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Mit wachsender Ungeduld hatte Kriminalkommissar Weigand die Rückkehr seines Polizeiagenten erwartet.
Als Feldau eilenden Fußes, mit allen Anzeichen großer, innerer Erregung das Büro betrat, ging er ihm hastig entgegen. Sein Auge heftete sich mit fiebernder Spannung auf die erregten Mienen des vor ihm Stehenden.
»Nun?«
Feldau berichtete fliegenden Atems. Der Kommissar zeigte nichts weniger als Enttäuschung oder Entmutigung; im Gegenteil, seine Augen blitzten vor Genugtuung und Entschlossenheit.
»Wir werden ihn kriegen,« rief er, »und wenn wir die ganze Nacht nach ihm suchen sollten.«
Weigand war ganz Eifer und Tatkraft. Mut, Hoffnung und Unternehmungsluft strafften seinen Körper. Unverzüglich traf er seine Maßnahmen. Das eine war ihm sofort klar: wenn es nicht gelang, den Falschmünzer noch in derselben Nacht zu fassen, so war die Entdeckung seiner Werkstatt wieder in lange Ferne gerückt, denn das Ausbleiben seiner Gehilfin mußte ihn im stärksten Maße beunruhigen und zur schleunigen Flucht veranlassen.
Es wurde sofort aufgebrochen; außer Feldau nahm der Kommissar noch acht Kriminalwachtmeister und Schutzleute mit sich. Als man an der Ecke der Albrechtstraße anlangte, war es ½ 10 geworden. Höchste Eile tat not, denn wenn man bis 10 Uhr kein Resultat erzielt hatte, wurde die Sache wesentlich kompliziert, weil dann die Häuser geschlossen wurden. Weigand teilte die acht Schutzleute in vier Trupps. Die Ahlbecker Straße hatte etwa 100 Häuser, lauter große, vierstöckige Mietskasernen. Ungefähr nach dem 20. Hause von der Ecke des Goethehains zweigte sich eine Seitenstraße nach rechts und links ab. Zwei Beamte erhielten den Auftrag, beständig in der Ahlbecker Straße zwischen dieser Seitenstraße und dem Goethehain hin und her zu patrouillieren und jeden, den sie aus einem der Häuser herauskommen sehen würden, genau zu beobachten und im Verdachtsfalle festzunehmen. Zwei patrouillierende, uniformierte Schutzleute, denen man begegnet war, wurden von dem Kommissar informiert und veranlaßt, sich zu seiner Disposition in der Nähe aufzuhalten.
Aus den übrigen sechs Kriminalbeamten und dem Kommissar mit Feldau wurden vier Trupps gebildet. Je zwei dieser Trupps hatten die Aufgabe, auf beiden Seiten der Straße die Häuser nach dem Falschmünzer zu durchforschen.
Ein genaues Signalement des Lomnitz wurde jedem Trupp bekanntgegeben. Zwei der Trupps fingen an der Ecke des Goethehains mit den Nachforschungen an, die andern beiden an der Seitenstraße. So mußten sie in der Mitte der Ahlbecker Straße schließlich zusammentreffen.
Sobald einer der Trupps auf die Spur des Gesuchten stoßen würde, sollte einer der beiden Beamten dem Kommissar sofort davon Mitteilung machen, während der andere abwartend verharren sollte, bis Weigand erscheinen würde.
Und nun begann das mühsame Werk. Treppauf, treppab, ging es unermüdlich von Haus zu Haus. So verging Viertelstunde auf Viertelstunde. Die Häuser waren inzwischen geschlossen worden und ein Nachtschließbeamter mußte den Beamten die Türen öffnen. Natürlich wurde dadurch die Arbeit erschwert und verlangsamt. Mancher Wirt und Verwalter hatte bereits sein Bett aufgesucht und mußte herausgetrommelt werden. Die Beamten begegneten mancher unfreundlichen, ärgerlichen Miene, mußten sich mißmutige, vorwurfsvolle, spitze Bemerkungen gefallen lassen und hatten mit Unlust und Widerwilligkeit zu kämpfen. Keiner wollte von verdächtigen Leuten in seinem Hause wissen, und manch besonders boshaft veranlagter Hausbesitzer meinte höhnisch, die Polizei sähe wohl wieder einmal Gespenster.
