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Am Abend desselben Tages finden wir Fräulein Grigori eifrigst mit den Vorbereitungen zu ihrer Abreise beschäftigt. Die Spielzeit des Walhallatheaters hatte ihr Ende erreicht, und die lorbeersatte Primadonna hielt nun nichts mehr in Berlin fest. Ihr Oberhofmeister, Herr von Eckardt, hatte sich bereit erklärt, auch noch das Amt eines Reisemarschalls übernehmen und sie nach Helgoland begleiten zu wollen.
Fräulein Bianka, oder sagen wir – da sie vorläufig nichts mehr mit dem Theaterzettel zu schaffen hat – lieber Adriane, reichte der vor einem großen offnen Reisekorbe knieenden Zofe verschiedene Kleidungsstücke zu, welche sie aus ihren überall in wüstem Durcheinander aufgehäuften Besitztümern zusammensuchte, nicht ohne ihrer inneren Unruhe und Ungeduld öfters durch heftiges Zerreißen verknoteter Bänder, an Oesen und Haken festhängender Spitzenbesätze und andre Unarten Ausdruck zu geben. Die Zofe lachte hinter dem Rücken ihrer Herrin, wenn sie sie so planlos und überhastig in den Kleiderhaufen, den Wäschebergen, den ausgezogenen Schubfächern und offnen Schränken herumwühlen sah, und einmal konnte sie sich sogar nicht enthalten, laut herauszuplatzen und zu sagen: »O Jesses, gnädig Fräulein, bei uns sieht's heute aus! Da wird Herr von Eckardt erst seine Freude dran haben.«
»Schweigen Sie still! Was erlauben Sie sich?« herrschte Adriane das Mädchen an. Sie war heute sehr ungnädig – es war das erste Mal, daß sie dem sehr dienstwilligen und brauchbaren Mädchen ein böses Wort sagte. Der Auftritt bei Lersens hatte sie im Innersten erregt, ihr leicht erhitztes Blut kochte noch in ihren Adern und mit peinigender Ungeduld erwartete sie Rudolfs Besuch, um ihm ihr übervolles Herz auszuschütten und ihn zum Haß gegen diese Familie zu entflammen, die sein und seiner Eltern Verhängnis gewesen war.
Warum er nur gerade heute so lange auf sich warten ließ? Adriane sah alle fünf Minuten mindestens nach der Uhr – es war bald acht! Rudolf war seit jenem Tage, an welchem sie ihm ihre Lebensgeschichte erzählt hatte, auffallenderweise immer seltener gekommen. War es denkbar, daß er sie weniger liebte, seit er ihre Vergangenheit kannte? Nein, das war seinem Charakter nach undenkbar. Heute mußte er ja aber kommen; er hatte versprochen packen zu helfen – morgen wollten sie zusammen abreisen.
Da ertönte die Flurglocke. Endlich! Die Zofe wollte aufspringen, aber Adriane gebot ihr, ruhig weiter zu packen und flog selbst nach der Thür, um dem lang Erwarteten zu öffnen. Sie fuhr enttäuscht zurück und hätte fast dem ihr gänzlich fremden alten Herrn die Thür vor der Nase wieder zugeschlagen, welcher, den Hut in der Hand und sich einmal über das andre höflich verneigend, da draußen stand, sich mit vergnügtem Lächeln als den Musikdirektor Diedrichsen vorstellte und um fünf Minuten Gehör bat.
»Ja, mein Herr, ich muß sehr bedauern, Sie nicht hereinbitten zu können. Ich bin beim Packen, da ich morgen verreise. Können Sie mir nicht hier sagen . . .? Ich kann wirklich keinen Herrenbesuch mehr annehmen.«
»O, das macht gar nichts aus,« beeilte sich der sehr erhitzte Musikdirektor lächelnd zu erwidern. »Ich bin auch so zu sagen Damenbesuch – haha! – ja: ich komme nämlich in Sachen einer Dame.« Er fuhr sich sehr rasch und oberflächlich mit dem Taschentuch über die Stirn und lachte dann nochmals das Fräulein freundlich-verlegen an.
»Nun, wenn es Sie nicht geniert – bitte, treten Sie näher!« Adriane seufzte und wies ihn in das Wohnzimmer. Vergebens sah sie sich nach einem leeren Stuhle um, den sie ihm anbieten könnte.
Er aber bemerkte rasch ihre Verlegenheit und rief, wieder etwas reichlich laut auflachend: »O bitte, bemühen Sie sich nicht, darüber setzen wir uns schon noch hinweg.« Und seine kurzen Beinchen keck lüpfend, turnte er über einen den Weg versperrenden Reisekorb weg und setzte sich auf denselben.
Sie mußte lachen über seine drollige Manier sich einzuführen; und dann fiel ihr ein, wo und in welcher Verbindung sie den Namen Diedrichsen schon gehört habe. »Sie sind, wenn ich nicht irre . . .« begann sie zögernd.
»Ganz recht, ja; der Vater vom Professorchen und der Schwiegervater vom Baroneßchen. Und das Baroneßchen, das hätte Ihnen etwas zu sagen, nämlich . . . wenn . . .«
»Sie können inzwischen Ihren Koffer fertig packen,« wandte sich Adriane an die Zofe, den Wunsch des Musikdirektors erratend.
Sie hatte einen Stoß Wäsche von einem Stuhle entfernt und dem kleinen Herrn gegenüber Platz genommen.
»Von Fräulein Trudi haben Sie mir etwas auszurichten?« forschte sie neugierig, als das Mädchen gegangen war.
»Ja, allerdings, gewissermaßen . . .« er stockte, sah ihr wieder, drollig lachend, gerade ins Gesicht, und dann beugte er sich plötzlich rasch zu ihr hinüber, rief ganz tolldreist: »I, mein Schnuckelchen!« und versuchte ihr die Wangen zu klopfen.
Sie sprang von ihrem Stuhle auf und maß ihn vom Scheitel bis zur Sohle mit einem Blicke, der ihm sofort klar machte, daß diese etwas einfache Weise, sich das Vertrauen einer jungen Dame zu erwerben, in diesem Falle nicht ganz so wohl angebracht gewesen sei, wie vielleicht einst beim Pasewalker Opernpersonal. Und seine gänzlich verblüffte, fassungslose Miene nach dieser Erkenntnis war so unwiderstehlich komisch, daß auch Adriane, statt ihrer Entrüstung Worte zu leihen, in ein herzliches Gelächter ausbrechen mußte.
Der gute Musikdirektor wußte zwar nicht sogleich, wie dies gemeint sein mochte, lachte aber doch unbändig laut mit und rief endlich, mit einem Hustenanfall kämpfend: »Na sehen Sie – wir sind ja gar nicht so schlimm! Nicht wahr, schönes Fräulein?«
»Ich verstehe Sie wohl nicht recht, mein wunderlicher Herr?« fragte Adriane wieder ernster werdend zurück.
