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Die Zwei Tage, seitdem Gilbrecht um die Verschwörung der Gesellen wußte, waren vergangen; nun war es Donnerstag, und wenn heute Tag und Nacht sich schied, sollte der Aufstand auf grüner Heide beredet und beschlossen werden. Bis jetzt war das Geheimnis gut bewahrt; niemand außer den Beteiligten ahnte etwas davon, und wenn sich zwei Handwerksknechte auf der Gasse begegneten, so blieben sie nicht flüsternd stehen, sondern nur ein pfiffiges Lächeln und Nicken oder das blinzelnde Zukneifen eines Auges war das Zeichen hoffnungsvollen Einverständnisses. Um so schwerer trug Gilbrecht daran, und je näher die verhängnisvolle Stunde rückte, je unruhiger ward er. Kein gut- oder böswilliger Zufall, kein schuldiger oder unschuldiger Mensch befreite ihn von der traurigen Gewissenspflicht, den Angeber seiner Mitgesellen zu machen und noch im letzten Augenblick den Ausbruch der Verschwörung womöglich zu verhindern. Mehr als einmal in diesen Tagen war er drauf und dran gewesen, Arnold beiseite zu nehmen, um ihn mit allen Mitteln der Überredung zu bewegen, daß er um seiner selbst und um des Vaters willen der heimlichen Versammlung fernbliebe. Arnold hatte jedoch jedes Alleinsein mit ihm vermieden, hatte ihm auf jede versuchte Anknüpfung eines Gespräches entweder gar keine oder eine so kurze abweisende Antwort gegeben, daß dem jüngeren Bruder das Wort des Vertrauens in der Kehle steckengeblieben war. Der Abend dämmerte, und Gilbrechts Unruhe wuchs dermaßen, daß er sich schon dadurch Arnold beinahe als Wissender verraten hätte.
Gleich nach dem Abendbrot ging Arnold fort – Gilbrecht wußte wohin. Jakob blieb, und Gilbrecht warf dem treuen Burschen einen Blick voll Dankbarkeit und Freundschaft zu, den jener nicht bemerkte oder nicht verstand. Er verweilte gegen seine Gewohnheit noch längere Zeit in der Stube, vielleicht mit der Absicht, dachte Gilbrecht, um über seine Enthaltung von der Gesellenversammlung später keinen Zweifel aufkommen zu lassen. Endlich aber begab er sich, wie er stets nach dem Abendbrot zu tun pflegte, mit Lutke hinaus auf die Diele, und Gilbrecht war nun mit den Eltern und Ilsabe allein. Er leerte auf einen Zug seinen noch halb gefüllten Becher und stieß ihn heftig auf den Tisch. Dann stemmte er beide Ellenbogen auf, stützte den Kopf in die Hände und starrte trübselig vor sich hin. Dieses ungewöhnliche Benehmen war den Seinigen höchst auffällig; sie sagten aber nichts und saßen still um ihn herum. Endlich kam aus seiner Brust ein tiefer Seufzer, der wie ein Stöhnen klang. Er nahm die Hände vom Kopf und sagte: »Vater, komm mit! Ich muß dir etwas sagen.«
Meister Gotthard erstaunte, rührte sich aber nicht vom Stuhl. Frau Johanna warf ihrem Mann einen halb lächelnden, halb flehenden Blick zu und gab Ilsabe einen Wink, worauf sich die beiden Frauen aus dem Zimmer entfernten.
Arme Mutter! Du wähnst, dein lieber Sohn wolle dem Vater das verschämte Geständnis seiner Liebe machen, auf die du Glück und Hoffnung baust, und ahnst nicht, daß er seinen Bruder, auch dein lieber Sohn, des Verrats an Kindespflicht und der Empörung gegen Ordnung und Gesetz beschuldigen will.
