Ernst von Wolzogen
Die Kinder der Excellenz
Ernst von Wolzogen

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Zwölftes und letztes Kapitel.

Von welchem der Autor sich wohl hüten wird etwas zu verraten.

Der Professor Diedrichsen saß noch spät bei seiner Arbeit auf. Er hatte wohl schon ein dutzendmal nach der Uhr geschaut und begann schließlich doch um seinen Vater besorgt zu werden. Um halb zwei Uhr des Nachts schwankte endlich der sonst so solide Musikdirektor in sein Schlafgemach, nachdem er dem erstaunten, kopfschüttelnden Sohne weisgemacht, daß er den Major von Muzell zufällig auf der Straße getroffen und auf dessen Einladung »ein Glas Wein« mit ihm getrunken habe. Noch an der Schwelle seines Zimmers blieb er zögernd stehen, ließ einen müden Blick an seinem großen Sohne hinaufschweifen und überlegte, ob er nicht auf alle Fälle Hans ins Vertrauen ziehen und mit ihm gemeinsam beraten sollte, was etwa geschehen könnte, um das unglückliche Duell zu verhindern. Aber seinem Hans zu gestehen, welche wunderliche Rolle er in der tollen Komödie dieses Abends gespielt, das kam ihm doch zu sauer an, und außerdem, wenn es ihm allein gelang, morgen früh die Gegner zu versöhnen, dann war es ja um so besser, wenn niemand weiter um die Sache wußte. Er wünschte also nochmals recht verlegen gute Nacht und zog sich dann hurtig zurück. Der Vorsicht halber schrieb er sich noch auf einen Merkzettel: Charlottenburg, Lietzensee, halb sieben – stellte den Wecker auf fünf Uhr und verfügte sich dann eiligst in sein Bett.

Als das Werk am nächsten Morgen pünktlich losschnurrte und wie toll auf der Platte des Nachttischchens polterte, fuhr Diedrichsen aus den Federn, wie eine Kanonenkugel aus dem Rohre. Er war so schlaftrunken, er hatte keine Ahnung, was er sich zu thun vorgenommen, nur das dunkle Gefühl, daß es sehr eilig sei. Trotzdem nickte er, auf der Bettkante sitzend, nochmals ein und erwachte erst nach zwanzig Minuten wieder durch einen recht unsanften Zusammenstoß seiner Stirn mit einer Ecke des Nachttischchens. Er sah nach der Uhr – der Merkzettel lag daneben. In fliegender Hast kleidete er sich an und stürzte dann ungewaschen, unfrisiert, ungefrühstückt zum Lehrter Bahnhof. Der Westender Zug ging ihm vor der Nase weg. Da die Zwischenzüge nur bis zum zoologischen Garten, nicht bis Charlottenburg laufen, so mußte er zwanzig Minuten warten. Eine Ewigkeit für einen Menschen, der Flügel haben möchte, um ein mögliches fürchterliches Unglück zu verhüten.

Endlich kam der richtige Zug. Der Musikdirektor bestieg eiligst den nächsten Wagen dritter Klasse. Der Abteil war voller Arbeiter. Die Morgencigarren dufteten unbarmherzig, die Schnapsflasche ging herum und so langsam kroch die Maschine dahin, als hätte sie auch noch nicht ausgeschlafen.

Station Charlottenburg! Der alte Herr flog aus der Thür auf den Bahnsteig hinab, als hätte man ihn gewaltsam hinausbefördert. Er nahm drei Stufen auf einmal die Treppe hinab. Die Sonne stand schon hoch und brannte so heiß, wie die Junisonne um sieben Uhr früh nur irgend brennen kann. Und der Musikdirektor keuchte halb trabend unten am Bahndamm entlang und hatte sich den Hut vom Kopfe gerissen.

Da lag das einsame Gasthaus – da lag der kleine Lietzensee in seinem üppig grünenden Versteck. Der Musikdirektor sprang durch das hohe feuchte Gras an seinem Ufer entlang. Da draußen auf dem Feldweg hielt ein geschlossener Wagen und dort, wo die Birken so dicht vor den Fichten standen, dort würden die Herren sein. Er war kaum fünfzig Schritte von der Stelle entfernt – – da – – ein Knall! Oder waren es zwei Schüsse gewesen, fast gleichzeitig? Ein Schwarm Spatzen flog laut piepsend und zwitschernd aus den Birken auf – unmittelbar vor den Füßen des Musikdirektors hüpfte ein erschrockener Frosch ins Wasser. Dann war alles still.