»Nun sehen Sie: die Sache ist nämlich ganz einfach die und der Umstand der,« begann Diedrichsen, indem er ein Stück weiter vorrückte und an den Fingern die einzelnen Punkte seiner Darstellung abzählte: »Wenn zwei Damen zufällig einen und denselben Herrn lieben – Sie kennen doch das Gedicht ›die Zwickmühle‹ von Heine? – Nicht!? ›Ein Jüngling liebt ein Mädchen, die hatt' einen andern erwählt‹, dieser aber liebte wieder eine andre, und keiner heiratet einen, sondern immer einer den andern, oder wie das Ding sonst heißt! – Nun, das müssen Sie doch zugeben, wenn man so etwas herauskriegt und dann noch nicht böse wird, da . . . da hört's eben auf! Und der Soldat sagt: Was hilft mir der Mantel, wenn er nicht gerollt ist, das heißt, was hilft mir die älteste Freundin, wenn sie mir nicht meinen Schatz herausrückt?«
»Mein lieber Herr Musikdirektor, Sie werden mir immer unverständlicher!« unterbrach Adriane seinen Redefluß. »Asta von Lersen läßt mir also sagen, daß sie . . .«
»Ach bewahre, Asta laßt leider gar nichts sagen – die liegt mit gräßlichen Kopfschmerzen da! Aber Fräulein Trudi meinte, Sie hätten gute Augen, mein schönes Fräulein, und man dürfte Sie nicht so im Zorn fortgehen lassen, denn Asta muß sich doch ärgern, wenn ihr Freier ihr untreu wird und . . .«
»Freier?« fragte Adriane hoch aufhorchend. »Bewirbt sich denn Herr von Eckardt um Astas Hand?«
»Hat sich beworben, passé défini, und einen Korb bekommen,« erklärte der Professorenvater schmunzelnd. »Aber deswegen brauchte er doch nicht gleich hinzulaufen und sich in die älteste, beste Freundin der Grausamen zu verlieben – so 'was ärgert einen doch natürlicherweise! Und sehen Sie, die alte Freundschaft brauchte ja gar kein so böses Ende zu nehmen, wenn Sie nur dem amerikanischen Herrn erlauben wollten . . .«
Die Operettensängerin, welche mit unwillig gerunzelter Stirn zugehört hatte, brach hier wieder in ein lautes Lachen aus und rief: »An Ihnen ist ein großer Diplomat verloren gegangen, Herr Musikdirektor! Ich habe nie etwas Aehnliches erlebt! Sie wollen mir also ganz zart zu verstehen geben, daß ich meinen eignen Anbeter auffordern soll, doch lieber sein Heil zum zweitenmal bei seiner ersten Flamme zu versuchen, ehe er mich endgültig weiter anbetet.«
Die Ironie, die in ihrem Tone lag, brachte den guten Diedrichsen wieder etwas aus der Fassung. »Aber, mein Fräulein! Nein, wie werde ich denn so etwas verlangen, das wäre ja allerdings sehr freundschaftlich von Ihnen gehandelt, aber . . . . Ich meine bloß, weil Fräulein Trudi meinte, Sie hätten so gute Augen und . . . hm! . . . Sie ließen sich gewiß versöhnen. Hahaha! Ja, wenn's eine schwierige Sache zu deixeln gibt, da muß der liebe Schwiegerpapa immer dran glauben. Ach geh doch hin, Papachen, thu's doch mir zuliebe, Papachen, sag ihr's doch, Papachen . . .«
»Sagte Fräulein Trudi?«
»Sagte Fräulein Trudi, ja, und ich ließ mich endlich erweichen . . .«
Die Zofe trat in diesem Moment ins Zimmer und meldete den Prinzen Führingen und den Lieutenant von Lersen an. »Ich sagte, daß gnädig Fräulein beim Packen wären, aber die Herren wollten sich nicht abweisen lassen,« setzte sie entschuldigend hinzu.
»Nun, dann bitten Sie sie meinetwegen . . .«
»Um Gottes willen!« flüsterte der alte Diedrichsen, die schöne Serbin ängstlich am Arm ergreifend. »Sie werden doch die Herren nicht hereinlassen? Wenn der Lieutenant Bodo mich hier sieht – er sagt's ja natürlich gleich der Trudi wieder und das verzeiht sie mir nie!«
»Sie sagten doch aber . . .« bemerkte Adriane boshaft lächelnd. Das Mädchen war schon vorher, ihrem heimlichen Winke folgend, hinausgegangen und man hörte die beiden Herren im Korridor näher schreiten.
»Herr des Himmels – sie kommen! Lassen Sie mich doch anderswo hinaus – verstecken Sie mich!« keuchte der Geängstete, auf die Thür des Nebenzimmers zuspringend und sie rasch aufreißend. Aber da prallte er wieder zurück: »O weh, ein Schlafzimmer!«
Aber Adriane schloß lachend die Thür hinter dem aufgeregten alten Herrn und sagte: »Bleiben Sie nur ruhig da drin. Einen andern Ausgang habe ich hier nicht.«
Unmittelbar darauf traten die gemeldeten beiden Herren über die Schwelle; der Prinz ruhig, elegant, etwas steif wie immer, Bodo in unzweifelhaft rosigster Laune, mit einem Sonnenuntergangsteint, welcher deutlich verriet, daß er soeben von einem Liebesmahle kam.
Er eröffnete auch in außerordentlich raschem Tempo das Gespräch: »Aber meine Gnädigste, wie ich das von Ihnen finde! Sie wollten uns heimlich entfliehen? Avertierten uns gar nicht von Ihrer Abreise! Sie sehen, eine böse Ahnung hat uns hierher geführt! Ohne Abschied sollen Sie nun doch nicht davonkommen! – Wir dürfen Ihnen doch packen helfen, zauberhafteste aller Nachtigallen?«
»Bitte bemühen Sie sich nicht. Mein Mädchen kann ja . . .«
»O, eine Zofe hat keinen Begriff von Packen, meine Gnädigste. Wenn Sie wüßten, was ich letztes Manöver alles in meinen Vorschriftsmäßigen hineingezaubert habe! Das heißt: selbstredend hat mein August gepackt, ich leitete jedoch die Uebung. Kommen Sie, Prinz, legen Sie einmal mit Hand an! Sehen Sie bloß, diese Legion von entzückenden Stiefeln und Schuhen! Wissen Sie, wie man Damenstiefeln einpackt?«
Dem durch und durch korrekten Prinzen Führingen war es nicht gegeben, auf den leichten Ton seines jüngeren Sportfreundes einzugehen. Er nahm dem kecken Lieutenant die Stiefeletten aus der Hand und sagte: »Vergreifen wir uns nicht an diesen Heiligtümern!«
»Ah! Schön gesagt, mein Prinz!« lächelte die Grigori und verbeugte sich artig. »Wenn Sie als Standesperson das Sitzen nicht verschmähen, so würden Sie mich allerdings verbinden, wenn Sie mir helfen wollten, das Sofa abzuräumen.«
Sie sprach ausschließlich mit dem Prinzen und gönnte Bodo keinen Blick. In seiner Weinseligkeit bemerkte er das aber nicht, sondern fuhr fort zu schwatzen.