Als Gilbrecht, den Kopf wieder in seine Hand gestützt, dem Vater allein gegenübersaß und immer noch schwieg, fragte dieser etwas ungeduldig: »Junge, was hast du? Was willst du von mir?«
»Ich bring' es nicht heraus, Vater.«
»Sei vernünftig, und wenn ich's wissen muß, so sag's, was du auf dem Herzen hast. Kennst mich doch! Wir beide werden in Frieden fertig miteinander.« So redete der Meister dem tief Erregten gutmütig zu und umfaßte warm seine Hand, die zur Faust geballt auf dem Tische ruhte. Er vermutete ganz dasselbe wie Johanna und wollte seinem wackeren Sohne bei dessen Liebesbekenntnis auf halbem Wege entgegenkommen. »Gib deinem Herzen einen Stoß! Wird ja wohl nicht gleich davon zerbrechen«, lächelte er aufmunternd, als der Bedrängte noch immer keine Worte fand.
Gilbrecht sah ihn verzweifelt an.
»Vater, heut abend«, würgte er qualvoll heraus, »heut abend – gehen sie auf grüne Heide.«
Des Meisters Hand schnellte von der des Sohnes zurück, als hätte sie rotglühendes Eisen berührt.
»Gilbrecht! Was soll das heißen? Wer geht auf grüne Heide?«
»Die Handwerksknechte, alle, sie machen einen Aufstand.«
»Hier in Lüneburg?«
Gilbrecht nickte.
»Arnold auch?«
Gilbrecht nickte.
»Mit dem Schuster?«
Gilbrecht nickte.
»Wo?«
»Hinter dem Mönchsgarten.«
»Was wollen Sie denn?«
»Das weiß ich nicht. Mir haben sie's verheimlicht, nur ganz zufällig erfuhr ich's.« Nun erzählte er dem Vater, wie ihm Timmo in der Trunkenheit den Plan wider Willen und Wissen verraten hätte, und verschwieg auch nicht, daß er vorgestern vor acht Tagen Arnold mit Sengstake, Dalenborg und Timmo hätte in den Ratsweinkeller gehen sehen.
»Sengstake?!« rief der Meister. »Hole mir mein langes Schwert, Gilbrecht!«
»Du willst hin?«
»Ja, mein Sohn, ich will hin!«
»Soll ich mitgehen, Vater?«
»Nein! Niemand darf wissen, daß du es mir gesagt hast; nur schnell das Schwert! Das alte, lange, nicht das von dir.« Gilbrecht eilte, und als er damit zurückkam, war der Meister in Mantel und Hut.
»Was sag' ich der Mutter und Ilsabe, wenn sie fragen?«
»Die Wahrheit – nein! Noch nicht. Weise sie an mich; es wäre nicht dein Geheimnis. Geh nicht zu Bett, bis ich zurück bin. Kommt Arnold, so läßt du ihn ein und schweigst.« Dann drückte er dem Sohn die Hand und ging.
Der Mönchsgarten im Nordwesten der Stadt war ein Sommersitz des Abtes vom Michaeliskloster. Dahinter befand sich noch Wald, die Lutmunde genannt, der sich beinah bis an die Landwehr erstreckte, aber stellenweise auch schon gelichtet war. Eine solche Lichtung, ein mäßig großer, von Eichen und Kiefern mit Unterholz und Gebüsch umgebener Platz, war zum Versammlungsort der Handwerksknechte ausgewählt worden und eignete sich auch gut dazu, denn er lag nahe der Stadt und doch geschützt, einsam und versteckt.