Aber Weigand und Feldau bezwangen die Mutlosigkeit und Mattigkeit, die sie befallen wollte, wenn auch die von dem vielen Treppensteigen zitternden und wankenden Beine sie kaum noch tragen konnten.
Schon war es 11 Uhr vorbei. Die Frage zwang sich immer gebieterischer auf, ob man die Recherchen nicht abbrechen und morgen in aller Frühe von neuem beginnen sollte, denn man konnte doch schließlich nicht über Mitternacht hinaus die Nachtruhe der Hausbesitzer und ihrer Angehörigen stören. Ja, so leise und rücksichtsvoll man auch vorging, und so sehr man sich bemühte, jedes lautere Geräusch hintenanzuhalten, es ließ sich nicht vermeiden, daß die Nachbarn neugierig die Köpfe heraussteckten, wenn das Pochen an der Korridortür des Hauswirts die nächtliche Stille und Ruhe des Hauses unterbrach.
Aber der Gedanke, daß der Falschmünzer sich vielleicht schon anschickte, die Beweismittel seiner verbrecherischen Tätigkeit zu vernichten und selbst die Flucht zu ergreifen, stachelte die müden Lebensgeister immer von neuem an und ließ die Beamten Ungemach und Verdruß geduldig ertragen.
Mit keuchender Brust und zunehmender körperlicher Mattigkeit und Abspannung setzten Weigand und Feldau ihre mühevolle und doch fruchtlose Arbeit fort. Es wurde ihnen von Haus zu Haus peinlicher, die Hausbesitzer herauszutrommeln, ihnen, wenn sie unwirsch öffneten, die Legitimationskarte zu zeigen und mit Fragen in die schlaftrunken, mißmutig und widerwillig Auskunft gebenden Leute zu dringen.
Jetzt betraten sie wieder den Flur eines hohen, neun Fenster breiten Mietshauses. Mit seiner Taschenlaterne leuchtete der Kommissar zu dem »Stillen Portier«, der im Flur an der Wand hing, hinauf. Der Besitzer wohnte nicht im Hause, aber der Verwalter hatte seine Wohnung im ersten Stockwerk. Ächzend stiegen die beiden Beamten die Treppe hinauf. Die Zunge klebte ihnen am Gaumen, der Schweiß lief ihnen stromweise über das erhitzte Gesicht. Die Knien wollten fast den Dienst versagen. Das war das allerletzte Haus; dann hatten sie ihr Revier erledigt, ohne ihren Zweck erreicht zu haben. Auch von den andern Trupps war noch keinerlei Meldung eingegangen. Danach mußte man annehmen, daß der Falschmünzer überhaupt nicht in der Ahlbecker Straße, sondern in einer der Nebenstraßen seine Werkstätte hatte.
Zum Glück war diesmal der Verwalter noch auf; er führte die beiden Kriminalbeamten, nachdem sie sich legitimiert hatten, in das Wohnzimmer, in dem sich ein erwachsenes, junges Mädchen, seine Tochter, befand. Der Mann war freundlicher als die meisten der anderen, bei denen die Beamten vorgesprochen hatten. Bereitwillig legte er die Liste der Mieter vor. Auch die Fragen, die der Kriminalkommissar an ihn richtete, beantwortete er in entgegenkommender Weise, leider befand sich unter den Mietern, über die er berichtete, und deren Äußeres er beschrieb, keiner, dessen Signalement mit dem des Lomnitz übereinstimmte.
