall war. – –
Als Wanda am Tage nach Stephens' Abreise ihre rollende Wohnung bestieg, fand sie in ihrem Salon, den schwere Vorhänge mit ihrem Schlafwagen verbanden, eine kleine Arbeitsecke eingerichtet. Da standen Schreibmaschine, Korrespondenzschränkchen – und auf dem ovalen Mitteltischchen in einer festgeschraubten, kostbaren Vase ein großer Strauß seltener Rosen. In einem geschlossenen Umschlag lag ein Kärtchen mit dem Namen Stephens und darunter getippt: »Verlassen Sie Tom nicht.«
Da stieg ein seltsam warmes Gefühl in ihr auf für den alten Artisten, den unheimlichen Riesen, der ganz tief auf dem Grund seiner von Frauenhaß erfüllten Seele dennoch die Frau in ihr grüßte, jene Frau, die ihm vielleicht vor vielen, vielen Jahren vorgeschwebt haben mochte als ein Ideal. Und so ergriffen war sie von einer starken Rührung, daß sie es nicht merkte, wie wisperndes, kicherndes Lachen sich durch den schmalen Gang hinzog, aufflackerte gleich einer lustigen Flamme und dann plötzlich verstummte, wie eine Flamme erlischt unter einem Sturzbad ...
Etwas später sah sie in den großen Gepäckwagen Hutschachteln, Körbe verladen, die sie nicht kannte, sah den Zipfel eines hellen Kleides hinter einer Tür verschwinden. »Was sind das für Frauen, Winter?«
»Mädchen, die zum Personal gehören, gnädige Frau,« sagte die Winter ausdruckslos.
»Zum – Personal ...?«
»Mister Quick meinte, man sollte sie ausprobieren, ob sie sich für Kingstown eignen.«
»So ... ja.«
»Und wer hat das zu beurteilen?«
Die Winter schwieg, stellte die Reiseschreibgarnitur auf.
»So ... ja ...,« wiederholte Wanda nochmals und wendete sich ab, während ihr tiefe Röte in die Schläfen stieg. Sie fragte nicht mehr.
Sie sah die Mädchen auch nicht. Sie hatten wohl strengen Befehl, sich nicht vor ihr zu zeigen. Sie waren jenseits der Bibliothek untergebracht, nahe dem Gepäckwagen – da wo Stephens mit seinem Nigger und Mister Quick gewohnt hatte. Wanda hatte sich nie dorthin verirrt.
Sie sah die Mädchen nicht. Fühlte sie nur. Lebte mit ihnen in Gedanken in einer beschämenden, entwürdigenden, atemraubenden Nähe. Ihre Hand zitterte, wenn sie ihrem Mann bei Tisch gegenübersaß. Tom King unterhielt sich fast ausschließlich mit seinem Trainer, einem brummigen älteren Mann, der erst in den Boxerhandschuhen zum Leben erwachte, und der, wenn Tom King nicht in Form gewesen war beim Training, fürchterliche Flüche in Wanda unverständlichem Kauderwelsch vor sich hinstieß. Er wurde nie anders als »Trainer« gerufen.
Einmal beim Frühstück, unbekümmert um Wandas Anwesenheit, mit der er nie mehr als einen stummen, gleichgültigen Gruß auszutauschen pflegte, schlug er mit der Faust auf den Tisch, und Wanda hörte, wie er etwas sagte, was dem Sinn nach hieß: »Du bist ein gottsjämmerlicher schlapper Kerl geworden, seit du dir die Weiber zugelegt hast, wie ein Pascha. Um die Points zu zählen, wird man dir keine Hunderttausende hinwerfen. Ich hab' dich satt, Tom. Du bist mir widerlich. Kannst Florett fechten, brauchst nicht zu boxen. Wenn das so weitergeht, wird dich ja der Bob bald überflügeln.«
»So, der Bob trainiert?« Tom King lächelte fast belustigt.
Trainer blinzelte ihn ärgerlich an. »Kannst dich ja mal messen mit ihm. Ich denke, er will dir eine Überraschung machen mit seiner Kunst. Ein Bengel! Ein Körper! Leichtgewichtboxer prima Klasse.«
»Ach was! Schon?«
»Wird er werden ... ja gewiß, wird er werden! Wie der trainiert! Der Koch – hundertfünfzig Kilo – ist ihm gestern vom Tisch herunter auf den Magen gesprungen – dreimal! Der Bengel hat nicht mal geniest, Du, ... Mach's ihm nach. Wenn dir eines von den Weibern vom Fußbänkchen auf den Magen springt – schreist du Au! so wie du heute bist.«
Tom King bekam einen roten Kopf. »So wie ich heute bin – kann ich dir deinen Schädel noch immer zu Brei an die Wand klatschen ... Bob ... Bob!«
Tom King war aufgesprungen, hinter der Tür verschwunden, die er zuschlug, daß die Fenster klirrten. Wanda saß bleich und reglos am Tisch. Die Schüsseln standen da noch halbgefüllt. Es war das erstemal, daß sie eine solche Szene erlebte, daß sie Tom King so sah, daß sich ihr die grobe Innenseite dieser Athletenarbeit so deutlich offenbarte. Die Schönheit, die Idealität der von ihr vergöttlichten Kraft, wurde zur rohen Vertierung. Sie schluckte schwer. Das Herz schlug ihr bis in den Hals hinauf.