Der alte Diedrichsen holte dreimal tief Atem und stolperte vorwärts. In zwei Minuten war er auf dem Kampfplatz.

Da lag der Amerikaner lang ausgestreckt auf dem Rücken, sein rotes Blut rann aus seiner Brust in den Sand. Der Major und ein fremder junger Mann knieten neben ihm. Der Prinz hielt Bodo am rechten Arm fest. Mit der linken Hand fuhr sich der Lieutenant durch das unbedeckte Haupthaar und stöhnte dabei verzweiflungsvoll: »Doktor, wie steht's? Es kann nicht das Herz sein, es kann nicht . . . ich habe nach dem rechten Oberarm gehalten . . . ganz nach rechts . . . ganz nach rechts!«

Und der Arzt erhob den Kopf ein wenig. »Ich kann nichts sehen. Die Wunde blutet zu sehr. Ich fürchte, er wird nicht zu retten sein!«

Bodo jammerte laut auf: »Das habe ich nicht gewollt . . . das nicht! Ich habe ganz rechts gehalten . . . ganz rechts . . . die Hand zitterte mir wohl . . . ich habe so wenig geschlafen . . . o mein Gott, mein Gott!«

»Meine Herren, wir sind nicht allein!« rief Prinz Führingen, den Musikdirektor zuerst bemerkend.

Der alte Herr schluchzte wie ein Kind. »Ach! Du Grundgütiger, so ein Unglück, so ein Unglück! Wäre ich bloß zehn Minuten früher gekommen, das Duell hatte gewiß nicht stattgefunden!«

»Wie hätten Sie es denn verhindern wollen?« warf der alte Muz etwas geringschätzig hin.

»Ich hätte dem Herrn einfach verraten, daß Baroneß Asta ihn liebt, zum Tollwerden liebt! Dann würde er sich wohl gehütet haben, sich vom Bruder totschießen zu lassen!«

»Asta soll Herrn von Eckardt? . . .« rief Bodo mit unstät rollenden Augen.

»Jawohl, Sie haben Ihrer armen Schwester den Geliebten gemordet, in Ihrem dummen, miserablen, gottverdammten Uebermut,« brauste der kleine Herr auf.

Und da trat auch schon von der andern Seite der Major auf Bodo zu und raunte ihm ingrimmig ins Ohr: »Ja, und du hast noch weit mehr gethan, mein Jungchen! Du hast den Mann niedergeschossen, mit dessen Gelde du dir lustige Tage gemacht hattest – denn Herr von Eckardt war's, der deine Wechsel in meinem Namen aufkaufte und dem die dreißigtausend Mark rechtmäßig zukamen, von denen du deine Schulden bezahlen wolltest: Rudolf von Eckardt ist der Sohn des Mannes, den der Leichtsinn deines Vaters um das Seine gebracht und in den Tod getrieben hat: und nun bist du es, der . . .«

»Das ist furchtbar, das ist mehr, als ein Mensch ertragen kann!« schrie Bodo auf. »Führingen, wenn Sie mein Freund sind, geben Sie mir das Pistol wieder! O, mein Gott! Mein Gott! Warum habt ihr mir das nicht früher gesagt!«

»Mir war die Zunge gebunden,« knirschte der Major. »Ich glaubte, deine Mutter hätte dir gestern noch geschrieben, als sie dich nicht zu Hause traf. Sie hatte es mir versprochen.«

»Es lag ein Brief auf meinem Tische, ja jetzt besinne ich mich – ich war gestern nacht nicht mehr im stande, ihn zu lesen!«

Der Arzt erhob wieder den Kopf. »Die Blutung scheint aufzuhören. Er atmet noch schwach. Wo bringen wir ihn hin?«

»Er wohnt chambre garni, er würde keine Pflege haben,« überlegte laut der Major. »Ihn in ein Krankenhaus bringen, hieße die Sache an die große Glocke hängen.«

Da rief ohne langes Besinnen der Musikdirektor: »Bringen Sie ihn zu mir, meine Herren. Ich bin mit an diesem Unheil schuld; was in Menschenmöglichkeit steht, ihn zu retten, das soll ihm in meinem Hause werden. Meine Schwiegertochter . . .«