Die Gesellen waren, um keinen Verdacht zu erregen, zu verschiedenen Toren hinausgegangen und hatten den Torwärtern gesagt, sie wollten sich draußen im Freien ihre Mummenscherze und Narrentänze für die Kopefahrt einüben, man möchte sie also später ungehindert wieder einlassen. Die von Hause aus wirklich Unzufriedenen bildeten in der mehrere Hunderte zählenden Versammlung vielleicht die Minderheit, denn im allgemeinen waren die Handwerksknechte in Lüneburg nicht schlechter gestellt als anderswo. Allein betört von des wortgewandten Darmstädters aufreizenden Sticheleien und Vorspiegelungen, womit er sie sowohl auf eigene Faust wie auf Dalenborgs und Sengstakes Antrieb unablässig bearbeitete, wurden auch die Bescheideneren unter ihnen allmählich zu dem Glauben bekehrt, daß sie in ihrer Freiheit allzusehr beschränkt wären und ein besseres Los verdienten. Einer wurde vom anderen angesteckt und verleitet, und so ließen sie sich bald vereinigt zu Forderungen hinreißen, die ihnen nur billig und gerecht deuchten, deren Durchführung sie aber zu schwer verantwortlichen Beschlüssen und gefährlichen Schritten führen mußte. Timmo, der die Verschwörung angezettelt und den anderen erst die Raupen in den Kopf gesetzt hatte, sah dem Ausgang der Sache mit Gleichmut entgegen, denn der sehr geschickte Gesell fand überall im Reiche sein Fortkommen und hatte bei seinem Meister und seiner ihn teils liebenden, teils wegen seines fabelhaften Blutwurms fürchtenden Meisterin ein so gutes Leben und so viel freie Zeit, daß er am wenigsten zu irgendwelchen Klagen berechtigt war. Ihm machte das Ding aber Spaß aus Freude an Händel und Verwirrung und als willkommene Abwechslung im alltäglichen Einerlei. Dazu kamen die Eitelkeit und der Ehrgeiz, eine Rolle zu spielen, der Anführer in einem recht gewagten Streiche und der einflußreichste aller Handwerksknechte zu sein, mit dem die Stadt verhandeln mußte, wenn sie Frieden haben wollte. Daß er mit einem, ihm selbst kaum wahrscheinlichen Siege nebenbei seinem Freunde Arnold Henneberg vielleicht zu einem früheren Meisterwerden und zur Heirat mit Ursula Dippold verhelfen konnte, zog er nicht weiter in Betracht, als daß er wünschte, sich beim Austrag auch dieser besonderen Angelegenheit den Ruf eines Wohltäters und Retters zu erwerben. Arnold dagegen, von Leidenschaft verblendet, hoffte wirklich von dem Gelingen des Aufstandes eine entschiedene, ihm günstige Wendung seiner Herzensangelegenheiten. Dalenborg und Sengstake wieder hatten mit der Verschwörung ganz andere Absichten. Ihnen lag gar nichts daran, daß der Aufstand durch Sieg oder Niederlage der Handwerksknechte ein schnelles Ende erreichte. Ihnen kam es vielmehr darauf an, die Sache hinzuziehen, um dem Rate, den Meistern und der ganzen Bürgerschaft mit der bald näher, bald ferner zu rückenden Gefahr einer gewaltsamen Empörung drohen und dadurch den einen oder die anderen zu Entschlüssen und Maßnahmen nach ihren Wünschen treiben zu können.
Es war ein dunkler Abend, der Himmel mit schweren Wolken umzogen, die nur selten einen matten Schimmer des Mondes durchließen. Als Meister Gotthard den Wald hinter dem Mönchsgarten betreten hatte, verriet ihm in geringer Entfernung ein zwischen den Baumkronen zuweilen aufflackernder Feuerschein die Stelle, wo er die Aufrührer zu suchen hatte. Darauf zugehend, vernahm er auch bald das Getöse von vielen Stimmen und konnte deutlich die Stille, während der wahrscheinlich ein einzelner sprach, von dem dumpfen Brausen unterscheiden wenn die Menge der Hörer den Redner unterbrach oder ihm antwortete. Die Unvorsichtigen hatten keine Wachen ausgestellt, und da sie eben in heftigen Auseinandersetzungen begriffen waren, so ward es Meister Gotthard nicht schwer, ungesehen und ungestört im Gebüsch so nahe an die Versammlung heranzukommen, daß er jedes gesprochene Wort deutlich verstehen und beim Scheine mehrerer Feuer, die auf dem Platze brannten, die Gesichter der Redenden erkennen konnte.
