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In der Löwengrube auf der Techt ging alles seinen gewohnten Gang. Meister Daniel war nicht viel zu Hause, sondern strich mehr in der Stadt auf Neuigkeiten umher und brachte fast nur noch zu den Mahlzeiten die gemachte Beute heim, die dann von geschwätzigen Zungen zerlegt und von gierigen Ohren verschlungen wurde. Frau Gesche, geborene Mushund, thronte nähend auf ihrem erhöhten Fenstersitz in der Utlucht und ließ so leicht kein Lüneburger Menschenkind auf der Straße vorübergehen, ohne ihm eine mehr oder minder liebevolle Bemerkung anzuhängen, zu welcher der allezeit schlagfertige Timmo dann auch noch seinen Senf gab und Hans die geeigneten Gesichter schnitt. Auf diese Weise wurde Timmo in alle Familienverhältnisse der Stadt eingeweiht, und da er gelehrig und spaßhaft, wie er war, auf alles einging, so wurde seine Stellung zu seiner Brotherrin immer vertrauter und freundschaftlicher. Selbst an die abschreckende Häßlichkeit der Meisterin gewöhnte er sich allmählich, weit rascher aber an die guten Bissen, die sie ihm dann und wann zuschob, und sein Blutwurm schien sich dabei außerordentlich wohl zu befinden, denn er rührte und regte sich nicht. Dennoch fehlte dem Gesellen etwas. Schon mehrere Wochen war er in Lüneburg und hatte noch keine Gelegenheit zu einem recht ausgesucht lustigen Streiche gefunden, der die halbe Stadt in Bewegung gesetzt und die ganze von ihm reden gemacht hätte. Er tröstete sich indessen mit der Hoffnung, daß sich eine solche Gelegenheit vielleicht bei seiner feierlichen Einfahrt in die Gesellen-Brüderschaft am nächsten blauen Montag finden möchte, und es war ihm durchaus nicht zuwider, wenn er dabei zugleich den Hennebergs, besonders dem Alten, der ihn so schroff behandelt, und der hochmütigen Tochter, die ihn so kurz abgewiesen hatte, einen kleinen oder auch einen großen Possen spielen könnte.
Dieser Gedanke beschäftigte ihn auch an dem Spätnachmittag, an dem im Goldenen Ei zwischen Vater und Sohn so harte Worte fielen, ohne daß er ahnte, wie nahe ihm die Erfüllung dieses Wunsches war; denn Arnold erschien in der Schusterwerkstatt, die er bis jetzt noch mit keinem Fuß betreten hatte, und erschien mit einem Gesicht, auf dem mit großen Lettern geschrieben stand, daß etwas Außerordentliches vorgefallen sein mußte.
»Ei, ei, dem Herrn Sülfmeister sein Ältester! Eine ganz ungewohnte Ehre für uns arme Schustersleute!« sagte sich erhebend Frau Gesche mit einem glücklich zuwege gebrachten Lächeln, das in seiner Ausdehnung so ziemlich von einem Ohre bis zum anderen reichte.
»Nichts für ungut, Frau Meisterin, wenn ich ungelegen komme!« sprach Arnold.
»Wo ist dir denn die Petersilie verregnet?« lachte Timmo. »Oder ich könnte auch sagen: du siehst aus wie ein Lohgerber, dem die Felle weggeschwommen sind.«
»Kannst du mitkommen?« fragte Arnold.
»Gewiß, auf der Stelle!«
»Es ist aber noch sehr früh«, bemerkte Frau Gesche in übler Laune darüber, daß sie den des Ausfragens so würdigen und gewiß sehr ergiebigen Besuch so schnell wieder verlieren sollte. Aber Timmo drückte mit einem bedeutsamen Blick die linke Hand auf sein Herz und die Meisterin schwieg. Er legte die Arbeit beiseite und machte sich zum Ausgehen bereit, während Frau Gesche sich angelegentlich nach Arnolds lieben Seinigen erkundigte und von diesem kurze, ihr viel zu kurze Auskunft erhielt. Dann gingen die beiden Gesellen und ließen Frau Gesche, geborene Mushund, allein mit ihrer schlechten Laune und mit Hans, der seiner Meisterin ein ganz gottserbärmliches Gesicht zuschnitt,
»Du machst mal wieder ein Gesicht, Junge, wie drei Tage Regenwetter«, schalt Gesche.