Der alte Muz ergriff fest die Rechte Diedrichsens. Sein Auge leuchtete in rascher Hoffnung auf, und er flüsterte ihm zu: »Den Gedanken hat Ihnen der liebe Gott selber eingegeben!«

Und mit äußerster Vorsicht hoben sie den Bewußtlosen in die Kutsche des Prinzen. – –

Am selben Morgen, es mochte schon gegen zehn Uhr sein, wühlte Adriane immer noch planlos in ihren sieben Sachen umher, warf hier etwas unordentlich in einen Koffer, riß dort ein Stück wieder heraus, um es anderswo unterzubringen. Es war nicht daran zu denken, daß sie mit ihrer Packerei rechtzeitig fertig werde, um den Hamburger Kurierzug zu erreichen. Ruhelos irrte sie in ihren beiden Zimmern umher, sah nach der Uhr, horchte nach dem Korridor hinaus, packte wieder weiter, oder mußte sich angstvoll seufzend auf das Sofa werfen, um das immer wieder auftretende Herzklopfen zu überwinden. Was lag daran, ob sie heute reiste. Rudolfs Begleitung konnte sie nach der niederschmetternden Entdeckung von gestern abend doch nicht mehr annehmen. Wie unsäglich grausam war sie wiederum betrogen worden! Sie krümmte sich noch unter der Wucht des Schlages, den ihr tückisches Schicksal gegen sie geführt. O, über die hochfliegenden Pläne, die stolzen Ideale ihrer Jugend! Nicht waren sie, wie es das gewöhnliche Menschenlos ist, als prächtig schillernde Seifenblasen vor ihren lachenden Augen formlos in nichts zerstoben, nein, wie die stolzen Rosen hatten sie schon das Kind zugleich berauscht und verwundet mit den Stacheln des Ehrgeizes, der brennenden Sehnsucht nach dem Ungemeinen. Und als sie aus dem kurzen Traume süß-wilden Mädchentumes erwacht war, da krochen aus den Rosenhecken giftige Schlangen und Skorpione hervor, daß die Angst sie von Ort zu Ort, von Land zu Land hetzte. Wie mußte sie lernen, sich zu bescheiden! Und wie glücklich, zum erstenmal im Leben ganz glücklich fühlte sie sich, als sie sich geliebt glaubte von diesem ehrlichen, starken Manne. Er war gut, er war rein, klar im Geist, warm im Herzen – und die stolze Adriane Grigorescu dürstete einzig nach dem Triumph der Schwäche, nach seliger Hingabe! Und auch er hatte sie betrogen! Seine guten, ehrlichen Augen hatten ihr Herz in Sonnenschein gebadet, mit warmem Regen getränkt, bis es bunte Liebesblumen in üppiger Fülle sprießen ließ – und da hatte er kalt den Rücken gekehrt und gleichgültig gesagt: »Was soll ich mit den Blumen?«

Aber trotz alledem setzte er doch sein Leben für sie aufs Spiel, hatte jetzt vielleicht schon sein Blut vergossen, um die trunkenen Beleidigungen eines unreifen Jünglings zu bestrafen, der wohl kaum heute noch gewußt, was er gestern geredet hatte! Er liebte sie nicht und schlug sich für sie – und sie haßte ihn und bangte doch um sein Leben in namenloser Angst!

Endlich konnte Adriane die Ungewißheit nicht länger ertragen. Sie hieß das Mädchen, sich in eine Droschke zu werfen, zu Herrn von Eckardt zu fahren und ihm zu bestellen, daß die Gnädige ihre Pläne geändert habe und auf seine Begleitung verzichte.

Um halb elf Uhr kehrte die Zofe zurück. Sie war fast so bleich wie ihre Herrin und zitterte merklich vor Aufregung, als sie die Worte sprach: »Herr von Eckardt war nicht zu Hause.«

»Nicht zu Hause? Hast du gefragt? . . .«

»Die Leute sagten, er wäre schon vor sechs fortgegangen und hätte hinterlassen, falls er bis um zehn nicht zurückkäme . . .«

»Nicht zurückkäme?«

»Diesen Brief an das gnädige Fräulein zu besorgen.« Sie holte den Brief aus der Tasche und reichte ihn mit angstvollem Ausblick der Herrin.