»Ei freilich wollen wir sitzen! O, so leichten Kaufes werden Sie uns nicht los, Gnädigste. Ah! Eine Idee! Wie wäre es, wenn wir ein kleines Abschiedssouper improvisierten?«
Der Dragoner war, indem er diesen Vorschlag machte, damit beschäftigt, einen Pack Wäsche vom Sofa auf den Reisekorb zu tragen, der Prinz kniete vor demselben, um verschiedene am Boden liegende Gegenstände aufzusammeln. So hatten sie beide nicht bemerkt, wie die Außenthür leise aufging und Herr von Eckardt eintrat. Adriane forderte ihn durch Zeichen auf, sich nicht selbst bemerkbar zu machen. Denn obwohl der Besuch des genialen Diplomaten Diedrichsen senior sie heiter gestimmt hatte, wünschte sie doch, daß Bodo noch weiter gehen möchte in seinen anmaßenden Vorschlägen, um sich eine Zurechtweisung von seiten ihres Hofmarschalls zuzuziehen.
Der liebenswürdige Prinz schien in seiner feinen, ruhigen Art dies selbst thun zu wollen, doch unterbrach ihn der Lieutenant ungeniert mit dem Anerbieten, für das Getränk Sorge tragen zu wollen, falls Führingen die Küche übernehmen wollte. –
»O! Eine entzückende Idee!«
Mit diesem lauten Ausruf trat nun plötzlich Rudolf vor, und überraschte damit die Dame des Hauses ebensosehr, wie ihre Besucher. »Meine Gnädigste! Entzückt Sie zu so guter Stunde in so guter Gesellschaft zu treffen.« Er küßte ihr galant die Hand und verbeugte sich dann artig gegen die beiden Herren.
»Ich habe Ihnen noch einen Gast mitgebracht,« fuhr er dann fort, sich an Adriane wendend. »Einen Gast, den ich Ihnen schon lange versprochen hatte – Herrn Major außer Dienst von Muzell – gestatten, daß ich ihn hereinbitte?«
Die Grigori winkte lächelnd Gewährung. Der Lieutenant Bodo aber traute seinen Ohren kaum, als er den Namen seines bösartigen Obermanichäers nennen hörte und konnte sich nicht enthalten, ein halblautes »Donnerwetter, nun wird's hübsch!« in jenen lufterfüllten Raum zu murmeln, den dereinst sein Bart einnehmen sollte.
Rudolf führte seinen väterlichen Freund herein, und stellte ihn Fräulein Grigori, sowie Seiner Durchlaucht vor. Der kleine Dragoner, durch reichlichen Genuß alkoholischer Getränke besonders witzig gestimmt, konnte sich nicht enthalten, den »ärgsten Krawattenmacher von ganz Berlin« ein wenig »anzuöden«.
Er ließ also die Sporen zusammenklirren, verbeugte sich militärisch kurz und näselte: »Gestatten Herr Major – mein Name ist von Lersen.«
Und der alte Muz musterte den jungen Mann mit boshaftem Lächeln von oben bis unten und sagte dann, den Finger drohend erhoben: »So so, der sind Sie also? Na, von Ihnen hab' ich schöne Geschichten gehört!«
»Ach so! Herr Major meinen gewiß den stilvollen Scherz mit dem alten Manichäer, der mir den Mann mit der Blechmarke auf die Bude schickte. Denken Sie sich bloß, Herr Major, wie der Beamte vernahm, daß das Geld jederzeit zu seiner Verfügung stehe, zog er sich in Wurmesgestalt zurück und ward nicht mehr gesehen. Der Scherz hat unter den Kameraden Sensation erregt.«
Der alte Muz zog unwillig die Brauen zusammen und flüsterte dem übermütigen jungen Manne ernst zu: »Hör' 'mal, mein lieber Junge, ich dächte, du hättest Ursache, etwas weniger – hoch zu sein! Setze dich lieber einen 'runter. Hast du den Brief von Mama nicht bekommen?«
»Welchen Brief?«
»Ein Brief, welcher jedenfalls sehr ernste, wichtige Mitteilungen enthielt.«
»Ich bin um halb fünf fortgegangen und inzwischen nicht wieder nach Hause gekommen.«
»So? Dann möchte ich dir raten, dich hier baldigst zu verabschieden, um noch vor Thoresschluß bei Mama vorsprechen zu können.« Damit ließ der alte Muz den Lieutenant stehen und wandte sich Adriane zu.
Bodo war einen Augenblick zu Mute, als sei er plötzlich ganz nüchtern geworden. Aber er war nicht der Mann, sich bange machen zu lassen. Wenn wieder ein Platzregen im Anzuge war, dann wollte er ohne Regenschirm, wie es einem Soldaten geziemt, mitten hindurchgehen; aber sich jetzt die rosige Laune verderben, sich von dem alten Muz gewissermaßen vor die Thüre setzen zu lassen, während doch einer der originellsten und amüsantesten Abende seines ganzen vergnüglichen Lebens seiner harrte – nein, das wollte er sich nicht selber anthun. Die guten Geister des Weines würden ihm beistehen, die unbehaglichen Unglücksahnungen zu verscheuchen und seine gesellschaftlichen Talente so zu steigern, daß er die Leitung dieser Uebung ganz in seine Hand bekäme, bei der Grigori glänzend abschnitte und den grimmigen Muz samt seinem Spezi Pflaumenschmeißer schlagrührend ärgerte!
Der Gedanke eines Abschiedsschmauses auf gemeinschaftliche Kosten wurde lebhaft wieder aufgenommen, und Adriane sträubte sich nicht lange dagegen, weil sie Rudolf mit solchem Eifer dafür eintreten sah, daß sie annahm, er habe wohl irgend eine bestimmte Absicht dabei. Auch daß er gerade heute, am letzten Abend erst, den Major noch bei ihr einführte, überzeugte sie, daß er etwas Besondres im Schild führen müsse, und als Bodo hinausgegangen war, um durch die Zofe seine Bestellung im Restaurant ausführen zu lassen, und der Major mit dem Prinzen im Gespräch war, benutzte sie die Gelegenheit, um Rudolf etwas beiseite zu nehmen und ihm zuzuflüstern: »Ich habe Sie heute mit Sehnsucht erwartet, lieber Freund – warum kamen Sie nicht früher?«
»Der Major besuchte mich,« gab Rudolf rasch zurück. »Er hat mir alles erzählt, was Sie mir gewiß selbst sagen wollten.«
»Sie wissen alles? Die Entdeckung . . . Lersens . . .? O, wie hat man mich gekränkt! Und Sie, Rudolf, was werden Sie thun?«
»Lassen Sie das, wir sprechen später noch darüber.«
»Was will Ihr Major heute bei mir?«
Rudolf zögerte einen Augenblick: »Er will . . . er ist mein einziger Freund hier . . . beinahe Pflegevater – haha . . . er meinte, es wäre doch Zeit, Sie nun kennen zu lernen.« Der ehrliche Amerikaner errötete, denn er war sich bewußt, Andeutungen gemacht zu haben, deren Inhalt ihm im Herzen fremd war.