»Habt Ihr denn nicht gesehen, Meisterin, wie Timmo nach dem Herzen griff ?« erwiderte Hans. » Der Blutwurm zwickte ihn gewiß wieder.«
»Nun gehen sie zur Hombrokschen und tragen der das schöne Geld hin«, brummte Gesche, ohne sich auf den Blutwurm näher einzulassen. –
Arnold lenkt mit Timmo von der Techt aus nicht rechts nach dem Innern der Stadt, sondern links herum nach dem Kalkberge zu.
»Wo denn hinaus?« fragte Timmo. »Sollen wir nicht einen Krug Eimbecker trinken?«
»Nein«, entgegnete Arnold, »ich muß an die Luft, hinaus ins Freie!«
Sie gingen auf dem hochgelegenen Wall entlang; Arnold unterrichtete den Freund von dem, was zu Hause vorgefallen war, und schloß seinen Bericht mit den Worten: »Nun rate, nun hilf mir!«
»Das ist zu toll«, sprach Timmo, der sich beim Hören seinen Plan schon halb fertig geschmiedet hatte. »Du, ein Meisterssohn, sollst das Amt nicht eschen dürfen, wann du willst? Und sollst nicht heiraten dürfen, wen und wann du willst? Das wäre ja noch schöner! Höre, Bruder, das ist eine Sache, die nicht bloß dich betrifft, das geht uns alle an, alle ehrlichen Handwerksknechte in der ganzen Stadt; das müssen wir zusammen ausfechten, alle für einen und einer für alle.«
»Hast wohl recht, Bruder«, sagte Arnold; »aber wie sollen wir das anfangen? Ja, wenn wir alle einig wären unter uns!«
»Oh, darin sind wir einig«, rief Timmo. »Hast du schon einmal einen Handwerksknecht gefunden, der ganz zufrieden gewesen wäre? Hier haben wir schon zwei Punkte, die uns die Meister nachgeben müssen, erstens das Selbstherrwerden und zweitens das Heiraten; aber es wird sich schon noch mehr finden, und solange sie nachgeben, solange fordern wir, bis wir genug haben.«
»Aber wenn sie nun nicht nachgeben?«
»Dann machen wir einen Aufbruch, ziehen auf Freiung, schelten die Meister und verrufen die Stadt.«
»Glaubst du, daß du alle Handwerksknechte in der Stadt dazu herumkriegst?«
»Sie müssen, sie mögen wollen oder nicht. Wer nicht mittut, kommt selbst in Verruf. Bruder Arnold, in längstens zehn Tagen von heute gehen wir auf grüne Heide!«
»Timmo! Auf grüne Heide!« sprach Arnold erschrocken und blieb stehen.
»Nun, was erschrickst du? Ich werde nicht der einzige sein in Lüneburg, der diesen Weg schon einmal gegangen ist und wär ich's auch, laß mich nur machen, ich weiß Bescheid damit. Zunächst müssen wir es unter allen Brüdern in sämtlichen Handwerken heimlich herumbringen und Ort und Stelle bestimmen. Du sollst sehen, sie kommen, sie kommen alle; laß mich nur machen!«
»Dein Plan ist kühn, und wenn er gelingt, will ich dich loben.«
»Es muß gelingen, es kann gar nicht fehlschlagen, und eine günstigere Zeit konnten wir dazu gar nicht treffen. Jetzt ist ein großer Streit in der Stadt, und es frägt sich, wie sich Bürgerschaft und Handwerksämter dabei stellen werden, ob auf seiten des Rates oder auf seiten der Prälaten. Wir Handwerksknechte bilden die große Mehrzahl, man braucht uns, man kann uns gar nicht entbehren. Tun die Meister uns den Willen, so gehen wir mit ihnen, sei es nun gegen den Rat oder gegen die Prälaten. Tun sie uns den Willen nicht, so gehen wir zu ihren Feinden über, sei es zum Rat oder zu den Prälaten. Kurz, wer uns beisteht, dem stehen wir wieder bei, und auf jeden Fall haben wir einen mächtigen Bundesgenossen. Siehst du das ein?«
»Freilich, freilich«, sagte Arnold nachdenklich, »aber wie fangen wir das an?«
