Julius Wolff
Der Sülfmeister
Julius Wolff

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Zehntes Kapitel

»Wo denn schon hin?« fragte Frau Johanna am anderen Morgen ihren Mann, als sich dieser zu einem Ausgang fertig machte.

»Ins Rathaus, Johanna«, erwiderte er.

»Gotthard! Ins Rathaus?«

Der Meister lächelte und wies mit dem Zeigefinger in tippender Bewegung nach dem Fußboden hin.

»Was soll das denn heißen?« fragte sie wieder. »Und du lachst dabei?«

»Unten, unten! In den Ratsweinkeller!«

»In den Weinkeller? Am frühen Morgen schon? Aber Mann!«

»Ambrosius hat gestern zweimal nach mir geschickt, ich soll kommen und rasch, sonst könnte es leicht zu spät werden. Er wird wohl wieder einen guten Rheinischen umgefüllt haben, den ich kosten soll; da will ich nun doch schnell hin, ehe er das Faß wieder zuschlägt. Ich weiß, ich mache dem Alten eine Freude damit.«

»Grund genug für einen Trunk Wein!« lachte Johanna.

»Ich habe auch noch einen anderen Weg«, sagte Meister Gotthard nun ernsthaft. »Mir geht die Geschichte mit der Hildegund im Kopfe herum; ich will zu Hans Laffert und mit ihm darüber sprechen. Es wird ja immer ärger mit dem Buben- und Pfaffenregiment; wohin soll das noch führen, wenn sie's so weiter treiben? Ich glaube, Johanna, es wird bald Zeit, daß wir Gewalt brauchen.«

»Wenn es sein muß, Gotthard, dann in Gottes Namen! Ich halte dich nicht mehr zurück.«

Er drückte ihr die Hand und sagte: »Ich wußte es wohl. Am Ende schnallst du auch noch den Harnisch an wie unser tapferes Mädchen, die Ilsabe.«

»Das wohl nicht«, lächelte sie, »aber dir helfe ich dabei und raune heimlich meinen alten Wundsegen dazu. Nun geh nur und grüße mir den braven Ambrosius!«

Er nickte und ging seines Weges.

Als er durch die Straße An den Brodbänken kam, stand Dörgerloh in der Tür seines Bäckerladens und streckte ihm treuherzig die Hand entgegen. Meister Gotthard ergriff sie auch und schüttelte sie.

»Henneberg, wohin?« fragte Dörgerloh.

»Das sollt Ihr nicht raten, Herr Ratsherr!« erwiderte Meister Gotthard scherzend.

»Und darf's auch nicht wissen?«

»O ja! In den Weinkeller eines hochedlen Rates, Gott bessere ihn!«

»Den Keller oder den Rat?«

»Nein, den Rat, Dörgerloh, den Rat!«

Dörgerloh drohte mit der Faust, und Meister Gotthard ging lachend davon. Dörgerloh war ein ehrlicher Mann, der an dem nichtsnutzigen Tun und Treiben auf dem Rathause keinen Anteil hatte, wenn er auch mit im Rate saß. Das wußte Meister Gotthard und versagte ihm daher seine Achtung nicht, obschon er sein Gegner war.

»Hm! Je größer die Nase, je größer auch der Sonnenschein darauf«, sprach er zu sich selber und rieb sich die Nase; »oder soll ich heute noch was Neues erfahren? Gutes gewiß nicht, das kommt in Lüneburg jetzt nicht auf.« Dann schritt er die Stufen zum Keller langsam hinab.

Der Ratskellermeister saß in einem alten Lehnstuhl im hintersten Winkel seines Stübchens. Als Meister Gotthard mit freundlichem Gruß eintrat, erhob sich Ambrosius und sagte: »Endlich! Wie lange habt Ihr mich warten lassen!«

»Mein Gott!« sprach der Gescholtene, »habt Ihr's denn gar so eilig!«

Ein guter Trunk und ein guter Rat
Kommt nimmer zu früh und selten zu spat.«

»Diesmal hätte der gute Rat doch leicht zu spät kommen können, Gotthard!« erwiderte Ambrosius. »Und was den guten Trunk anbetrifft – nun, Ihr werdet daran zu schlucken haben, bis Ihr ihn herunterkriegt.«

»So sauer ist er?«

»So sauer und bitter wie Galle!«

»Wenn er nur halb so sauer ist wie das Gesicht, daß Ihr dabei macht, Ambrosius, so verlangt mich nicht sehr danach. Ihr seht ja aus, als wäre Euch über Nacht aller Wein im Keller umgeschlagen.«

»Laßt Eure Späße, Gotthard!« erwiderte der Alte. »Setzt Euch da in die Ecke in meinen alten Tröster und hört mich ruhig an.«

Gotthard gehorchte, höchlich verwundert über des Alten seltsame Laune.