Die von harzigen Kiefernzweigen genährten Feuer beleuchteten funkensprühend die verschiedenartigsten Gestalten. Da stand mancher breitschultrige, protzige Saufaus und Habenichts, der sich schon wer weiß wo den Wind hatte um die Nase gehen lassen, die Faust keck in die Hüfte gestemmt oder die nervigen Arme über der Brust gekreuzt, Hut oder Kappe schief auf dem Ohr, eine Narbe im wettergebräunten Gesicht, mancher schlanke, blühende Gesell, dem der erste blonde Flaum um Kinn und Wangen sproßte, und auch mancher blutjunge Bursche mit glattem Mädchengesicht, der die Lehrlingsschuhe kaum ausgezogen hatte und doch schon den Mißvergnügten spielte und sich wunder was dünkte, daß er mitschreien durfte, wenn die anderen schrien. Viele hatten sich einen grünen Zweig oder eine Feder an den Hut gesteckt, um bei dem wichtigen Anlaß geschmückt zu erscheinen, viele trugen Stöcke, und einige waren sogar bewaffnet. Der Feuerschein zuckte über lachende und erregte, über frohe und finstere Gesichter und tanzte flackernd um die rotbraunen Kiefernstämme, während der Rauch zum dunklen Himmel aufwirbelte und sich in die schwärzlichen Wipfel der Bäume schmiegte. Die Angehörigen eines und desselben Handwerks hielten sich möglichst zusammen, aber mischten sich zuweilen auch unter die anderen, und das erste Feuer, das sich dem Versteck des Meister Gotthard am nächsten befand, umstanden einige Wortführer fast aller vertretenen Handwerke. Dort stand auch Timmo und hinter ihm Dalenborg und Sengstake, um stets bereit zu sein, dem vorgeschobenen Leiter des Ganzen im rechten Augenblick das Stichwort zuzuflüstern. Es hatte anfangs einigen Widerspruch seitens der älteren Gesellen gegeben, als der eben erst zugewanderte Schusterknecht sich ohne weiteres des Vorsitzes in der Versammlung bemächtigen wollte, allein auf einige klug angebrachte Worte Sengstakes hatte man ihn in diesem Amte bestätigt, und er führte es sehr geschickt, war dabei ganz Leben und Bewegung. Er hatte seinen Stock vor sich in die Erde gesteckt und hielt als Regiment einen kurzen Stab in der Hand, mit dem er auf den Stock aufklopfte, wenn er Ruhe gebieten wollte.
Über die einzelnen Bedingungen, die man den Meistern stellen wollte, hatte sich die Versammlung bereits vor der verspäteten Ankunft Meister Gotthards verständigt, doch gewann er, hinter einer mannshohen Kiefer verborgen, davon Kenntnis, als Heinrich Sengstake das Wort nahm und sprach:
»Also, liebe Freunde, eure hauptsächlichsten Wünsche sind zunächst die folgenden: Eine zweijährige Mutzeit, die kein Meister ohne Vollbord des ganzen Handwerks unterbrechen darf und nach welcher jeder Knecht berechtigt sein soll, das Amt zu eschen sonder Gefährde.«
»Sonder Gefährde!« tönte es als lauter, vielstimmiger Widerhall von den Gesellen zurück.
»Ferner, der Zwang, ins Amt zu heiraten, das heißt, daß ein Knecht, der nicht Meistersohn ist, nur dann Meister werden kann, wenn er sich mit der Tochter oder Witwe eines Meisters aus derselben Gilde befreit, ist inkünftig und für alle Zeiten aufgehoben.«
»Jawohl! Null und nichtig für alle Zeiten! Weg damit! Wollen keine Witwe!« Schallendes Gelächter folgte dem letzten, etwas nachklingenden Rufe.
»Drittens wollt ihr alle drei Wochen einen guten Montag sowie –«
»Alle vier Wochen!« unterbrach ihn ein einzelner.
»Alle drei Wochen!« schrien sie nun mit einer wahren Wut. »Alle zwei Wochen! Alle drei Wochen!«
»Also alle drei Wochen einen guten Montag«, fuhr Sengstake fort, als er sich wieder Gehör verschaffen konnte, »sowie abends an den Werktagen eine, am Sonntag zwei Stunden länger Urlaub, und wenn ein fremder Gesell zugewandert kommt oder einer aus Lüneburg auswandert, so soll das Handwerk, zu dem er gehört, an dem Tage von Glocke fünf der Arbeit ledig –«
»Nein, nein!« unterbrachen sie ihn wieder stürmisch von allen Seiten. »Nicht erst um fünf; den ganzen Nachmittag, den ganzen Nachmittag wollen wir frei haben!«
»Gut!« sprach Sengstake. »Wie ihr wollt. Also den ganzen Nachmittag, sobald ihr mit euren Meistern zu Mittag gegessen habt.«
»Jawohl! Jawohl! So ist's recht!« riefen sie.