»Aber sagen Sie,« stieß der Kommissar erschöpft, fast mutlos hervor, »haben Sie unter Ihren Mietern denn nicht einen einzelnen alten Mann im Alter von 60 Jahren? Es kann auch sein, daß er mit einer 30jährigen Frau mit frischem Gesicht, dunklen Haaren und schwarzen Augen zusammenwohnt?«
Der Verwalter sann vor sich hin, seine Tochter aber rief lebhaft: »Jawohl, im Vorderhause vier Treppen wohnt ein alter Herr – er hat nicht von uns gemietet, sondern ist Aftermieter. Die Wohnung ist von einer Frau Saaler, einer Witwe, gemietet. Herr Wendt, ihr Aftermieter, ist ein stiller, ruhiger, anständiger alter Herr, der keiner Fliege was zu Leide tut. Er geht nur selten aus und scheint kränklich und schwächlich.«
Weigand und Feldau horchten hoch auf. Wendt und Saaler, das waren ihnen zwar unbekannte Namen, aber die Beschreibung, die die Tochter des Verwalters von dem alten Wendt gegeben, schien auf Lomnitz zu passen.
Hastig fragte Weigand weiter, wie der alte Mann aussähe, was er triebe, wovon er lebe. Der Verwalter antwortete, daß Herr Wendt offenbar einen Beruf nicht mehr ausübe, er mache den Eindruck eines Pensionärs. Er lebe jedenfalls sehr zurückgezogen und bescheiden. Was sein Aussehen beträfe, so sei er klein, hager und habe weißes Kopf- und Barthaar; auch scheine er etwas kurzsichtig zu sein.
In Weigand und Feldau flammten von neuem Mut und Hoffnung auf, und Müdigkeit und Unlust waren im Nu vergessen. Stand man endlich vor dem Ziel? Sollte der alte Mann, der sich unter dem Namen Wendt verbarg, mit Lomnitz identisch sein? Freilich, ein Fehlschlag war ja nicht ausgeschlossen, denn das Signalement, das der Verwalter gegeben hatte, war doch recht ungenau gehalten und mochte auf Dutzende von Greisen in der Nachbarschaft passen.
Dennoch gingen die beiden Beamten mit neuer Kraft an ihr Werk. Auf den Zehenspitzen schlichen sie beim Schein ihrer Taschenlaternen die vier Treppen hinauf. Oben angelangt, hieß der Kommissar seinen Begleiter an der Bodentreppe Stellung nehmen, während er selbst an die Flurtür der Wohnung, die ihm vom Verwalter als die der Frau Saaler bezeichnet war, herantrat. Er preßte sein Ohr fest an die Tür, hörte aber zunächst nichts als sein ungestüm pochendes Herz.
Eine fieberhafte Spannung glühte in seinen Adern. Die nächsten Minuten mußten ja die Entscheidung bringen, ob die Mühen des Abends und die der vorausgegangenen Monate endlich von Erfolg gekrönt werden sollten oder ob man wieder einmal eine Enttäuschung zu verzeichnen hatte.
»Ruhe!« raunte sich der Lauschende zu, seine Erregung mit der ihm eigenen Willenskraft bemeisternd.
Jetzt vernahm er deutlich das Rücken eines Stuhles und den Klang einer schwachen, zittrigen Männerstimme. Ob es die Stimme des Falschmünzers war, konnte Weigand nicht beurteilen, denn er kannte ja Lomnitz noch nicht.
Im nächsten Moment richtete er sich auf und klopfte leise dreimal hintereinander an die Tür, mit zwei längeren und kürzeren Pausen, in der Art, wie Verbrecher untereinander sich anzumelden pflegten.
Nochmals ein Stuhlrücken, diesmal heftiger, lauter. Gleich darauf schlürften Schritte in weichen Schuhen in offenkundiger Hast heran. Zunächst ließ sich der Herankommende nicht vernehmen, sondern stand an der Tür still, abwartend, und schien mit sich zu Rate zu gehen, ob er öffnen oder ob er erst eine weitere Aufforderung von draußen abwarten sollte.
So standen die beiden, nur durch eine dünne Tür getrennt, während der eine auf dieser, der andere auf jener Seite das Ohr anlegte und angestrengt lauschte. Endlich ertönte die zittrige Stimme von vorhin: »Bist du's, Mariechen?«
Ohne einen Augenblick zu zögern, antwortete der Kommissar: »Nein. Aber ich bringe Nachricht von ihr. Schnell, öffne!«
Noch ein sekundenlanges Zögern von innen.