»Da müssen wir eben zu Leuten gehen, die solcher Dinge Verstand haben«, sprach Timmo mit überlegenem Lächeln. »Ich habe hier in der Stadt einen guten Freund, klug, geschickt, unternehmend wie kein zweiter; der hilft uns, wo er weiß und kann, und er ist mir gewissermaßen verpflichtet. Du kennst ihn gewiß; es ist Herr Heinrich Sengstake.«
»Sengstake?!« fuhr Arnold auf. »Der ist dein Freund? Der ist dir verpflichtet?«
»Pst! Nicht so laut!« machte Timmo und sah sich scheu um. »Siehst du, eine Hand wäscht die andere. Mein Meister Daniel Spörken, der kommt viel herum in der Stadt, erfährt alles, weiß alles und erzählt uns alles zu Hause, und ich, ich erzähle es wieder meinem Freunde Sengstake, der immer gern wissen will, wie Bürger und Handwerker denken über den Rat und nach wessen Seite sich dieser oder jener neigt, was wohl von diesem oder jenem zu erwarten ist; na, du verstehst mich wohl, Bruder.«
»Vollkommen«, sagte Arnold.
»Siehst du, Bruder, das ist unser Mann! Der kennt die alten Satzungen noch und die Rollen der Gilden in anderen Städten und gibt uns klugen Rat, was wir von den Meistern verlangen sollen. Weißt du was, Bruder? Komm! Wir gehen hin zu ihm, er wird dir gefallen, und wenn dir einer in deiner Sache helfen kann, ist er es. Komm, Bruder, komm!«
Arnold zögerte doch, auf diesen Vorschlag einzugehen, eingedenk des Auftrittes, den er in seines Vaters Werkstatt mit Sengstake erlebt hatte. »Sengstake wird mich übel empfangen«, sagte er. »Als er zuletzt unsere Gelegenheit besah, ist er in Unfrieden von uns geschieden.«
»So machst du jetzt deinen Frieden mit ihm«, entgegnete Timmo. »Wenn ich dich zu ihm bringe, wird er dich schon gut aufnehmen, und du kommst ja nicht als Abgesandter deines Vaters.«
Das leuchtete Arnold ein, und sie gingen, während inzwischen schon tiefe Dämmerung eingetreten war, zu dem gefährlichen Manne, der ein Haus am Sande besaß, unterwegs beredend, wie sie ihm ihre Angelegenheit am schicklichsten vorstellen sollten.
Heinrich Sengstake saß schreibend allein in einem bescheiden ausgestatteten Gemach und glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen, als Timmo mit dem Sohne des Sülfmeisters, seines meistgefürchteten und gehaßten Gegners bei ihm eintrat. Aber blitzschnell machte er sich auch klar, daß der, den sein vertrauter Zuträger, der Schusterknecht Timmo bei ihm einführte, nicht als sein Feind kommen konnte, sondern wahrscheinlich als ein Rat und Hilfe Suchender. Darum bezwang er sein Erstaunen und empfing beide Gesellen mit gleich zuvorkommender Freundlichkeit, als wäre die Erinnerung an jenen peinlichen Auftritt im Böttcherhause aus seinem Gedächtnis völlig entschwunden.
Nicht so schnell wurde Arnold seiner Verlegenheit Herr, und er wollte eben eine Entschuldigung vorbringen, als ihm Timmo das Wort abschnitt und dem ehemaligen Stadtschreiber mit großer Zungenfertigkeit und ohne lange Umschweife den Zweck ihres Besuches auseinandersetzte. Sengstake hörte aufmerksam zu. Regungslos wie ein lauernder Geier saß er da, die schmalen Lippen fest zusammengekniffen, die stechenden grauen Augen in dem fahlen Gesicht mit der leicht gekrümmten Nase und dem spitzen Kinn unverwandt auf den Sprecher gerichtet, dem er mit keiner zustimmenden Meinungsäußerung, mit keiner Bewegung des Kopfes oder der Hand zu Hilfe kam. Kaltblütig abwartend ließ er Timmo ausreden, während in seinem Innern die Entschlüsse schon keimten und reiften.