Der Zug hielt. Vom Gepäckwagen her hörte man heftiges Aufstampfen. Rhythmisch fast. Minutenlang. Es hörte auf ... setzte wieder ein ... hörte abermals auf.
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung.
Jemand trug die Teller ab. Es war die Winter. Das tat sonst Bob. Wanda saß noch immer wie festgenagelt auf ihrem Stuhl.
»Was geht vor?« fragte sie.
»Mr. King macht ein paar Runden mit Bob, gnädige Frau.«
Und dann plötzlich wurde die Tür von außen aufgerissen. Tom King, nackt bis zum Gürtel, in langen Hosen, die Boxerhandschuhe noch über den Fäusten, die Brust von Blut bespritzt, stand auf der Schwelle. Seine Augen sprühten. Sein mächtiger Brustkasten hob und senkte sich, wie von einem Blasebalg in Bewegung gesetzt. Sein Haar klebte naß an seinen Schläfen, aus der Nase tropfte ihm das Blut tiefrot und schwer. Seine Zähne blitzten.
»Bob! Hast du gehört ... Bob? Willst du ihn sehen? Frage ihn mal, ob er aufstehen kann, frag' ihn. Ein Floh ist er ... ein Springfloh ... springt mir übers Kinn, haut auf den Nasenrücken aus der Luft herunter ... großes Kunststück! Dem hab' ich's gezeigt, dem frechen Bengel. Heimlich, verstehst du, heimlich hat er geübt. So ein Lausejunge! Ich hätte ihm ein paar Ohrfeigen geben müssen, statt mich mit ihm zu messen.«
Und nun lachte er. Lachte ... brach ab. » What's the matter?«
Wanda sah ihn an, starr. Wie einen ganz Fremden. Ganz leises Frösteln flog ihr über den Rücken, und ihre Mundwinkel zogen sich herab wie in leisem, mühsam zurückgedrängtem Ekel – –
Einmal, mitten in der Nacht, durchgellten wilde Hilferufe den Wagen. Wanda fuhr erschreckt aus dem Schlaf, warf einen Schlafrock um. Aber schon war die Winter bei ihr. »Die Rosa kriegt eben Prügel, und den Boy Bill wollte Mr. King zum Fenster hinauswerfen. Bob und der Koch haben es noch im letzten Augenblick verhindern können. Aber sowie der Zug hält, und sei es auch in einem Tunnel, sollen die beiden ausgesetzt werden.«
Wanda drückte auf die Klinke. »Ich muß zu meinem Mann.«
»Nicht, gnädige Frau ... bitte, nicht.«
Wanda war zu schwach, um zu befehlen. Ihr war es, als sausten diese für sie unhörbaren, fürchterlichen Schläge nicht auf den Rücken nur eines Weibes herab, sondern als würde ihr ganzes Geschlecht mißhandelt von den schweren Fäusten. Er durfte sich nicht so erniedrigen – durfte nicht. »Tom,« rief sie, »Tom!« Das Rattern des Zuges verschlang ihren Ruf, wie er das immer schwächer werdende Schreien des Mädchens verschlang.
»Stehen Sie nicht hier,« bat die Winter. »Es ist nicht gut, gnädige Frau, wenn Mr. King Sie jetzt sieht.«
Der Regen peitschte an die Fensterscheiben. Das Licht einer zur Hälfte grün verhängten Deckenlampe verlieh dem rollenden Schlafgemach geisterhafte Trostlosigkeit. »Bleiben Sie, Winter ...«
Wanda konnte einem nervösen Zittern ihres Körpers nicht wehren. Noch nie hatte Wanda Verlangen gehabt nach eines anderen Menschen Nähe als nach der ihres Mannes. Aber es war tödliche Angst in ihr, wenn sie dachte, er könnte jetzt hereinkommen. Sie könnte ihn sehen, so wie sie ihn nie sehen zu müssen geglaubt hatte; in der entstellenden Fessellosigkeit eines wilden Wutausbruchs.