Adriane sah mit leuchtenden Blicken zu ihm auf: »Wir müssen heute noch allein sein.«
Wie ein Feuerwerk von hellen Funkengarben und bunten Leuchtkugeln flammten die glücklichsten Hoffnungen vor dem Auge ihrer Seele auf, und in plötzlich heiterster Stimmung mischte sie sich nun in die allgemeine Unterhaltung.
Man war bald sehr lustig und sehr lebhaft, selbst der Major, den die Begegnung mit Bodo einigermaßen erbost hatte, gab sich wieder zufrieden und spielte nicht ohne Geschick den galanten Kavalier der alten Schule.
Die schwierigen Aufräumungsarbeiten bereiteten den Herren ein großes Vergnügen. Die nötigen Sitzplätze wurden frei gemacht, der Tisch abgeräumt und von der Zimmervermieterin Tischwäsche und Geschirr entlehnt. Nach einer guten halben Stunde kamen die bestellten Speisen aus dem Restaurant an; zwei Eiskübel mit Sektflaschen wurden mit Jubel begrüßt. Man setzte sich zu Tische. Der Prinz hielt die Rechnung in der Hand und las daraus das Menü ab: »Oderkrebse, Hamburger Hühner, Trüffeln in der Serviette, Roastbeaf mit Salat und Kompot, Eis.«
»Ein sublimes Menü, nicht wahr, meine Gnädigste?« rief Bodo. »Darin ist nun Führingen einzig. Aber ich wette, daß uns Herr von Eckardt noch eine Ueberraschung zum Dessert aufgespart hat, türkische Pflaumen zum Exempel. Sie haben gewiß Geschäftsverbindungen mit der Türkei, Herr von Eckardt, Ihre Backpflaumen sollen ja von geradezu zauberhafter Schönheit sein. Man sagt Ihnen nach, daß Sie sich den Weg zu den Herzen der Damen mit Pflaumen zu pflastern pflegen.«
Der Major warf Bodo einen sehr wenig aufmunternden Blick zu und räusperte sich warnend.
Bodo ließ sich dadurch aber nicht im geringsten stören, sondern wandte sich sofort wieder an den ruhig seine Krebsschwänze abknickenden Rudolf und rief ihm über den Tisch zu: »Sagen Sie, ist das wahr, Herr von Eckardt? Sie sollen neulich einer jungen Dame ins Stammbuch geschrieben haben:
›Die Rose riecht, allein sie sticht –
Wandle auf Pflaumen und Vergißmeinnicht!‹«
Der korrekte Prinz Führingen lachte anständig aber ausgiebig über diesen großartigen Witz und selbst Adriane und der Major konnten sich eines Lächelns nicht erwehren, obwohl sie das offenbare Bestreben des Lieutenants, Eckardt zu reizen, gar sehr verstimmte.
Rudolf aber ließ sich kaum in der sorgsamen Zurichtung seiner Krebse stören und versetzte sehr ruhig: »Die Pflaumen heißen auf englisch ›plum‹!«
»Ich danke Ihnen für die freundliche Belehrung,« spottete der Dragoner.
»Für eine einzige solche englische plum wären Sie, Herr Lieutenant, mein gehorsamster Diener Ihr lebenlang!«
Adriane lachte; die andern Herren, Bodo nicht zum mindesten, machten sehr verdutzte Gesichter, da sie nicht verstanden, wo Herr von Eckardt hinauswollte.
»A plum – heißt nämlich eine Summe von hunderttausend Pfund Sterling, oder auch der glückliche Besitzer einer solchen Summe,« erklärte Rudolf, sich die Fingerspitzen in der Serviette abwischend.
»In diesem Sinne, meine Gnädigste,« wandte sich Bodo an Adriane, »würde ich allerdings auch einen englischen Pflaumenschmeißer einem preußischen Lieutenant vorziehen. – Sie entschuldigen, Herr von Eckardt, aber das Wort ist gut deutsch.«
Der Amerikaner blickte erst Adriane fragend an, bevor er mit deutlicher Ironie seinem witzigen Gegenüber erwiderte: »Ich gestehe, daß mir in den Jahren da drüben solche Feinheiten der deutschen Sprache fremd geblieben sind.«
Bodo fühlte den Stich und da er nicht sofort zu erwidern wußte, schenkte er sich ein neues Glas Sekt ein, blinzelte über den Rand des Kelches der Sängerin zu und rief: »Es lebe das Glück, es lebe die Liebe! Und Ihnen, meine Gnädigste, vergnügte Pflaumenernte in Helgoland!«
Adriane schob mit einem ärgerlichen Ruck ihren Teller von sich, zog die Brauen zusammen und sagte: »Mein Herr Offizier, Sie scheinen mit der Absicht hierher gekommen zu sein, meine Gäste zu verhöhnen und mich zu beleidigen.«
»Aber nein, Anbetungswürdigste, wie können Sie einen unschuldigen Scherz . . .«
Er wurde durch den Eintritt des Mädchens unterbrochen, welches kam, um das zweite Gericht aufzutragen. Erst als die Zofe mit den Krebsen hinausging, unterbrach der Major das minutenlange Schweigen durch die Behauptung, der Mensch sei gerade das Gegenteil vom Krebs.
»Wieso?« liefen alle, froh der Unterbrechung.
»Weil der Krebs rot wird, wenn man ihn abbrüht – der abgebrühte Mensch aber hat aufgehört zu erröten!«
Bodo hatte heute schon zu viel des süßen Weines genossen, als daß irgend welche Vorwürfe oder tadelnde Anspielungen ihn noch besonders empfindlich hätten treffen können.
»Bravo, bravo! Sphinx locuta est!« rief er laut. »Reagiert niemand mehr auf diese reaktionären Krebse, so gehen wir zu den harmlosen Hamburger Hühnchen über.«
Muzell, der Prinz und Eckardt gaben sich redliche Mühe, durch eine lebhafte Unterhaltung die Taktlosigkeit Bodos in Vergessenheit zu bringen. Der Major besonders benutzte die Gelegenheit, um von Adriane etwas über ihre Jugend zu erfahren, über die Gründe, welche sie bewogen hatten, zur Operette zu gehen. Es versteht sich, daß sie sich in Bodos Gegenwart nicht so aussprechen konnte, wie sie es jüngst Rudolf gegenüber gethan hatte; aber was sie sagte, war genug, um dem alten Muz eine sehr günstige Meinung von ihr zu verschaffen.