Ambrosius begann: »Als mich vor einiger Zeit Euer Gilbrecht besuchte und mir erzählte, daß er am Rhein die Küferei gelernt hätte, sagte ich ihm, daß er einmal mein Nachfolger hier im Keller werden würde, und versprach ihm, ihn in alles treulich einzuweihen, was einem Ratskellermeister zu wissen nutz und nötig ist. Hat er Euch das nicht gesagt?«

»Jawohl, hat er«, nickte Gotthard.

»Gut. Ein Geheimnis aber, ein großes merkwürdiges Geheimnis, das seit langen, langen Jahren immer nur von einem Kellermeister auf den anderen erbt und das sonst kein Mensch in der Welt weiß und wissen darf, das wollte ich Eurem Sohne erst in meiner Sterbestunde sagen, wenn ich sicher wäre, daß er mein Nachfolger würde. Hat er Euch das auch gesagt?«

»Nein!«

»Nicht! Braver Junge, der Gilbrecht! – Gotthard, die Stunde ist früher gekommen, als ich dachte – nein, nein, nicht meine Sterbestunde, mein' ich«, fügte er schnell hinzu, als sein Gast ihn betroffen anblickte; »ich meine die Stunde, wo ich nicht Eurem Sohne, sondern Euch selber dieses merkwürdige Geheimnis offenbaren muß, denn es handelt sich dabei um ein Menschenleben, um Euer Leben, Gotthard!«

Der Böttcher sah den Kellermeister wieder an und dachte sich dazu: ›Der Alte wird schwach im Kopfe.‹ Der mochte wohl dem anderen den Gedanken vom Gesicht lesen, denn er sagte: »Ich bin so nüchtern wir Ihr, Gotthard, und so klar im Kopfe wie mein klarster Wein im besten Fasse. Wartet's nur ab! Gotthard, Eure Hand darauf, daß Ihr mein Geheimnis mit ins Grab nehmen wollt!«

Sie reichten sich die Hände, und Ambrosius fuhr fort: »Bleibt mal still in dem alten Tröster da sitzen und verhaltet Euch ganz ruhig.« Dann ging er, die Tür hinter sich schließend, hinaus und ließ seinen Gast in dem noch immer nicht besiegten Zweifel allein, ob er hier wirklich hinter ein sonderbares Geheimnis kommen sollte, oder ob sich Ambrosius, vielleicht doch nicht richtig im Kopfe, einen etwas weitgehenden Spaß mit ihm erlauben wollte. Aber dazu tat der Alte zu wichtig, sah zu ernsthaft dabei aus, und sich mit Gotthard Henneberg einen schlechten Spaß zu machen, war niemand zu raten.

Während Meister Gotthard in Ambrosius' Lehnstuhl noch darüber nachsann und tiefes Schweigen ihn umgab, vernahm er plötzlich neben sich, hinter sich, über sich – er wußte selber nicht wo – von einer schauerlich tönenden, geisterhaft gedämpften Stimme die deutlichen Worte:

»Kommt Henneberg in den blauen Turm, so bleibt er auch darin, entweder lebendig oder tot.«

Gotthard fuhr in die Höhe wie von einer Feder emporgeschnellt. Was war das? Wer hatte hier gesprochen? Woher die Stimme, die rätselhaften Worte? Er blickte sich ringsum; aber er war allein. Da klang es wieder in demselben Tone: »Antwortet, wenn Ihr mich verstanden habt!«

Dem starken Manne ward unheimlich zumute, doch er; antwortete: »Ich habe verstanden.«

Gespenstisch rief es zurück: »Gut, schweigt! Ich komme!« Dann blieb alles still. Gotthard befand sich in einer tiefen Erregung; der Inhalt der zuerst gehörten Worte hatte ihn ganz verwirrt gemacht.

Da trat der Kellermeister wieder ein. »Ambrosius, was treibt Ihr für Teufelsspuk mit mir?« fuhr ihn der Böttcher an. »Was sollen die drohenden Worte vom blauen Turm bedeuten? Habt Ihr sie gesprochen?«

»Ja, ich habe sie hinten in der Ratsherrentrinkstube gesprochen, dem nachgesprochen, von dem ich sie vorgestern hier gehört habe.«

Meister Gotthard blickte den Alten steif an. »Wer hat sie gesagt?« fragte er dann.