Adriane riß den Umschlag entzwei und entfaltete mit bebenden Fingern den Briefbogen. Ein zweiter Brief in Umschlag lag darin. »An Herrn Lieutenant Bodo von Lersen – gütigst zu übermitteln.« Sie warf dies Schreiben von sich – ihre Augen überflogen die wenigen Zeilen des offnen Blattes. Mit einem lauten Aufschrei brach sie zusammen.

Das Mädchen fing sie auf, schleppte sie zum Sofa und lehnte sie in die Ecke zurück. Das Blatt war zu Boden geflattert. Das Mädchen nahm es neugierig auf und las:

»Mein teures Fräulein!

»Wenn Sie diese Zeilen erhalten, bin ich nicht mehr unter den Lebenden. Es ist ein wunderbares Verhängnis, das mich in den Tod getrieben hat. Mein Freund, der Major, wird Ihnen alles erklären. Sie sind so gut, so liebenswert, ich wollte Sie lieben. Ich wollte mich selbst betrügen – und betrog Sie am unverantwortlichsten. Verzeihen Sie mir, wenn Sie können, und bewahren Sie mir ein freundliches Andenken, als wie einem Zwillingsbruder im Kampfe gegen ein unvernünftiges, dummes Geschick!

»Ich habe Ihnen an dem Tage, an welchem Sie mir Ihr Leben erzählten, heimlich etwas entwendet. Man wird es in meiner Brieftasche (in der inneren Brusttasche links) finden. Vergeben Sie mir und lassen Sie mich das zerknitterte Blatt mit ins Grab nehmen.

»Empfangen Sie den letzten Dank eines Toten für Ihre Liebe zu mir und beglücken Sie bald einen würdigeren Mann damit. Werden Sie so glücklich, als Sie es verdienen, das sei der letzte Wunsch

Ihres

Rudolf von Eckardt.«

Berlin, am 30. Juni 1886,
    zwei Uhr morgens

In dem Bette des Professors Hans Diedrichsen lag der Schwerverwundete. Noch war er nicht zur Besinnung gekommen; aber die gefahrvolle Blutung hatte aufgehört, sie hatten die Wunde waschen und verbinden können. Die Töchter der Excellenz gingen mit leisen Tritten im Krankenzimmer aus und ein und leisteten dem Arzte die nötigen Handreichungen.

Gegen neun Uhr war des Professors guter Freund, gleichfalls Docent an der Universität und hervorragender Chirurg, gekommen und hatte sich sofort mit seinem Kollegen an die Untersuchung gemacht. Da zeigte es sich, daß die Kugel schräg auf die linke Brust, gerade über dem Herzen, aufgeschlagen, aber in ihrer Gewalt durch das lederne Taschenbuch gehemmt, dann an einer Rippe platt gedrückt und an dieser entlang noch ein beträchtliches Stück ins Fleisch eingedrungen sei. Der Blutverlust war ein so furchtbarer gewesen, daß der Arzt die Entfernung der Kugel vorderhand nicht wagte, doch war er überzeugt, daß die Operation unschwer gelingen müßte, wenn es überhaupt glückte, den todbleichen Mann wieder zu Kräften zu bringen. Aber er sei ja allem Anschein nach so kraftvoller Natur, daß dies bei sorgfältiger Pflege gewiß zu erwarten sei.

Asta stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus nach diesen Worten. Sie begleitete den jungen Chirurgen zur Thür hinaus und fragte ihn draußen noch einmal, ob er ihr mit gutem Gewissen Hoffnung machen könne. Und er drückte ihr ermutigend die fiebernde Hand und sprach: »Sie sind seine Braut, gnädiges Fräulein, nicht wahr? Ihnen lege ich sein Leben in die Hände. Sie werden es ihm zu erhalten wissen. Sorgsamste, geduldigste Pflege, Ruhe und wieder Ruhe – halten Sie ihm jede Aufregung ängstlich fern. Er schläft jetzt, das ist sehr gut. Thun Sie das übrige.«

Und Asta setzte sich auf den Stuhl zu Rudolfs Füßen und wachte über seinen Schlummer. Ihre Augen, die so zärtlich, so angstvoll auf den wachsbleichen Zügen ruhten, wurden größer und größer und flossen endlich über von warmen Thränen, die ihr Herz von langer, starrer Qual erlösten. –