»Seid ihr euch nun über die vorbedachten Punkte einig? Und ist das alles, was ihr verlangt?«
»Ja, ja! Das ist alles. Vorläufig. Fangen wir mal damit an, das Weitere findet sich!« antworteten sie keck.
»Nun müßt ihr aber auch unverbrüchlich zusammenhalten«, fuhr er fort, »ohne Wanken, ohne Bangen und Zagen, dürft nicht ruhen und rasten, bis ihr alles erreicht habt, und dürft vor keinem Mittel zurückschrecken.«
»Das tun wir auch nicht! Je toller je besser!«
»Gut! Sehr gut. Aber wie gedenkt ihr es denn anzufangen?« fragte Sengstake wieder.
Jetzt schwiegen sie und schienen über die Art und Weise des Vorgehens gegen ihre Meister unschlüssig und verlegen. Ein Fleischerknecht machte den Vorschlag: »Bei der Kopefahrt am Abend, sowie die Kope verbrannt ist, tut sich jedes Handwerk zusammen und zieht vor sein Gildehaus, wo die Meister dann beisammen sind. Zwei, auch drei von uns gehen hinein und sagen den Meistern Bescheid, und wenn sie uns nicht alles nachgeben, so dringen die anderen nach, zeigen ihnen, daß es Ernst ist, und lassen keinen heraus, bis sie Willen machen.«
»Ja, ja! Zur Kopefahrt, zur Kopefahrt! Hurra, die Kopefahrt!« schrien sie.
Da trat Arnold vor und sprach: »Nein, Brüder, zur Kopefahrt nicht! Unser altes Lüneburger Sülzfest dürfen wir nicht stören. Da ist auch zu viel Volks auf den Beinen, und am Abend ist keiner mehr recht klar im Kopfe.«
»Der Bruder Böttcher hat recht«, sprach jetzt Timmo, »das wollte ich auch eben sagen. Die Kopefahrt wollen wir uns nicht verderben. Wir müssen es anders anfangen.«
»Ja wie denn? Wie denn? Wenn du es besser weißt, Darmstädter!« riefen ihm die Brauer zu, und eine Menge andere schrien mit.
»Nur Ruhe!« rief Timmo und klopfte mit dem Stab auf den Stock. »Ich will's euch gleich sagen.«
»Ruhe! Laßt den Schuster reden! Die Bäcker schnattern wie die Gänse. Ruhe da drüben, ihr Schneiderseelen! Ruhe!« So tobten sie wild durcheinander.
»Wenn ihr mein Wort nicht hören wollt, Brüder«, fing Timmo wieder an, als es endlich still geworden war, »so will ich diesen Platz räumen und ein anderer –«
»Nein, nein, nein! Bleib da, Schuster! Wir wollen ruhig sein. Ruhe!«
»Wir müssen unter uns Eintracht halten, liebe Brüder«, sprach Timmo, »sonst sind wir gleich verloren, in der Eintracht liegt unsere ganze Stärke.« (Sengstake nickte den Gesellen rechts und links bedeutungsvoll zu.) »Also mit der Kopefahrt, das ist nichts. Ich schlage vor: einen oder ein paar Tage nach der Kopefahrt rotten wir uns auf dem Markte alle zusammen und machen so viel Lärm wie nur irgend möglich. Dann werden sie schon kommen und uns fragen, was wir wollen; dann tragen wir den Meistern unsere Forderungen mit füglichen Worten vor und stellen ihnen eine Frist von drei oder fünf Tagen zur Entscheidung. Wollen sie in der Zwischenzeit mit uns freundlich verhandeln, so mögen sie's tun; aber nachgeben, nicht wahr, Brüder? Nachgeben tun wir nicht!«
»Nein, nein! Kein Haar breit!« riefen die Gesellen, einander an Trotz überbietend.
»Und arbeiten tun wir auch nicht, bis wir Bescheid haben.«
»Nein, arbeiten tun wir auch nicht!« jubelten sie.