»Bleiben Sie, Winter.«
Die Winter breitete stumm eine warme Flauschdecke über den bebenden Körper, rückte die Kissen zurecht. In dem dunklen Spalt zwischen ihren schweren Lidern schimmerte es feucht. Aber vielleicht schien es Wanda nur so. Die Winter war keine von den Weichen.
Wanda wußte nicht, was hinter der hohen, freien, von schwarzem Haar gerahmten Stirn vorging. Sie hatte sich nie viel um Untergebene gekümmert. Mehr Ablenkung war es ihr von eignen quälenden Gedanken und eigner Angst, als sie jetzt fragte: »Sie sollen bei der Großfürstin Kyrill in Dienst gewesen sein. Eine schöne Frau war die Großfürstin. Als ganz junges Mädchen war ich mit meinen Eltern bei ihr zu Besuch in Petersburg.«
Die Winter holte von irgendwo ein Lächeln hervor, ein fast mädchenhaftes Lächeln, das sich seltsam ausnahm in ihrem tragischen Gesicht. »Ich weiß, Durchlaucht hatten sich damals auf der Jagd einen Fußknöchel verstaucht und konnten nicht mit zum Hofball. Ich machte damals die Umschläge ...«
»So. Sie machten die Umschläge ... Sie?«
Wanda richtete sich in den Kissen auf. Plötzlich ganz lebhaft, der Gegenwart völlig entrückt. Das war es also! Die Winter kannte sie ... von damals. Aus jener Zeit, da es noch Große gab und Niedere, aus jener Zeit, da eine Frage eine Unbotmäßigkeit, einseitiges Erkennen eine Dreistigkeit war. Darum hatte sie nichts davon erwähnt und wäre auch weiter stumm geblieben, wenn sie jetzt nicht hätte Antwort geben müssen auf ihre Fragen. Als hätte eine liebe, altbekannte Hand nach der ihren gegriffen, so war Wanda plötzlich zu Mut.
»Ja, ganz verschwommen erinnere ich mich. Sie waren ein hübsches, junges Ding. Ich glaube sogar, wir haben viel gelacht an jenem Abend und ... ja richtig, weil ich wissen wollte, wie ein schönes Hofkleid auf mir ausgesehen hätte, habe ich Sie gebeten, es überzuwerfen ... wissen Sie noch, Winter? Johanna Räber ... ja, ja, Johanna ... Jetzt weiß ich's genau.«
Ihre glücklichen, frohen, festlichen Mädchentage erstanden vor ihr, mit den buntbewegten Bildern ihres stolzen, freien Lebens in sicherer Hut eines gütigen Vaters.
»Dann heirateten Sie, Johanna.«
»Ja, gnädige Frau.«
»Aus Liebe?«
»Ja, gnädige Frau.«
»Was war Ihr Mann? Stallmeister?«
»Ja, gnädige Frau.«
So befangen war Wanda von den Bildern aus ihrer Vergangenheit, daß ihr die Einsilbigkeit nicht auffiel.
»Wann ist er gestorben, Ihr Mann?«
»Vor ... vor acht Jahren.«
»Woran?«
Es kam keine Antwort. Im Wagen war es fast dunkel.
»Wollen gnädige Frau nicht schlafen?« Ganz heiser klang die Stimme der Winter, und ihr Gesicht war ganz im Schatten, da sie jetzt auf dem Hocker saß, zu Füßen des schmalen Lagers.
»Nein, Johanna, jetzt möchte ich nicht schlafen, jetzt nicht. Es ist alles so seltsam im Leben. Schicksale, Begegnungen – Knoten, die sich schürzen und wieder lösen. Furchtbar muß es für Sie gewesen sein, wie Ihr Mann starb.«
»Furchtbar, gnädige Frau,« kam es dumpf zurück.
»Wo gingen Sie da hin – zu wem?«
Die Kammerfrau machte eine Bewegung, als wollte sie zur Tür hinausstürzen, dann sank sie in sich zusammen – und ohne Wanda nur ein einziges Mal anzusehen, reihte sie Worte an Worte – rollte sie ihr Leben auf mit all den Schrecknissen, die es für sie gehabt, sprach ... sprach ... leidenschaftlich, atemlos – wälzte sich Steine von der Seele, auf die Gefahr hin, von ihnen zermalmt, vernichtet zu werden.