Oben im dritten Stockwerk flossen nicht minder heiße Thränen, vergessen in Scham und aufrichtigster Reue, in selbstquälerischer Zerknirschung. Die Excellenz von Lersen hielt das Haupt ihres Sohnes an ihre Brust gedrückt, und er hatte beide Arme wie ein Kind um ihren Nacken geschlungen. Und die Mutter versuchte den armen Jungen damit zu trösten, daß sie sich selbst in den heftigsten Worten der erbärmlichsten, feigsten Furcht vor der Wahrheit anklagte. –

Trudi war dem Geliebten in sein Studierzimmer gefolgt. Er hielt sie auf seinem Schoße und erzählte ihr, was sein guter Papa ihm vorhin gestanden, obwohl er ihm natürlich hatte versprechen müssen, ihn nicht zu verraten.

»Ach, Liebchen, ich fürchte, Väterchen hat uns da einen schlimmen Dienst erwiesen. Nicht genug, daß er sich in den Augen aller Herren lächerlich gemacht hat – er hat auch der Grigori eine Waffe gegen unsre Asta in die Hand gegeben . . . wenn sie rachsüchtig ist . . . wer weiß!«

»Laß nur, Hans, trag ihm das nicht nach. Mögen die Leute über ihn lachen, wir wollen ihn nur um so lieber haben, denn er hat doch unsrer Asta den Geliebten wiedergebracht. Er wird nicht sterben, du wirst es sehen. Das Schicksal ist ja so gerecht gewesen bis hierher – alles Böse hat sich zum Guten gewendet – es wird nicht so grausam sein, ihn jetzt sterben zu lassen. Hätte der gute Papa nicht so eifrig meine dumme Idee gegen unsern Willen zur Ausführung gebracht, so hätte er auch nichts von dem Duell erfahren, und dann befände sich Rudolf nicht in Astas Pflege! Glaube mir nur, es war zum Guten!«

»Aber die Grigori! Sie wird Asta den Geliebten nicht gönnen. – Jede Aufregung kann ihn töten – er schlug sich für Adriane, bedenke das! Und Astas Stolz . . .«

Trudi mußte lächeln, trotz ihrer wehmütigen Stimmung: »Ach! Ihr klugen Männer! Von Weibersachen versteht ihr doch gar nichts.« Sie küßte ihren Hans zärtlich.

Da steckte der Musikdirektor den Kopf zur Thür herein. »Kinder,« rief er mit gedämpfter Stimme, »das Fräulein Grigori ist hier. Ich konnte sie nicht abweisen – es ist zu traurig! Sprecht ihr mit ihr. Asta braucht es ja gar nicht zu erfahren.«

Einen Augenblick später trat Adriane ein. Die schönen Augen in Thränen gebadet, mit fliegendem Atem, wankenden Knieen. Sie sank in den nächsten Sessel.

»Ist es wahr,« keuchte sie hervor, »was mir Ihr Vater sagte: ›Er lebt, er wird nicht sterben‹?«

»Ja es, ist wahr. Der Arzt gab die besten Hoffnungen,« antwortete der Professor.

»O mein Gott! diese entsetzlichen Stunden – was habe ich gelitten! Dieser Brief – lesen Sie, Trudi – lesen Sie, er hat mich fast getötet.« Sie reichte Trudi den Brief Rudolfs samt der Einlage an Bodo. Dann preßte sie ihr Spitzentüchlein mit beiden Händen in die Augenhöhlen und schluchzte: »Ich fuhr zum Major – er war noch nicht zurückgekehrt seit morgens um Sechs. Der Bursche wußte nichts. Ich fuhr zur Fürstin Berleburg – der Prinz war ausgegangen. Die Dienerschaft schien etwas zu wissen, verriet aber nichts. Da fiel mir ein, daß der Musikdirektor vielleicht gestern etwas gehört haben könnte – ich kam hierher – er lebt! O Gott, mein Gott – heißen Dank!« Sie faltete ihre Hände fest über dem zusammengeballten, thränenfeuchten Tuche, stützte sie auf die Lehne des Stuhles und legte ihre Stirn darauf.