»Das weiß ich nicht genau«, erwiderte Ambrosius, »die Stimmen sind schwer zu unterscheiden; es klang wie Dalenborgs Stimme.«

»Dalenborg?«

»Ja, er und Schupper und Sengstake waren mit dem Propst von Lüne vorgestern in der Ratsherrentrinkstube.«

»Und hier kann man hören, was dort gesprochen wird?«

»Ihr habt es ja eben gehört. Seht!« fuhr der Alte zu dem immer mehr Erstaunenden fort. »Das Kreuzgewölbe geht über vier Stuben weg; die Zwischenwände sind nicht ganz bis an die Decke geführt, ein kleiner Raum ist offen geblieben, um der Luft einen Übergang zu schaffen. Nun seht Ihr dort an den Gurtbogen eine durchgehende, hohl ausgekehlte Steinrippe; die trägt den Schall von einem Ende zum anderen. In der Mitte, in den Zwischenräumen hört man nichts, in den entgegengesetzten, äußersten Ecken aber versteht man jedes laut gesprochene Wort, und der Ratskellermeister von Lüneburg muß immer ein verschwiegener Mann sein, denn er erfährt auf diesem Wege manches, was von den hochvermögenden Herren dahinten in der Trinkstube beim Wein verhandelt wird. Nun wißt Ihr mein Geheimnis; bewahrt es treu, Gotthard! Ihr habt mir die Hand darauf gegeben!«

»Seid ohne Sorge!« erwiderte Meister Gotthard. »Habt Ihr noch mehr gehört?«

»Nicht viel und nichts so Wichtiges wie das, was ich Euch gesagt habe. Sie sprachen anfangs zu leise, aber daß man Euch in den blauen Turm locken will, habe ich ganz deutlich, Wort für Wort gehört.«

»Sagt es noch einmal«, bat Gotthard.

»Kommt Henneberg in den blauen Turm, so bleibt er auch darin, entweder lebendig oder tot.«

»Lebendig oder tot!« wiederholte Meister Gotthard. »O ihr verfluchten Schurken! Im blauen Turm sitzt Viskule, und sein Schließer ist Dippold, mein bester Freund und mein bester Feind! Hahaha! Gut ausgedacht! Das wäre Sengstakes würdig. Ambrosius, jetzt bitt' ich selber um einen Trunk.«

»Sollt Ihr haben, Freund! Sollt Ihr haben!« sprach Ambrosius und holte Wein. Dann setzten sie sich beide zum Trinken an den kleinen Tisch; aber Meister Gotthard war wortkarg und sann und grübelte.

»Sie wollen Euch ans Leben, Gotthard«, sagte Ambrosius, »die Schufte sind zu allem fähig.«

Der Böttcher antwortete nicht, und Ambrosius fing nach einem längeren Schweigen wieder an: »Was gedenkt Ihr nun zu tun?«

»Ambrosius«, erwiderte Gotthard, »Ihr habt mein Wort, daß ich schweigen werde; ich verlange auch das Eure. Vertraut keinem Menschen, was Ihr mir gesagt habt, es sei denn –«

»Es sei denn?«

»Ambrosius, ich gehe in die Falle, die sie mir stellen wollen, und ich hoffe, ich komme auch wieder heraus, aber dann wehe ihnen!«

»Ihr wollt in den Turm gehen, Gotthard?« fragte Ambrosius erschrocken. »So hab' ich Euch umsonst gewarnt?«

»O nein! Ich werde Vorsicht brauchen, daß ich nicht darin bleibe, weder lebendig noch tot. Sollte ich aber doch eines Tages verschwunden sein, so wißt Ihr, wo man mich zu suchen hat.«

»Der Allmächtige verhüte es!«

»Ambrosius, mit solchen Schurkenstreichen hat sich der alte Rat nie befleckt. Wenn der das wüßte, der hier über uns sitzt!«

»Wen meint Ihr?«

»Nun, Springintgut im steinernen Weinfaß.«

»Lieber Gott! Das hätt' ich bald vergessen. Der ist nicht mehr hier.«

»Was? Ambrosius! Wo ist er?«

»Sie haben ihn heimlich in der vorigen Nacht wegbringen lassen in den neuen Turm.«