»Ich ging nicht. Man nahm mich fest. Acht Jahre habe ich gesessen. Im Gefängnis gesessen. Zwei wurden mir meiner guten Führung wegen erlassen. Und eigentlich hatte ich lebenslängliches Zuchthaus verdient ... denn mein Mann ... ich habe ihn umgebracht. Mit dem Brotmesser. Ich hielt es gerade in der Hand – als er kam. Betrunken ... sinnlos ... nach einer Nacht, die ich auf dem Boden der Küche zugebracht hatte, während in meinem ehelichen Bett eine andere lag ... Ich weiß nicht, die Wievielte ... ich habe sie nicht mehr gezählt. Damen waren es zuerst ... feine, elegante Damen, als wir noch unsere schöne Wohnung hatten, mit den irischen Spitzen an den Kissenbezügen ... Dann ging's bergab ... mit der Wohnung, dem Verdienen ... den Frauen, die er im Trunk mitbrachte auf eine Stunde oder zwei ... bis es Mägde wurden, Dirnen von der Straße, die er die ganze Nacht über behielt ... denen ich aufwarten mußte ... Unser Schlafzimmer sperrte er ab vor mir ... nicht ein Kissen warf er mir hinaus ... Auf alten Teppichen schlief ich, auf Lumpen ... Am nächsten Tag umklammerte er meine Knie, küßte meine Hände. Er wäre ein Schuft ... ich sollte ihm verzeihen. Nie wieder würde er ... nie wieder ... Ich glaubte ihm einmal, zehnmal, zwanzigmal. Ich fand nicht den Mut fortzugehen ... Ich war – wie sagte der Dichter damals – würdelos war ich. Würdelos. Ich hätte meine Sachen nehmen und hübsch gesittet und empört Adieu sagen sollen. Das habe ich nicht gekonnt. Dazu langte meine Kraft nicht. Aber in der höchsten Verzweiflung, und weil ich ihn und mich nicht mehr kannte, führte meine arme, verkrampfte Hand einen Stoß mit dem Brotmesser ... es hätte auch eine Federpose sein können. Zufällig war es ein Brotmesser gewesen. Aber so etwas glaubt kein Dichter, und so was erzählt man lieber nicht. Eine Stunde hat er noch gelebt, eine ganze Stunde. Er wollte keinen Arzt, keine Hilfe. Er wollte nur seinen Kopf an meine Schulter legen und einschlafen ... schlafen. Ich wußte nichts mehr. Das Frauenzimmer kam in die Küche, den Kaffee holen. Da sah sie mich mit dem blutigen Messer in der Hand ... ja, und dann kam es eben, wie es mußte. Weil ich würdelos gewesen war. Acht lange Jahre, weil ich würdelos gewesen war ...! Am liebsten wäre ich ganz dort geblieben ... was sollte ich noch draußen? Da hieß es, ein amerikanischer Wohltäter, der sich entlassener Sträflinge annähme, hätte gefragt, ob man ihm nicht ein paar Frauen besonders empfehlen könne. Er wolle sie drüben in guten Stellungen unterbringen. Das war Mr. Quick. Die Frau unseres Gefängnisdirektors und die des Gefängnisarztes, für die ich arbeitete, und die die bestangezogenen Damen der Stadt waren, setzten sich für mich ein. So wurde ich angenommen. Und als Mr. Quick vom Direktor noch mehr über mich erfuhr, da sagte er, ich könnte einen Posten als Kammerfrau bekommen bei der Prinzessin Hoheneck von den Hohen-Steineck. Da war es mir, als täte sich das Leben noch ein zweites Mal vor mir auf – und wenn ich jetzt gehen muß – –«
Ihre Stimme brach entzwei wie dürres Holz. Es kam keine Antwort. Der Winter brannte es in der Brust wie Feuer. Der Gaumen war ihr wie ausgedörrt. Sie hielt die Hände unter ihrem Kinn verschränkt. Ihr Atem ging rascher als die Umdrehung der Achse, ihre sonst tiefherabgesenkten Lider waren weitgeöffnet, und ihre erloschenen, tiefeingebetteten Augen suchten in der Dunkelheit die Umrisse eines einzigen vertrauten Gegenstandes, der ihr Halt geben könnte in diesem Augenblick völliger Preisgabe.
»Wenn ich jetzt gehen muß ...,« wiederholten ihre Lippen, ohne daß es ihr so recht zum Bewußtsein kam.
Da spürte sie eine Hand auf ihrem Arm und noch eine ... Fühlte, wie die Hände sie zogen und niederzwangen auf die Flauschdecke, fühlte die Schwere eines feinen, schmalen Kopfes auf ihrer Schulter. Spürte heiße Tropfen, die auf ihre Finger herabfielen wie glühendes Siegellack, und hörte eine Stimme, die sagte:
»Wenn wir lieben ... Johanna ... so lieben ... dann sind wir wohl alle würdelos ... alle!«
* * *