Niemand sprach ein Wort. Trudi las Rudolfs Brief zu Ende und reichte ihn dann schweigend ihrem Hans. Auch er las – und seine Augen wurden naß. Dann verließ er still das Zimmer, denn er wußte, daß niemand die Aermste so gut trösten konnte, als seine kleine Braut. Er stieg hinauf zu Lersens und gab den Brief für Bodo ab, der ihn in seiner Gegenwart hastig öffnete. Auf einem losen Zettel standen die Worte:

»Sie haben den Prozeß Lersen contra Eckardt auf militärische Art durch einen Gewaltstreich zu Ende geführt. Auch gut! Machen wir einen Strich durch die Rechnung.«

Und dabei lagen, in Fetzen zerrissen, Bodos vier Wechsel! – – –

Einige Minuten später betrat der Professor wieder sein Zimmer. Er hielt das blutüberströmte Taschenbuch Rudolfs in der Hand und überreichte es Adriane mit den Worten: »Hier, mein gnädiges Fräulein; dies befand sich in der inneren linken Brusttasche. Es hat Herrn von Eckardt das Leben gerettet.«

Das angetrocknete Blut und die ausgefransten Ränder des Buches, durch das die Kugel hindurchgeschlagen, bewirkten, daß das Taschenbuch sich nur mit Mühe öffnen ließ. Adriane zerrte, mit zuckenden Fingern heftig die Blätter auseinander. Visitenkarten lagen dazwischen, Rechnungen, ein Porträt von ihr, das sie ihm jüngst geschenkt – die Kugel hatte das Gesicht fast vollständig weggerissen – und da noch ein alter Brief, zerknittert, mit gebrochenen Kniffen, blutbefleckt und natürlich gleichfalls von der Kugel durchbohrt. Vorsichtig faltete sie das Papier auseinander, las die Ueberschrift – und schleuderte es, laut aufstöhnend, von sich.

»Das hat er mit ins Grab nehmen wollen!«

Es war jener glühende Liebesbrief der Pensionärin Asta von Lersen an ihre Busenfreundin Adriane Grigorescu, den Rudolf ihr einst entwendet, ohne daß sie es bis heute bemerkt hatte.

Sie kämpfte nun einen schweren Kampf, die Unglückselige. Trudi sah es mit Angst und innigstem Mitgefühl. Es bedurfte geraumer Weile, bis sie sich wieder gefaßt hatte. Sie erhob sich langsam, trocknete ihre Thränen und sagte: »Bitte, lassen Sie mich Asta einen Augenblick sehen, wenn es möglich ist –« und da sie einen besorgten Blick des Professors nach seiner Braut auffing, fügte sie noch matt lächelnd hinzu: »Fürchten Sie nichts – ich bin ruhig.«

Trudi ging mit geräuschlosen Schritten in das Krankenzimmer, flüsterte Asta einige Worte zu und nahm deren Platz ein.

Von glühender Röte übergossen, hoch schlagenden Herzens, trat Asta der einstigen Busenfreundin gegenüber.

Adriane reichte ihr das blutgetränkte, durchlöcherte Blatt Papier, ließ die vor Erstaunen schier Erstarrende einige Zeilen lesen und erklärte ihr dann in wenigen, halb geflüsterten Worten den Zusammenhang.

»Das hat er auf dem Herzen mit sich herumgetragen, das hat ihn . . . dir beschützt . . . er ist dein . . . ich darf ihn nicht halten!«

Adriane wandte sich zum Gehen, sie ging wirklich – sie drückte die Thür hinter sich ins Schloß.

Da erst vermochte sich Asta aus ihrer Erstarrung aufzuraffen. Sie eilte ihr nach – und in dem dunkeln Korridor, da fiel sie ihr um den Hals und preßte sie an sich mit der alten Inbrunst schwärmerischer Mädchenfreundschaft. Wange an Wange geschmiegt, weinten die beiden Frauen sich aus.

Am 10. August fand die Doppelhochzeit der Töchter der Excellenz statt. Der Musikdirektor hatte furchtbar viel Notenpapier in letzter Zeit verbraucht zu Hochzeitsmärschen, Kußwalzern, Brautliedern, zu denen Hans Lohengrin den Text gedichtet, und dergleichen mehr. Am Polterabend erschien der Sekondelieutenant a. D. Bodo von Lersen in seinem nagelneuen Kostüm als Afrikareisender und brachte einen Trinkspruch in der Suahelisprache aus. Ja, er war sehr fleißig gewesen und hatte außer Sprach- und geographischen Studien mit Hilfe seines Schwagers eifrig allerlei notwendige naturwissenschaftliche Kenntnisse erworben. Der alte Muz hatte ihn wirklich im Dienste der Ostafrikanischen Gesellschaft unterzubringen vermocht.