Der unverbesserliche Lieutenant hatte inzwischen Zeit gefunden, einen neuen Angriffsplan für den kleinen Krieg gegen den verhaßten Nebenbuhler zu entwerfen. Als die Hühner abgetragen wurden, benutzte er die Pause in der Unterhaltung und wandte sich von neuem an Rudolf.
»Wie gut, daß ich diese Hühnchen nicht mit Ihnen zu rupfen hatte, Herr von Eckardt!« Und als der Angeredete sich fragend im Kreise umsah, fügte er hinzu: »Sehen Sie, da haben Sie wieder eine Feinheit Ihrer deutschen Muttersprache.«
Der alte Muz vermochte nicht länger an sich zu halten. Bodos Betragen hatte ihn von Anbeginn erbost – zerbrechen durfte er hier nichts, er mußte sich mit Worten Luft machen.
»Du könntest uns mit deinen schätzbaren Belehrungen verschonen, mein Lieber,« knurrte er ingrimmig. »Herr von Eckardt möchte dir sonst mit einem Deutsch dienen, das dir auch ohne Feinheiten einigermaßen verständlich sein dürfte.«
»Das ist's ja eben, was ich meins, Onkelchen,« erwiderte Bodo lachend. »Ich werde mich hüten, mich mit einem Amerikaner in Streit einzulassen, damit er mich womöglich auf Pulvertonnen ankontrahiert! Wie ist das eigentlich mit dem sogenannten amerikanischen Duell, Herr von Eckardt? Haben Sie jemals eins ausgefochten? Geben Sie überhaupt Satisfaktion?«
»Ich bin über das Alter der dummen Jungenstreiche hinaus, Herr von Lersen; habe es auch niemals für eine besondre Heldenthat gehalten, jemand aus Uebermut zu kränken und zum Streit zu reizen. Wenn mich aber jemand angreift, so werde ich mich zu wehren wissen.«
Bodo setzte mit einer hochmütigen Grimasse seinen Klemmer auf die Nase und sagte, während er langsam an Rudolf hinabsah: »Sie sind ja wohl Schlossergeselle gewesen da drüben? Da müßten Sie eigentlich nur auf Hausschlüssel losgehen.«
Rudolf that, als habe er diese letzte Anzüglichkeit des Lieutenants gar nicht gehört und richtete gleichmütig einige Worte über die Vorzüglichkeit der Trüffeln an Adriane. Unter dem Tische trat der Prinz Bodo leise auf den Fuß und versuchte ihm gleichzeitig durch mißbilligende Blicke anzudeuten, daß er mit seinen plumpen Angriffen zu weit gehe. Er brach darauf ein Gespräch über das letzte Nennen vom Zaune, in der guten Absicht, auf dem neutralen Gebiete des Turfs die feindselig erregten Geister wieder zu versöhnen. Aber auch hier führte der bedenklich angeheiterte Dragoner sogleich wieder das große Wort und benutzte die Gelegenheit, über Rudolfs Reitkunst einige zweifelhafte Schmeicheleien anzubringen.
Der dicke Major war schon dunkelrot im Gesicht vor Aerger und hatte nicht übel Lust, seinen unbequemen Pflegesohn beim Kragen zu nehmen und vor die Thür zu setzen. Mißmutig legte er seine Gabel beiseite und wischte seinen herabhängenden Schnauzbart ab, als ihm ein guter Einfall kam: »Meine Herren,« rief er, »der Genuß, den uns diese überirdischen Trüffeln bereiteten, wäre nur noch einer Steigerung fähig – aber allerdings einer ganz ungemeinen Steigerung! – wenn unsre schöne Wirtin sich bewegen ließe, uns jetzt ein Lied zum besten zu geben.«
Der Vorschlag fand lauten Beifall und alle vier Herren bestürmten Adriane um ein Lied. Sie hatte nicht die mindeste Lust, zwischen Trüffeln und Roastbeaf zu singen, aber sie hoffte, gleich dem Major, daß eine lustige Zwischenaktsmusik vielleicht das geeignetste Mittel sein dürfte, um dieser unerquicklichen Kampfstimmung der Herren ein Ende zu machen. Sie setzte sich also, ohne sich lange bitten zu lassen, an den Flügel und begann zu präludieren. Gleichzeitig erhoben sich auch die Herren, mit Ausnahme des alten Muz, welcher, um besser beobachten zu können, am Eßtisch sitzen blieb und nur seinen Stuhl nach dem Flügel herumrückte. Der Prinz stützte seine Arme auf einen der Wäschestöße und blickte seiner Angebeteten bewundernd in das ausdrucksvolle Gesicht. Bodo lehnte sich vorsichtshalber gegen den neben der Schlafzimmerthür befindlichen Vertiko, so daß die Sängerin ihm den Rücken zukehrte. Doch er übersah, daß ihr gegenüber an der andern Wand ein großer Spiegel hing, in welchem sie ihn sehr wohl beobachten konnte. Wenige Schritte von ihm hatte Rudolf mit untergeschlagenen Armen Aufstellung genommen.
Kaum hatte die Grigori die ersten Takte einer lustigen französischen Operettenmelodie mit etwas erzwungener Keckheit herausgeschmettert, als der Amerikaner sich mit zwei lautlosen Schritten dicht an die Seite des Dragoners begab und diesem rasch, aber ohne ersichtliche Aufregung zuflüsterte: »Sie haben sich den ganzen Abend über Mühe gegeben, mich zu reizen. Ich würde mich verdammt wenig darum kümmern, denn es ist klar, daß Sie mehr Wein genommen, als Sie vertragen können; aber Sie haben auch Fräulein Grigori auf das gröblichste beleidigt und ich muß verlangen, daß Sie die Dame in Gegenwart dieser Zeugen dafür um Verzeihung bitten.«
»Kostbare Idee!« lispelte der Lieutenant zurück und hob verächtlich eine Schulter. Immerhin ernüchterte ihn die ernsthafte Wendung, die sein übermütiges Unterfangen nun plötzlich nahm, einigermaßen, so daß er im stande war zu begreifen, um was es sich handelte. »Ich möchte wissen, mit welchem Rechte Sie sich so ungebeten zum Ritter des Fräuleins auswerfen, mein Herr?« fügte er nach einer kleinen Pause hinzu.