»In den neuen Turm? O schändlich! Schändlich! Woher wißt Ihr's?«

»Als die vier neulich hier im Keller waren, mußte ich dem Gefangenen einen Becher Wein hinauftragen, zum Abschiedstrunk, sagte Dalenborg. Ich verstand nicht, was er damit meinte; nachher ist es mir klargeworden. Und Springintgut ist krank, sie ließen ihn elend verkommen, klagte er mir. Gut, gut, daß Ihr mich daran erinnert habt! In der Sorge um Euch hätt' ich es bald vergessen; er hat auch noch ein Wort für Euch gehabt.«

»Für mich? Was ist's? Schnell!«

»Ich bin mit einem der Knechte bekannt, die ihn in der Nacht wegbringen mußten, und der hat mir's erzählt. Als sie Springintgut aus dem steinernen Weinfaß heraufholten und ihm ankündigten, wohin sie ihn bringen sollten, ist er aufs tiefste erschrocken, hat in seiner Schwäche den Blick nach oben gerichtet und mit zitternder Stimme den Ausruf getan: ›Sülfmeister, räche mich!‹«

Gotthard sprang auf: »Ambrosius! Das hat er gesagt? Sülfmeister, räche mich!? Das Wort soll wahr werden, Ambrosius, oder ich will mir den Tod aus diesem Becher getrunken haben!« Einen Augenblick stand er und stierte, in Sinnen verloren, vor sich hin. Dann, wie nach gefaßtem Entschlusse, brach er schnell auf und rief in Hast: »Lebt wohl, Ambrosius! Habt Dank und schweigt, bis der Tag zum Reden gekommen ist!«

In Gotthard Hennebergs Seele war Sturm; Gedanken wie Blitze und Zornglut wie rollender Donner durchtobten seine Brust. Er ging nicht zu Hans Laffert und auch nicht nach Hause, sondern begab sich zu Schnewerding, dem Amtsmeister der Harnischmacher und Plattenschläger, der etwas versteckt in der Straße Auf dem Meere wohnte. Nicht rechts, nicht links sah er auf diesem Wege, grüßte niemand, kannte niemand; den Blick starr auf den Boden geheftet wandelte er dahin wie eine finstere Wetterwolke, der zu nahen, Tod und Verderben bringt. Er wußte kaum, wie er zu seinem Ziel kam, und als er vor Schnewerdings Hause stand, hatte er Mühe, wenigstens äußerlich die Ruhe zu wahren.

In der Werkstatt nahm er den Waffenschmied beiseite und sagte: »Schnewerding, die Saat ist reif, wir müssen sie mähen.«

»Gott sei gelobt!« rief Schnewerding. »Wann?«

»Still! Höre mich an!« sprach Gotthard. »Kannst du heute nach der Vesperglocke vier oder fünf unserer sichersten Männer hier bei dir versammeln, daß wir's bereden?«

»Gewiß! Wen willst du haben?«

»Vor allem Schuttenhelm. Kerkrink, Stephan, Bartels –«

»Hans Laffert?«

»Nein, er ist der Beste und Treueste und folgt uns nachher doch; aber er ist zu milde und auch schon zu alt.«

»Aber Peter Flachs, der Gerber.«

»Peter Flachs, ja!«

»Und einen noch – Eekholt.«

»Eekholt? Den Ratsfeind?«

»War er, jetzt hält er zu uns; ich stehe für ihn!«

»Gut denn! Aber ohne Aufsehen! Laß sie still und heimlich kommen; noch darf keiner etwas ahnen.«

»Verlaß dich auf mich, Henneberg! Herr Gott im Himmel, wie werden sie jubeln!«

»Auf Wiedersehn!«

»Jawohl!« –

Der erste Schritt zum Aufstand war getan. Gotthard Henneberg war entschlossen, Freiheit und Ehre seiner Stadt zu retten um jeden Preis, auch mit fließendem Blut. Auf dem Wege nach Hause glaubte er noch einmal den geisterhaften Ton und die drohenden Worte vom Gewölbe in der Stube des Kellermeisters zu hören; aber weit erschütternder packte ihn ein anderes Wort. Das kam nicht von den halb verschmachteten Lippen eines einzelnen mißhandelten Menschen – die ganze Stadt Lüneburg rief es ihm zu. Jeder Luftzug hauchte es ihm ins Ohr, jeder Sonnenstrahl brannte es ihm ins Herz; die klingenden Glocken, die die Stunde schlugen, liehen ihm ihre eherne Stimme, die sprudelnden Brunnen murmelten es mit ihren fallenden Tropfen, die Steine auf den Straßen, die Ziegel auf den Dächern hallten es wider; aus jeder Haustür und aus jeder Giebelluke rief es: »Sülfmeister, räche mich!«


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