»Und wenn dann«, fuhr Timmo fort, »die Meister nach der ihnen gesetzten Frist uns nicht alles bewilligen, so machen wir einen Aufbruch und werden fremd. Mit Sang und Klang ziehen wir alle miteinander zur selben Stunde aus den Toren hinaus, kehren der Stadt den Rücken und grasen ein paar Tage lang lustig und wohlgemut die nächsten Dörfer ab. Dann mögen sich's die ehrbaren Meister einmal versuchen, wie sie ohne uns fertig werden. Aber ihr sollt einmal sehen, Brüder, wie bald sie uns nachgelaufen kommen und uns gute Worte geben, daß wir baß bei ihnen bleiben. Und dann, dann sind wir obenauf, können verlangen, was wir wollen, und haben doch unseren Spaß dabei gehabt. Was meint ihr dazu, liebe Brüder?«
»Jawohl! Jawohl, Bruder Darmstädter! Einverstanden! Angenommen! Laßt uns abstimmen!« schrien sie von allen Seiten. »Wer ist dagegen?«
»Ich!« rief Sengstake die Hand erhebend und einen Schritt vortretend. »Hört mich an!«
Sofort trat Ruhe ein, und er sprach: »Wenn ihr den Vorschlag unseres wackeren Darmstädters hier annehmt, so würdet ihr allerdings vier, fünf Tage lang euer Vergnügen daran haben. Aber das bleibt euch immer noch unbenommen, das könnt ihr euch für zuletzt aufsparen, denn, liebe Freunde, ich weiß ein Mittel, daß ihr nicht fünf Tage, sondern fünf Wochen lang euren Spaß an der Sache haben könnt, wenn ihr diese fünf Wochen lang genau meinen Winken und Wünschen folgen wollt.«
Kein Laut kam aus dem großen Kreise. Alle horchten gespannt auf Sengstakes Rat und Meinung. Dieser sprach nun weiter: »Seht, liebe Freunde, es wäre gar nicht klug von euch, wenn ihr eure Forderungen alle auf einmal nennen wolltet. Ihr müßt vielmehr eine nach der anderen vorbringen, und wenn die eine von den Meistern bewilligt ist, dann wartet ihr ein paar Tage und kommt dann erst mit der folgenden heraus, und so immer langsam weiter, bis ihr sie alle durchgesetzt habt. Werden nun, was nicht unmöglich wäre, eure ehrbaren Meister darüber ungeduldig und wollen zuletzt nicht mehr nachgeben, so tut ihr dann, was euch unser Freund Timmo geraten hat, macht einen Aufbruch und lebt ein paar Tage lustig bei den Bauern, bis die Meister kommen und euch mit fleißigen und vielfältigen Bitten wieder holen. Dann stellt ihr ihnen erst recht Bedingungen nach eurem Belieben, zieht endlich großmütig in die verwaisten Werkstätten wieder ein, werdet mit offenen Armen und mit manchem guten Trunk empfangen und seid die Herren in der Stadt. Aber«, schloß er, die Hand erhebend, mit Nachdruck, »ihr müßt in der Zwischenzeit bei den Verhandlungen mit euren Meistern genau tun, was ich und mein großgünstiger Freund, Herr Hans Dalenborg hier, euch raten werden.«
Er blickte sich nach Dalenborg um. Dieser verstand den Wink, und ehe sich die Versammlung über das eben Gehörte äußern konnte, war er an Sengstakes Seite.
Hans Dalenborg war fürstlicher Zöllner in Lüneburg, hatte aber als solcher wenig zu tun, weil Herzog Friedrich nicht viel Zölle mehr in der Stadt zu erheben hatte. Er war von kräftiger Gestalt mit einem Stiernacken und mit kleinen, listigen Augen in einem plumpen, breiten Gesicht, das den Ausdruck rücksichtsloser Entschlossenheit trug.