Rudolf fühlte, daß er errötete. Er biß sich leicht auf die Unterlippe, dann aber, ohne sich lange zu besinnen, versetzte er noch leiser: »Meine Beziehungen zu Fräulein Grigori sind derartige, daß man bald öffentlich meine Rechte, zu ihrem Schutze einzutreten, anerkennen wird.«
»Ah so!« sagte Bodo einigermaßen überrascht, indem er seinen Zwicker von der Nase fallen ließ: »Dann allerdings . . .«
»Sie wollen also Abbitte thun?«
»Auf Ihren Wunsch gewiß nicht, mein Herr.«
Adriane ließ gerade einen langen Triller auf E erschallen, wählend sie aus den Mienen der Flüsternden, die ihr der Spiegel zeigte, den gefährlichen Inhalt ihrer Unterhaltung mit vollster Deutlichkeit ablas. Fast gleichzeitig bemerkte ihr scharfes Auge durch Vermittelung desselben verräterischen Spiegels, wie sich die Thür des Schlafzimmers ein wenig öffnete. Der unglückliche Musikdirektor! Sie hatte des armen Gefangenen in der peinlichen Aufregung der verflossenen Stunde gänzlich vergessen. Lockte ihr Gesang ihn so unwiderstehlich? Nun, wenn er sich verraten wollte, so war das seine Sache. Wenn nicht, so mußte er freilich noch recht lange Geduld haben; denn sie wollte noch heute nacht, wenn die Herren gegangen waren, eine Aussprache mit Rudolf unter vier Augen herbeiführen. Der Unglücksdiplomat könnte leicht bis nach Mitternacht in seinem Gefängnis ausharren müssen! Welche grotesk lächerliche Idee, den alten Herrn wie einen versteckten Liebhaber nächtlicherweile aus ihrem Schlafzimmer zu spedieren! Das alles schoß ihr durch den Kopf, während sie, zum Entzücken des guten Prinzen, der mit brennenden Blicken und verhaltenem Atem dem Spiel ihrer beweglichen Mienen folgte, ihr Chanson mit der weichen kleinen Stimme weiter trällerte.
Indessen vernahm das seine Ohr des lauschenden Diedrichsen des Aelteren ganz aus der Nähe die flüsternde Stimme des Amerikaners.
»Dann sehe ich mich genötigt, der beleidigten Dame auf andre Weise Genugthuung zu verschaffen.«
»Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, Herr von Eckardt. Nur nicht amerikanisch: das verbietet die Standessitte,« entgegnete Bodo höflich.
»O nein, Herr von Lersen: Sie sollen fair play haben. Vor dem Hausschlüssel brauchen Sie nicht zu zittern.«
»Sagen wir also: Pistolen!«
»Wie Sie wünschen!«
»Ihre Zeugen?«
»Genügt es nicht, wenn jeder von uns einen Freund mitbringt? Der Major von Muzell wird mir gewiß die Gefälligkeit erweisen, aber ich wüßte nicht, wo ich einen zweiten Zeugen so schnell auftreiben sollte, denn ich bitte zu bedenken, daß ich morgen mittag um elf Uhr sechsundfünfzig Minuten mit Fräulein Grigori nach Hamburg abzureisen gedenke. Ich möchte also unsre Angelegenheit möglichst früh erledigt wissen.«
»Ich begreife sehr wohl. Und es soll mich freuen, Ihnen noch ein kleines Andenken mit auf die Reise geben zu dürfen. Sie könnten sich das so hübsch in den Korb von meiner Schwester verpacken.«
»Damnation! Herr, hüten Sie Ihre Zunge!«
Der Prinz wandte sich und warf Rudolf einen unwilligen Blick zu. Und Rudolf, obwohl bebend vor Erregung, dämpfte seine Stimme noch mehr herab und flüsterte nach einer kleinen Pause weiter: »Sie verschlimmern Ihre Sache nur, wenn Sie Ihr Fräulein Schwester hineinziehen; da Fräulein Grigori von Fräulein von Lersen ebenso grundlos beleidigt wurde, wie von Ihnen . . .«
»Wie ist das möglich?« unterbrach Bodo erstaunt.
»Bei ihrem heutigen Besuch im Hause Ihrer Frau Mutter. Wußten Sie davon nichts?«
»Wäre ich sonst heute abend hierhergekommen?«
»Allerdings, eine solche Taktlosigkeit . . . pardon, mein Herr! . . . Also das Nähere morgen früh . . .?«
»Wird Prinz Führingen mit dem Major arrangieren.«
»Allright – sehr schön.«
Bravo, bravo, bravo! – Der Gesang war zu Ende. Die Herren, auch der alte Muz, drängten sich um Adriane und klatschten lauten Beifall.
Diesen Augenblick, in welchem außer der Sängerin alle Anwesenden ihm den Rücken zukehrten, benutzte der Vater des Professors zu einem tollkühnen Fluchtversuch. Er gelangte wirklich unbemerkt bis zur gegenüberliegenden Thür. Unglücklicherweise hatte aber auch die Zofe nur das Ende des Gesanges abgewartet und trat nun gerade mit der dampfenden Roastbeafschüssel ins Zimmer, als der Musikdirektor schon die Klinke ergriffen hatte. Beide prallten mit dem gleichen Schrecken zurück. Das Mädchen kreischte laut und ließ die Bratenschüssel fallen, der Musikdirektor fing sie auf und sagte nur: »Hopsa!«
Die drei Herren wandten sich gleichzeitig nach der Thür. Im ersten Augenblick staunten sie verblüfft und stumm diese wie vom Himmel herabgefallene Erscheinung an, aber der kleine alte Herr, der mit der kläglichsten Armsündermiene von der Welt durch seine goldne Brille auf die unglückliche Bratenschüssel guckte, bot einen zu unwiderstehlich komischen Anblick – man lachte aus vollem Halse, ohne zu begreifen, rücksichtslos, einer den andern immer von neuem mit sich fortreißend. Man lachte die peinlich verlegene, zornige Stimmung der letzten Stunde zum Zimmer hinaus. Man lachte so lange, bis endlich der arme Diedrichsen sich aus seinem Schrecken aufgerafft hatte, die Bratenschüssel energisch auf den Eßtisch setzte und rief: »Wenn ich nun doch schon 'mal verraten bin – dann lassen Sie wenigstens mitessen, Fräulein; ich bin, weiß Gott, halb verhungert!«
Immer noch lachend umdrängte man den alten Herrn, schob ihm einen Stuhl unter, brachte ihm Teller und Besteck herbei, legte ihm die saftigsten Scheiben des Roastbeafs vor und bestürmte ihn mit Fragen.
Er aber flehte sie an: »Meine werten Herren, thun Sie mir die Liebe und lassen Sie mich erst in Ruhe mein Stückchen Braten verzehren. Ich habe so eine verwünscht feine Nase – das ganze Menü habe ich durchs Schlüsselloch gerochen – und dabei seit zwei Uhr nichts gegessen! Tantalus war Ihnen nur so ein Sportshungerer gegen mich . . . Mein Name ist Diedrichsen, Musikdirektor außer Dienst . . .« unterbrach er sich selbst, mit eiliger Verbeugung sich dem Prinzen vorstellend.