Arnold Hennebergs Wohl oder Wehe war ihm sehr gleichgültig, aber dem Sülfmeister gönnte er, wie alles Böse, auch das Zerwürfnis mit seinem Sohn, und hochwillkommen war ihm Timmos Absicht, daraus einen Kriegsfall für das gesamte Handwerk zu machen und einen allgemeinen Aufstand der Knechte gegen die Meister hervorzurufen, wenn diese, was so gut wie außerhalb der Möglichkeit lag, nicht auf die Forderungen jener gutwillig eingingen. Schon mehr als einmal war der kühne Gedanke durch Sengstakes Kopf geflogen, Meister und Gesellen in Lüneburg zu entzweien, um beide beherrschend sich bald der einen, bald der anderen zu seinen Zwecken bedienen zu können. Es hatte ihm bisher nur an einer rechten Handhabe gefehlt, diese Entzweiung geschickt einzufädeln und in gehörige Spannung zu bringen. Und nun – er hätte vor Vergnügen auflachen mögen – nun kam ihm die Gelegenheit auf zweimal zwei Füßen entgegen. Nun hieß es zugreifen und die sich entfachende Glut schüren, ohne sich selber die Hand zu verbrennen, die er bald genug mitten im Spiele – nein, führend und lenkend am Steuer haben wollte.
»Meine lieben jungen Freunde!« begann Heinrich Sengstake mit der größten äußerlichen Ruhe und Freundlichkeit, »ich danke euch für das Vertrauen, das ihr mir entgegenbringt und das an mir wahrlich nicht zuschanden werden soll, soweit ich euch mit meinen Kräften und Kenntnissen dienlich sein kann. Ich sehe ein, daß eure Wünsche nicht ungerecht und unbillig sind, und soviel ich mich aus den Urkunden erinnere, hatten die Handwerksknechte in alten Zeiten schon die Rechte, die ihr jetzt gern wieder haben möchtet, und die nur auf Antrieb der Handwerksmeister oder aber des Rates – das kann ich in diesem Augenblick nicht bestimmt entscheiden – erst später zu euren Ungunsten geändert worden sind. Nun würde ich euch des lieben Friedens willen raten, die Sache ganz offen und ehrlich vor eurer ehrbaren Meister Augen ins Werk zu richten, wenn euch nicht alle öffentlichen Zusammenkünfte streng verboten wären. Es bleibt euch also leider nichts anderes übrig, als euch im geheimen darüber schlüssig zu machen. Jugend hat nun aber mal keine Tugend, wie es im Sprichwort heißt, und damit dabei alles in Ruhe und Ordnung zugeht und ihr euch nicht etwa durch jugendliche Ungestümlichkeit zu ungerechten und unbilligen Forderungen gegen eure ehrbaren Meister hinreißen laßt und euch dadurch nur selber in Ungelegenheiten bringt, so ist es nötig, daß ein älterer, besonnener und erfahrener Mann an euren Beratungen teilnimmt, und da ihr mich nun einmal in euer günstiges Vertrauen gezogen habt, so bin ich gern bereit, mit euch auf grüne Heide zu gehen. Aber«, setzte er hinzu, als er das Aufleuchten in den Augen seiner beiden andächtigen Zuhörer bemerkte, »nur unter der Bedingung, daß meine Teilnahme an eurer Versammlung vorher wie nachher streng verschwiegen bleibt und daß ihr euch meinen wohlmeinenden Winken und Anordnungen bis zum völligen Austrag eures Zwiespaltes mit den Meistern bereitwillig fügt und nichts tut oder unterlaßt, als was ich euch zu tun oder zu lassen rate und heiße. Sagt diese Bedingung allen euren Brüdern, und wenn ihr mir am Abend eurer Zusammenkunft die unverbrüchliche Folgsamkeit aller Handwerksknechte versprechen und verbürgen könnt, so sollt ihr einen guten Freund und Führer an mir haben.«
»Mit Freuden!« rief Arnold und reichte dem Arglistigen die Hand zum Bunde.