Unmittelbar an Sengstakes Rede anknüpfend, begann der Zöllner: »Mein Freund Sengstake hat mir aus der Seele gesprochen. So und nicht anders müßt ihr es anfangen, Gesellen, wenn ihr etwas erreichen wollt. Aber ich mache euch noch auf etwas anderes aufmerksam. Ihr müßt auf einen zähen Widerstand gefaßt sein und dürft nicht mattherzig und schwach werden, sondern müßt tapfer ausharren, bis euch in allem ein Genüge geschehen. So schwarz wie die Wolken dort am Himmel werden sie euch euer Vorgehen anstreichen, werden euch mit harten Worten überfahren und mit schweren Strafen bedrohen. Die Meister werden euch beim Rate verklagen, und ihr müßt dann abwarten, was der Rat tut. Vielleicht nimmt er sich eurer und eurer Forderungen günstig an. Es könnte aber auch anders kommen. Es könnte sich ereignen, daß die Meister eure Wünsche erfüllten, um sich eure Macht und Hilfe gegen den Rat zu sichern, falls sie von diesem etwas Wichtiges zu verlangen und durchzusetzen hätten. Das kann man heute noch nicht wissen. Gelegenheit und Umstände werden schon von selber ergeben, auf wessen Seite ihr euch zu stellen habt, ob auf die des Rates oder auf die der Meister. Fragt nur uns, Herrn Sengstake und mich, hört auf uns, wir werden euch schon die rechten Wege weisen. Aber, Freunde, wenn wir uns euch zu Hilfe und Beistand verpflichten sollen, so müssen wir uns auch auf euch verlassen können.«
»Das könnt ihr!« riefen die Gesellen.
»Wohl! so laßt uns sehen, auf wie viele von euch wir zählen können. Wer von euch gesonnen ist, mit allem, was er hat und kann, folgsam und ergeben an dem hier geschlossenen Bunde festzuhalten, was auch daraus entstehen möge, der trete von dem Feuer hier zurück und stelle sich auf die Seite zu meiner rechten Hand.«
Alle gingen hinüber auf die andere Seite, so daß der Raum zwischen dem Feuer und dem Rande des Gebüsches, wo Meister Gotthard stand, völlig frei wurde. Nur Sengstake, Dalenborg und Timmo blieben bei dem Feuer stehen.
»Gut!« sprach Dalenborg weiter. »Ich sehe zu meiner Freude, daß ihr alle eines Sinnes seid. Wenn aber doch einer hier wäre, der diese Reden gehört und anders dächte –«
Das Wort erstarb ihm auf der Lippe, denn wie herbeschworen aus dem Dunkel des Waldes nahte wirklich einer, der diese Reden gehört hatte und anders dachte.
Über den freien Raum kam langsam mit großen, sicheren Schritten wie das unentrinnbare Schicksal der Sülfmeister daher.
Er stellte sich Dalenborg und den anderen beiden gerade gegenüber, so daß zwischen ihm und jenen nur das lodernde Feuer war, das jetzt seine hohe Gestalt und seine markigen Züge grell beleuchtete.
Wie versteinert, wie gebannt von der Erscheinung standen die drei. Aus dem Haufen der Gesellen rief eine Stimme: »Verrat! der Sülfmeister!« Dann war lautlose Stille.
»Ja – Verrat«; begann Meister Gotthard in grollender Erregung, »den seh' ich hier, den hab' ich gehört. Meineidige Schurken seid ihr, Dalenborg und Sengstake! Denn der Laffe da neben euch ist nichts als eure Drahtpuppe, die ihr zappeln laßt, und das Gesindel dort sind die Gimpel, die blind in eure plumpen Netze fallen, dumm genug, sich fangen und rupfen zu lassen!«
»Hoho! Hoho!« riefen die Gesellen. Dalenborg und Sengstake fanden vor Bestürzung noch keine Worte. Timmo verschwand in dem entstehenden Tumult.
»Wollt ihr noch mucksen?« schalt der Meister. »Prügel verdient ihr! Mit Schimpf und Schanden aus der Stadt hinausleuchten sollte man euch, die ihr nicht wert seid, unter ehrlicher Leute Dach zu wohnen!«
»Hoho! Hoho! Das lassen wir uns nicht bieten! Wir sind ehrbare Handwerksknechte; fort mit dem Sülfmeister! Stoßt ihn nieder! Schlagt zu!« so klang es drohend aus dem erregten Haufen. Einige Verwegene gingen mit gezückten Messern vor, die anderen drängten nach, und ein wüstes Grölen und Pfeifen gellte von hinten her, wo Timmo stachelte und hetzte.