»Prinz Führingen, Premierlieutenant außer Dienst,« murmelte jener zurück.
Dem alten Muz dämmerte eine Ahnung der Wirklichkeit auf, als er sich erinnerte, was Trudi auf der Treppe ihm anvertraut. Er wollte dem guten Diedrichsen in seiner Verlegenheit beispringen und einen plausiblen Grund seiner Anwesenheit finden helfen. Darum rief er, als jener seine erste Portion fast vertilgt hatte: »Herr Musikdirektor, Sie sind gewiß von Excellenz Lersen gebeten worden, ihr den Herrn Sohn einzufangen, nicht wahr?«
Doch der harmlose Professorenvater griff nicht nach diesem Rettungstau, das ihm der Major so freundschaftlich zuwarf, sondern verließ sich auf seine eignen, sehr geringen Schwimmkünste und versetzte: »Ach nein, davon wüßte ich nichts, Herr Major! Ich wollte nur . . . ich dachte . . . weil's doch so ein schöner Abend war . . . Du wirst einmal ein bißchen mit dem Fräulein musizieren.«
»Musizieren – ah! Sie kannten also Fräulein Grigori bereits näher, Schwiegerpapachen?« neckte der Lieutenant.
»Freilich, freilich – sie ist ja unter meiner Leitung in Pasewalk zuerst aufgetreten – jawohl, freilich! Alte Bekannte!«
»Ich denke, das war vor fünfzehn bis zwanzig Jahren, wie Sie in Pasewalk . . .«
»In Kinderrollen natürlich,« erklärte schlagfertig dieser Lügensack von einem Musikdirektor. »Sie debütierten als zweiter Meerkater in der Zauberflüte – nicht wahr, Fräulein? Ich weiß es noch wie heute!«
»Aber weshalb versteckten Sie sich denn vor uns?« fragte der Prinz.
»Weil, weil . . . nun sehen Sie, ich bin Vater eines außerordentlichen Professors und Schwiegervater eines ordentlichen Baroneßchens. . . . Da muß man schon auf die Würde halten, nicht wahr? Man ist allerdings noch lange kein Meergreis, man fühlt das Herz eines Jünglings im Busen hüpfen, wenn man so einem reizenden Fräulein ins Auge schaut . . . aber vor den jungen Herren . . . na, Sie werden mich schon verstehen, Herr Major. – Bodochen, goldner Herr Lieutenant, sagen Sie's bloß nicht zu Hause, daß Sie mich erwischt haben.«
Die Drolligkeit des naiven Musikdirektors gab immer neuen Anlaß zu lauten Ausbrüchen allgemeiner Heiterkeit und würzte den Gästen das Mahl ebensosehr, wie vorher die schlechten Scherze Bodos ihnen den Appetit verdorben hatten. Nach dem Essen machte man wieder etwas Musik, sehr leichte Musik, bei welcher sich's ganz gut plaudern ließ. Zudem hatten alle des köstlichen Schaumweines so reichlich genossen, daß weder die Vortragenden mehr große Aufmerksamkeit beanspruchten, noch die Zuhörer für ihre Rücksichtslosigkeit besonders streng zu verurteilen waren.
Adriane sang. Muz und Eckardt saßen nebeneinander auf dem Sofa.
»Sie müssen mir schon den Gefallen thun, lieber Major,« sagte Rudolf.
Der Angeredete ließ mit ärgerlichem Ruck die Spitzen seines Türkenschnauzers durch die Finger gleiten: »Aber stellen Sie sich doch bloß vor, mein Bester, diese hirnverbrannte Idee: ich, der älteste Freund des Hauses Lersen, soll Ihnen helfen, das Jungchen, den Bodo, totschießen!«
»Beruhigen Sie sich, ich will es so schlimm nicht machen. Uebrigens kann es dem jungen Herrn nicht schaden, wenn Sie ihm auch hierin Ihren vollen Ernst zeigen. Soll man mir etwa nachsagen, daß ich diesen kleinen Dragoner umgebracht hätte, weil seine Schwester mich nicht heiraten wollte at a moments warning?«
»Wenn er nun aber Sie anschießt? Er weiß ja nicht, welch traurige Rolle er in dieser Schicksalstragödie spielt. Soll man ihm erlauben, den einzigen Sohn der Eltern, die durch seines Vaters Schuld in Elend und . . .«
»Durch Sie darf er es nicht erfahren – Ihre Hand darauf!« unterbrach Rudolf fast gebieterisch. »Es wäre feige von mir, wenn ich mich hinter der Schuld des alten Generals vor den Kugeln des Sohnes verstecken wollte. Er soll sehen, daß er es mit einem Manne zu thun hatte! Wenn's das Schicksal will – Schicksal! Humbug! Der Sohn artet eben dem Vater nach, lebt lustig von meinem Gelde und knallt mich dann über den Haufen! Diese Familie gehört als Musterbeispiel in eine darwinistische Naturgeschichte. Die Lersens vertilgen die Eckardts, um ihre Rasse zu vervollkommnen – haha!«
»Lieber Freund, Sie sind sehr aufgeregt – Sie gefallen mir gar nicht,« sagte der Major, Rudolfs Auge suchend. »Sie sind nicht der Mann zum Verspeistwerden, sondern zum selbst Verspeisen – das haben Sie Ihr lebenlang bewiesen! Dabei bleiben Sie nun aber auch, und fallen Sie nicht wie ein deutscher Mondscheinjüngling in Ohnmacht, weil Sie sich mit diesem höchst liebenswürdigen Fräulein in unbequeme Verhältnisse eingelassen haben. Die Grigori klammert sich an Sie, weil sie stolz ist und Sie ihr imponieren. Sie würde Sie vielleicht mit Kußhand heiraten, vom Fleck weg – aber daß das eine Dummheit wäre, empfinden Sie schon jetzt, und sie würde es bald genug auch merken. Also warum so ängstlich? Asta ist ja rasend eifersüchtig auf ihre beste Freundin – ist Ihnen das noch nicht genug?«
»Ja, und hetzt ihren Bruder auf gegen mich, damit . . ,«
»Himmelelement nochmal! Wie können Sie das auch nur denken?!« brauste der alte Muz auf. »Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß Asta alles weiß, daß sie sich selbst erbot, Ihnen sofort das Geld zu bringen.«
»Gewiß, weil ihr Hochmut den Gedanken nicht ertragen kann, daß irgend einer von ihrer Sippe mir noch etwas schuldig sein sollte.«
»Mit Ihnen ist heute nicht zu reden!« Der Major erhob sich von seinem Sitze und ging auf den Musikdirektor zu, der mitten im Zimmer rittlings auf einem Koffer saß und den Takt zum Gesange der Grigori schlug.
Unmittelbar neben dem Thron des drolligen kleinen Herrn hielt ihn der Prinz Führingen an.