»Nichts leichter als dies!« sagte Timmo. »Und was nun die einzelnen Punkte unserer Forderungen betrifft –«
»Halt!« unterbrach ihn Sengstake. »So etwas bespricht sich am besten bei einem guten Trunk. Ich lade euch hiermit freundlich zu einem Becher Wein im Ratskeller. Da sind wir zu dieser Stunde ganz ungestört und können dort in aller Ruhe miteinander beraten. Nicht wahr? Ihr kommt mit.«
Sie nahmen die Einladung, ganz entzückt von des gewandten Mannes gefälligem und verbindlichem Wesen, mit allem Dank an, und Sengstake fügte darauf hinzu: »Und wenn es euch recht ist, so ziehen wir dabei noch einen vertrauten und erfahrenen Freund von mir zu Rate, der noch dazu ein trefflicher Kumpan beim vollen Becher ist, Herrn Hans Dalenborg.« Auch damit waren die beiden Gesellen gern zufrieden und brachen nun mit ihrem gütigen, heimlich frohlockenden Wirt auf, um Herrn Hans Dalenborg abzuholen und in dessen Gesellschaft zur mehreren Besprechung und Besiegelung des Bündnisses in den Ratsweinkeller hinabzusteigen. –
Als Balduin Viskule bald nach seines Vaters Ankunft im Böttcherhause von dort wegging, begleitete ihn Gilbrecht und blieb bis gegen Abend mit dem Freunde zusammen. Dann erinnerte er sich seines schon längst beabsichtigten Vorhabens, den alten Ratskellermeister in des Rates großem Weinkeller zu besuchen und bei ihm das Handwerk zu grüßen, denn er hielt sich ja selber wenigstens für einen halben Küfer. So begab er sich denn nach dem Rathause und die Treppe hinab zu den weiten, hochgewölbten Kellerräumen mit den dicken Mauern und Pfeilern, wo die reichen Weinvorräte lagerten, lange Gänge kreuz und quer führten, verschiedene Trinkstuben, abgesondert oder verbunden, zum Zechen einluden und die grauen Steinwände, nur spärlich beleuchtet, in feuchtem Glanz schimmerten.
Ganz hinten war die behaglich eingerichtete und mit einem Kamin versehene Trinkstube für die Ratsherren, die hier manche trauliche und wichtige Besprechung ganz geheim beim Wein zu halten pflegten. Dies war ursprünglich ein einziger großer, mit einem Kreuzgewölbe überspannter Raum gewesen, der aber nun schon seit langer Zeit durch nicht ganz bis zur Decke reichende Zwischenwände in mehrere Gemächer geteilt war; man konnte jedoch in keinem derselben hören oder gar verstehen, was in einem anderen gesprochen wurde. Die zwei sich an den äußersten Enden schräg gegenüberstehenden und durch andere, dazwischenliegende, getrennten Gemächer waren das eine die Herrenstube für den Rat und das andere das Stübchen für den Ratskellermeister, wo er mit seinen Büchern, Kerbhölzern und Proben hantierte, das er fast nie von einem anderen Menschen betreten ließ, und aus dem er jeden Gast, der ihn dort aufsuchte, sofort in einen anderen Raum führte. Den Grund davon sagte er niemand.
Der vieljährige, getreue Ratskellermeister Ambrosius von dem Rhyne war ein alter Freund Meister Gotthard Hennebergs, und Gilbrecht hatte schon als Junge seinen Vater manchmal zu jenem begleiten dürfen. So wußte er denn Bescheid im Keller und ging nicht fehl, als er seinen alten Gönner hier unten aufsuchte. Er fand ihn in seiner Küferstube, wie er eben in jeder Hand ein halb gefülltes Glas hielt, um die Farbe der beiden Sorten Wein vor einem brennenden Wachslicht zu prüfen.
»Glück herein, Meister Ambrosius! Gott ehr' ein ehrbar Handwerk!« rief Gilbrecht fröhlich.