Derselbe alte Muz hatte aber auch seiner Zeit ein vernünftiges Wörtchen mit Fräulein Grigori, und ein zweites vernünftiges Wörtchen mit dem niedergeschlagenen Prinzen Führingen geredet. Die Folge davon war, daß Frau Asta von Eckardt noch im Herbst desselben Jahres einen sehr zärtlichen Brief aus Schloß Führingen von Ihrer Durchlaucht der Prinzessin erhielt, in welchem Adriane mit drolligen Worten, in einem Gemisch von vier bis fünf Sprachen, ihr häusliches Glück schilderte: »My darling own Prince ist unmusikalisch comme un tambour-major! Aber er hat so schöne Pferde und ein so gutes Herz – überhaupt: ein überraschend anständiger Mensch!«

Die gute alte Fürstin Berleburg-Dromst-Führingen bekam es von der Berliner aristokratischen Gesellschaft in allen Tonarten gesungen und gepfiffen, daß ihre eignen »laxen Prinzipien« an dieser skandalösen Mesalliance schuld seien. Aber die heitere Greisin wußte sich bald zu trösten. Uebrigens waren die Grigorescu ja eine sehr alte Familie – sie gehörten zu den allerältesten Wallachen, und die Mutter eine Gräfin Scentlenyi – à la bonheur! Der Major von Muzell war ihr erklärter Günstling geworden in letzter Zeit und seine Lieblingsredensart, daß unsre Vorurteile »ins alte Eisen gehören«, imponierte ihr ungemein.

Eckardts gingen bald nach der Hochzeit nach Buffalo zurück. Ein Teilhaber der Firma Jefferson and Jenkins war inzwischen gestorben, und Rudolf trat auf Wunsch des Mr. Jefferson an seine Stelle und steckte seine dreißigtausend Mark ins Geschäft. Asta gewöhnte sich ziemlich rasch an Amerika und suchte ihren Stolz darin, dort als deutsche Frau, nicht als amerikanische Lady zu glänzen.

Professor Diedrichsens sind natürlich sehr glückliche Eheleute geworden. Nur der zärtliche Schwiegerpapa stört bisweilen mit seiner Neugier. Aber das mag sich im Laufe der Jahre geben, wenn seine Aufmerksamkeit erst abgelenkt wird.

Die Aufregungen der in diesen Blättern geschilderten Wochen sind für die Excellenz von Lersen zu stark gewesen. Sie fängt an alt zu werden, und sie hat es selbst gemerkt – und unter die späten Hoffnungen ihres Herzens einen Strich gemacht.

Der alte Muz wohnt neben ihr in der Zietenstraße, drei Treppen. Sie haben jedes seine besondre Flurthür, seine besondre Küche und seine besondre Bedienung; aber sie fühlen sich einander nahe zu jeder Zeit, und das thut ihnen wohl. Nach all dem Unheil, das ihre Schwäche jüngst angerichtet, bedarf die Baronin des starken Anhaltes mehr als je. Sie fragt den alten Freund in jeder Sache um Rat und sie fühlt sich glücklich in der Abhängigkeit von seinem sicheren Wollen.

Sonntags ladet sie ihn zu Tisch ein, und wenn er ausgegangen ist, schaut sie einmal in seiner Wohnung zum Rechten. Lautenschläger, der treue Bursche, beklagt es sehr, daß sein alter Major das Räsonnieren ganz aufgegeben habe und auch dem »Prügelstuhle« nie mehr etwas zuleide thue.

»Ja, ja, wo die Weiber einmal die Nase reinstecken thun, da is es mit die Jemütlichkeit vorbei!« seufzt er, indem er mit dem Staubtuch über das Porträt der seligen Cassilde wischt. »Fingerdick – würde die Excellenzen das nu wieder nennen! Ja, ja, Cassildeken – du plinkerst auch so mit die Augen, als ob dir ›was 'reinjeflogen wär‹?«

 

Ende.

 


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