»Sie werden Herrn von Eckardt morgen sekundieren, Herr Major?« fragte er ziemlich leise, aber doch nicht so leise, als daß seine Worte den scharfen Ohren des Musikdirektors entgangen wären. Der alte Muz verbeugte sich leicht.
»Der Gegner wünscht eine möglichst frühe Stunde. Ich habe mit Herrn von Lersen halb sieben Uhr verabredet, hinter dem Lietzensee im Witzleben. Um die Sache recht unauffällig zu machen, möchte ich mir erlauben, Ihnen vorzuschlagen, daß Sie mit Ihrem Klienten mit der Stadtbahn um sechs Uhr nach Charlottenburg fahren und, am Bahndamm entlang beim Gasthof Lietzensee vorbei, den Platz des Rendezvous aufsuchen. Ich selbst werde Herrn von Lersen in eignem Wagen von der andern Seite aus hinfahren und für alle Eventualitäten meinen Arzt mitbringen.«
»Gut. Ich habe nichts dagegen einzuwenden. Die Bedingungen?«
»Ich denke nicht zu schwer! Mein Gott, Neckereien in der Weinlaune, aus Eifersucht . . .«
Die Herren traten weiter zurück. Mehr konnte der alte Diedrichsen nicht verstehen. Er hatte rasch und ziemlich viel Wein getrunken, er war nicht mehr im stande, den vollen Sinn des Gehörten sich ganz klar zu machen. Er fühlte den dunklen Drang, etwas zu thun, um Unheil zu verhüten, war aber gänzlich unfähig, auf der Stelle einen Plan zu entwerfen.
Adriane kam und bat ihn, etwas vorzutragen. Froh, des schwierigen Nachdenkens durch diese Aufforderung überhoben zu werden, kam er derselben sofort nach und griff kräftig in die Tasten.
Adriane setzte sich neben den einsamen Rudolf auf das Sofa. Ihr Busen wogte heftig, ihre schönen dunklen Augen glühten, unfähig, ihre Erregung zu meistern, preßte sie Rudolfs Rechte in ihren beiden Händen und flüsterte ihm zu: »O mein Freund, was wollen Sie für mich thun! Ich habe Sie im Spiegel vorhin mit dem Lieutenant beobachtet – ich weiß alles: Sie wollen Ihr Leben einsetzen, um die Schmach zu rächen, die dieser Mann und seine Schwester mir angethan haben. Warum – mein Freund, warum? O! Ich weiß – siehst du nicht, wie ich glühe vor Glück? Der kleine Offizier hat Anspielungen gemacht zu mir, sich entschuldigt, ironisch gratuliert. . . . Jetzt weiß ich, daß du mich liebst, so wie ich dich liebe! Höre doch: Rudolf, ich liebe dich! Daß ich's doch singen, hinausschreien dürfte! – Ach, es ist so süß, einem Manne zu sagen: ich liebe dich, ich liebe dich! – Berauscht es dich auch so, Lieber? Du wirst dich nicht schlagen – ich verbiete es dir, ich habe jetzt ein Recht auf dein Blut; jeder Tropfen ist mein! Ich will dich so fest halten, daß du nicht fort kannst, wenn du auch möchtest.« Sie war so im Taumel der Wonne, daß sie wirklich die Arme erhob, als wollte sie seinen Hals umschlingen.
Rudolf zuckte zusammen: »Ums Himmels willen, Adriane, man wird aufmerksam, mäßigen Sie sich.«
»Ach, es ist wahr – die Menschen! Was gehen sie mich an? – Der gute, liebe Prinz, was er für traurige Augen macht, und wie er seinen schönen Charles-quint-Bart so nervös streichelt! Du mußt wissen, er hat mir einen Heiratsantrag gemacht, der gute, dumme Prinz. Ich habe es dir nicht gesagt, ich wollte dich nicht ärgern.«
Rudolf wandte sich mit großen Augen ihr zu: »Der Prinz hat Ihnen seine Hand angetragen – im Ernst?« flüsterte er höchst ehrlich erstaunt: »Und Sie haben ihn abgewiesen?«
»Ich wußte doch, daß du mich liebtest,« gab sie zärtlich zurück, mit einem Lächeln, das ihre unregelmäßigen Züge hinreißend schön machte.
Er aber schüttelte den Kopf, wendete sich kalt von ihr ab und sagte: »Wie konnten Sie Ihr Glück so von sich stoßen? Sie, die geborene Prinzessin! – Adriane, ich begreife Sie nicht! – Wenn ich Ihnen im Wege bin . . .«
Sie rang nach Atem, sie wurde sehr bleich, es überlief ihre glühende Haut eiskalt. Betrogen, wieder und schlimmer betrogen denn je! Sie ächzte leise auf und sank ohnmächtig mit dem Oberkörper zur Seite. Rudolf griff nach ihrem Kopfe, sprang auf und stützte sie. Der Prinz, der Major, Bodo eilten erschrocken hinzu – nur der Musikdirektor lärmte im Walzerrhythmus weiter, bis ihm der alte Muz zurief, daß er »ins Dreideibels Namen!« aufhören möchte.
Inzwischen hatte der Prinz bereits die Zofe zur Hilfeleistung herbeigeholt und Rudolf Adriane eine nasse Serviette auf das Gesicht gedrückt. Sie schlug nun matt die Augen auf. Die Herren blickten einander an, traten zurück und entfernten sich geräuschlos.
Auf der Treppe hielt Rudolf den alten Muz ein wenig zurück: »Wenn der kleine Lieutenant morgen nur treffen möchte!« knirschte er.
»Unsinn, mein Junge,« erwiderte der Major. »Der bezechte kleine Lieutenant verschläft morgen die Zeit.«
»Was habe ich gethan! Ich kann ihr nicht mehr unter die Augen treten!«
»Kneif aus, mein Sohn, kneif aus!« rief der Alte eifrig. »Einem Manne muß man unter allen Umständen entgegentreten, aber vor einem beleidigten Weibe heißt es: sauve qui peut!« –
Eine gute halbe Stunde später hielt die Zofe die wieder zum Bewußtsein erwachte Herrin immer noch stützend um die Taille gefaßt. Und immer noch starrte Adriane Grigorescu stumm vor sich hin, atmete schwer und biß sich die Lippen wund.
Dem armen Mädchen fielen vor Müdigkeit schon die Augen zu. Fast wäre sie am Busen ihrer Herrin, wie sie so wort- und regungslos neben ihr auf dem Sofa saß, sanft entschlummert.
Da schlug die Standuhr eins. Das Mädchen raffte sich auf und rief halblaut: »Wollen Fräulein nicht zu Bette gehen?«
Und Adriane erhob sich, brach plötzlich in ein krampfhaftes Schluchzen, mit hysterischem Lachen untermischt, aus und taumelte an der erschrockenen Zofe vorbei in ihr Schlafzimmer.