Der Alte stellte die beiden Gläser behutsam auf den Tisch und sagte, als er den Gast erkannt hatte: »Gilbrecht! Jung! Kommst du endlich zu dem alten Kellerwurm? Das freut mich! Sei willkommen wegen des Handwerks! Habe schon von dir gehört, bist am Rhein, an meinem lieben, schönen Rhein gewesen, bist ein Küfer geworden, das freut mich! Warte, Jung! das müssen wir feiern, kommen ja doch so jung nicht wieder zusammen.«
Er führte Gilbrecht in das Nebengemach, das nach dem an die Ecke gemalten Reichsadler die Adlerkammer hieß, verschwand dann und kam mit einer Flasche und zwei Holzbechern zurück, die an Rand und Fuß mit Silber beschlagen waren. »Hier«, sagte er, »Ratsherrenwein! Der beste, der den Herren für ihren Ehrenstand gegeben wird. Koste, Jung, koste! – Hm! Nicht wahr? Gott sei gepriesen und gedankt für diese Rebe!«
»Amen, Meister Ambrosius!« sagte Gilbrecht und trank zum anderen Male. »Euch zum Wohle, großgünstiger Freund!«
»Danke, danke! Aber, du lieber Gott! Es wird nicht viel helfen, ich werde bald den letzten Becher geleert haben. Das einzige, was bei mir noch einigermaßen Stich hält, ist die Zunge und allenfalls die Nase; mit dem übrigen sieht es klapperig genug aus.«
»Davon merkt man Euch nichts an, Meister Ambrosius«, sprach Gilbrecht freundlich und trank wieder. »Ein köstlicher, herrlicher Tropfen!«
»Das soll wohl sein!« lächelte der Alte. »Jung, weißt du was? Du wirst mein Nachfolger. Stille, stille! Du wirst mein Nachfolger, sag' ich; du wirst einmal Ratskellermeister von Lüneburg; denk' an den alten Ambrosius, der hat's gesagt. Ich will dich auch einweihen in alle Kellergeheimnisse, sollst alles wissen, was ich weiß, wo die Alten lagern und die Jungen, und alles, was ich weiß, sollst du auch wissen. Nur eins, nur ein Geheimnis, das sag' ich dir erst auf meinem Sterbebette, denn es ist ein großes, ein merkwürdiges Geheimnis und du mußt mir schwören, es zu hüten und zu bewahren, wie ich es getan habe, bis du es wieder deinem Nachfolger in die Ohren raunst, wie ich es von meinem Vorgänger erhalten habe; es ist ein großes, ein merkwürdiges Geheimnis, und kein Mensch weiß es außer mir; nur der Ratskellermeister darf es wissen, kein Ratsherr und kein Bürgermeister.«
So plauderte der Alte, und der Junge hörte lächelnd und trinkend zu. Fast eine Stunde saßen sie beisammen. Meister Ambrosius fragte nach diesem und jenem, wie es am Rhein stehe, und fühlte seinem Liebling auf den Zahn nach allerlei Küferarbeit, und Gilbrecht bestand die Prüfung gut zur Freude des Alten. Endlich brach er auf und gelobte gern, zuweilen wieder vorzusprechen.
Als er die Treppe heraufkam, war es fast dunkel geworden, aber er sah doch noch, wie vier Männer gerade auf den Eingang zum Keller herzuschritten. Gilbrecht barg sich hinter einem der dicken Pfeiler in dem überdeckten Bogengange des Rathauses, weil er nicht gern als ein aus dem Weinkeller Kommender gesehen werden wollte.
Die Männer kamen heran, und Gilbrecht erkannte sie, ihre Gestalten, ihre Gesichter, ihre Stimmen. Es war Arnold, sein Bruder Arnold mit Sengstake, Dalenborg und dem Schusterknecht Timmo. Wie war es nur möglich? Was sollte das bedeuten?
»Gewiß, Herr Sengstake!« sagte Arnold im Vorübergehen. »Auf uns könnt Ihr Euch verlassen.«
Gilbrecht hatte diese Worte seines Bruders deutlich verstanden, nicht aber Sengstakes Erwiderung darauf. Ihn grauste fast.
Die vier stiegen in den Keller hinab, ohne Gilbrecht zu sehen, und er ging wie betäubt nach Hause, aber mit dem Vorsatz, vorläufig zu schweigen.