Weigand hatte seine völlige Ruhe und Selbstbeherrschung wiedererlangt. Er tastete rasch noch einmal nach der hinteren Hosentasche, um sich zu vergewissern, daß der Revolver an seinem Platze war.
Endlich wurde von innen die Sicherheitskette gelöst und der Schlüssel im Schloß umgedreht und im nächsten Moment wurde vorsichtig ein ganz klein wenig geöffnet.
Auf diesen Augenblick hatte sich der Kommissar vorbereitet. Mit kräftiger Hand drückte er die Tür zurück und im Nu hatte er den rechten Fuß zwischen Tür und Schwelle gestemmt. Darauf winkte er mit der Hand nach seinem Begleiter, der dem Vorgang mit steigender Spannung zugesehen, und trat in den Korridor. Von rechts kam ein schwacher Lichtstreif durch eine halbgeöffnete Tür, auf die eine kleine, schmächtige Gestalt zuwankte.
Weigand folgte dem fluchtartig Zurückweichenden auf dem Fuße und trat unmittelbar nach ihm in den nur schwach durch eine Petroleumlampe erhellten Raum, die rechte Hand am Kolben des Revolvers. Es war eine Küche, die im ganzen einen ärmlichen Eindruck machte. Auf der einen Seite befand sich die Kochmaschine, seitwärts ein alter, dunkelangestrichener Küchenschrank und ein Küchentisch; an der anderen Wand stand ein Bett, von dem her die Atemzüge eines schlafenden kleinen Mädchens hörbar wurden. Unwillkürlich ließ der Kommissar die Hand von der schußbereiten Waffe sinken. Nein, alles das machte nicht den Eindruck, als ob Gewalttat und Gefahr drohte. Das von der Wärme des Bettes rosig angehauchte Kinderantlitz mit den blonden Flechten konnte eher als ein Symbol des Friedens und der Unschuld gelten. Noch einmal stieg in dem Beamten die kleinmütige Frage auf: War das nicht doch ein Mißgriff? Befand er sich nicht auf falscher Fährte?
Da fiel sein Blick auf eine auf dem Herd liegende Hand-Buchdruckwalze, und diesen Anblick nahm er als ein gutes Vorzeichen. Seine Aufmerksamkeit wandte er jetzt der schlottrigen Greisengestalt zu, die ihm geöffnet hatte und ihn jetzt schreckensbleich, verstört, mit unruhig und angstvoll flirrenden Augen ansah.
Es war ein kleiner Mann mit schmalem, sorgenvoll durchfurchtem, leidend aussehendem Gesicht, das einen, noch durch eine goldene Brille verstärkten nachdenklichen, intelligenten Ausdruck zeigte.
Ein paar Sekunden lang herrschte vollkommene Stille, so daß die schweren, hastigen Atemzüge des Greises zu hören waren.
Der Kommissar, der die ganze Szenerie mit raschen Blicken in sich aufgenommen hatte, sprach jetzt mit halblauter Stimme: »Na, Wendt, wie steht's? Spangenberg schickt mich, warum er denn keine Scheine bekomme? Sind denn keine fertig?«
Der Angeredete erwiderte nichts; aber der Kommissar merkte, wie er zu zittern begann, wie seine Lippen sich stumm bewegten und vergebens eine Antwort zu formulieren sich bemühten, während ihm der Angstschweiß auf der Stirn perlte.
Kommissar Weigand hatte nicht den mindesten Zweifel mehr, daß er den Herd des Münzverbrechens entdeckt habe, und daß der so lange vergeblich gesuchte Falschmünzer vor ihm stand. Auge in Auge befanden sich die beiden gegenüber, der Beamte zwischen Tisch und Bett und der alte Verbrecher dicht am letzteren. Das Kind, das noch immer in dem tiefen Schlaf der Jugend lag, hatte keinerlei Bewußtsein von dem tragischen Vorgang, der sich unmittelbar vor ihm abspielte.