»Zurück!« wetterte der Meister, und sein blankes Schwert funkelte im Widerschein der Flammen. Da wichen sie murrend zurück, denn es sah furchtbar aus, wie er hoch emporgereckt dastand, zum Schlage bereit.
Dalenborg stöhnte vor Wut, Sengstake zischte wie eine Natter.
Der Meister stellte das Schwert mit der Spitze auf den Boden und sprach grimmig: »Wer mir zu nahe kommt, der beißt ins Gras; das merkt euch!« Dann fuhr er ruhiger fort: »Es ist meiner Ehre zuwider, mit euch zu verhandeln. Ich will euch nur sagen, daß ihr schmählich betrogen seid von diesen elenden Verrätern, die euch nur brauchen wollen zu ihren unehrlichen, verfluchten Zwecken. Denkt ihr denn, die wollen euch helfen? Ihr sollt ihnen helfen, aber – ihr habt es ja gehört – gegen wen, ob gegen den Rat oder gegen die Meister, das haben sie euch nicht gesagt, das wissen sie selber noch nicht, die Schandbuben!«
»Henneberg«, krächzte Dalenborg, »ich reiße Euch die Zunge aus dem Halse!«
»Schweigt!« brauste der Meister.
Jetzt trat ein älterer Brauknecht waffenlos vor und sprach: »Meister, ist das wahr, was Ihr da sagt?«
»So wahr wie du hier vor mir stehst, Matthies! – Schäme dich, daß du hier stehst! Geht hin zu euren Amtsmeistern, wenn ihr noch Lust dazu habt; da werdet ihr Dinge zu hören bekommen, daß euch die Ohren davon sausen. Und nun fort! Nach Hause! Und wehe dem, der anders eine Hand hebt, als zu seiner ehrlichen Arbeit!«
»Wir bedanken uns, Meister!« sagte der Brauer und einige murmelten ihm das nach. Andere aber riefen: »Oho! Nichts zu danken! Wir sind beschimpft; er muß abbitten; haltet ihn fest!«
Mit einem Sprunge war Meister Gotthard unter ihnen. »Wer spricht hier von abbitten?« rief er mit schrecklicher Stimme und sah sich zornbebend um. »Vor mit dem Buben, der ein solches Wort gegen einen Meister wagt!«
Da traten sie scheu zurück, so daß er sich ganz allein in einem leeren Kreise befand, von den empörten Gesellen ringsum eingeschlossen. Die vordersten standen und blickten ihn trotzig an, aber keiner wagte ihm zu nahen, wie unverschämt auch ihre Hintermänner im Gedränge noch lärmten und johlten. Ein paar Vernünftige suchten die Frechsten zu beruhigen und mit sich fortzuziehen; unter Grollen und Murren ward der Kreis allmählich weiter und lichter; einer nach dem anderen wandte sich ab, und endlich waren sie alle zerstreut und auf dem Wege zur Stadt, unter sich streitend, schwatzend und scheltend, manche auch still und nachdenklich. Vereinzelte Rufe und Pfiffe tönten noch aus dem Dunkel des Waldes, aber immer schwächer und ferner.
Sengstake, Dalenborg und Timmo waren verschwunden.
Auch Meister Gotthard begab sich auf den Heimweg; seinen Sohn Arnold hatte er nicht mehr gesehen.
Die ersten Regentropfen fielen, und einsam verglommen die Feuer auf grüner Heide.
Der Meister kehrte nicht gleich in sein Haus zurück, sondern klopfte Rokswale heraus und ließ auch Hesterwegen, Schuttenhelm und Dörgerloh zu wichtiger Besprechung in nachtsschlafender Zeit bitten. Sie kamen auch, und die fünf Amtsmeister hielten einen langen, ernsten Rat. Spät, aber einmütigen Sinnes gingen sie heim.
Gilbrecht öffnete seinem Vater. »Ist Arnold hier?« fragte der Meister.
»Schon lange«, erwiderte Gilbrecht. »Wie ist's abgelaufen, Vater?«
»Ich denke, mit dem Aufstand ist's vorbei. Gute Nacht!«
»Gott sei gelobt! Gute Nacht, Vater!«
Der Regen rauschte und spendete Frucht und Segen den lechzenden Fluren. Die Stadt Lüneburg lag in friedlichem Schlummer.