Der Kommissar trat jetzt dicht an den Greis heran, legte ihm seine Hand auf die Schulter und sagte, ihn durchdringend anblickend: »Lassen wir jetzt die Komödie! Das Leugnen würde Ihnen doch nichts helfen. Sie sind Lomnitz, den ich seit einem Jahr suche.«
Der Alte sank wie zerschmettert auf die Bettkante. Bis dahin hatte er wohl noch immer an dem vollen Ernst der Situation gezweifelt. Jetzt aber erkannte er, daß keine Hoffnung mehr war, und daß sich sein Schicksal erfüllte.
Tränen stürzten aus den Augen des Greises, der nunmehr wußte, was diese Szene für ihn bedeutete. Seine Hände mit verzweiflungsvoller Gebärde erhebend, rief er: »Verrat! Verrat! Sie sind der Kriminalkommissar Weigand.« Und nach einer kurzen, beklemmend stillen Pause fügte er in dumpfem, ersterbendem Ton hinzu: »Ich wußte ja, daß Sie kommen würden.«
Die beiden Männer hatten sich noch nie gesehen; sie hatten nur von einander gehört und seit langem schon hatten beide, jeder in anderer Art, ein lebhaftes Interesse für einander empfunden. Der Kommissar, der in jahrzehntelangem Kampfe mit der Verbrecherwelt gehärtet war, konnte sich doch des Eindruckes dieser eigenartigen, beklemmenden Situation nicht erwehren: Ringsum nächtliche Stille, ein ungastlicher, nur notdürftig von dem kargen Schein einer Küchenlampe erhellter Raum, ein friedlich, ahnungslos schlummerndes Kind und der schluchzende, greise Verbrecher, dessen Schicksal besiegelt war, der sich wohl heute zum letztenmal seiner Freiheit erfreut hatte!
Freilich, nur wenige Sekunden gab sich der Kriminalist der in ihm erregten, sentimentalen Stimmung hin. Dann nahmen wieder Entschlossenheit und Tatkraft von ihm Besitz.
Er trat auf den Korridor hinaus, wo Feldau Wache hielt, teilte ihm kurz den Sachverhalt mit, und beauftragte ihn, die anderen drei Patrouillen zu benachrichtigen und zwei Mann mitzubringen. Dann kehrte er in die Küche zurück; Lomnitz saß noch immer auf dem Bett, ein Bild völliger Gebrochenheit; schwere Seufzer stiegen aus der dumpf atmenden Brust herauf, und die Tränen strömten ihm noch immer über das bleiche, eingefallene, durchfurchte Gesicht.
Weigand konnte sich einer Empfindung des Mitleids nicht erwehren. Der alte Mann hatte bessere Tage gesehen; wer weiß, welche traurigen Erfahrungen und Schicksalsschläge ihn zum Verbrecher gemacht hatten, welche quälenden Kämpfe er hinter sich hatte! Lichte Tage würde es für ihn nun wohl nie wieder geben; die düsteren Schatten des Gefängnisses nahmen ihn bald für immer auf. Der Rest seines Lebens war ohne Freude, ohne Liebe, ohne Hoffnung.
Bei seinem Eintreten in die Küche hatte der Kommissar ein paar Bierflaschen auf dem Fensterbrett stehen sehen. Er trat jetzt rasch heran, ergriff eine der Flaschen und reichte sie dem Alten.
»Da, nehmen Sie, Lomnitz! Sie sind angegriffen. Trösten Sie sich mit einem Schluck! Und dann werden wir an unsere Arbeit gehen als Männer, die ihrem Geschick ins Gesicht sehen und die sich mit ihm abfinden müssen.«
Der Greis nahm die Flasche, deren Verschluß der Kommissar bereits entfernt hatte, mit dankbarem Blick. Aber bevor er sie an die Lippen setzte, sagte er.
»Auch Sie, Herr Kommissar, werden einer Stärkung bedürfen. Sie haben noch eine große Arbeit vor sich. Sie werden alles finden, was Sie erwartet haben. Ja, Sie haben einen guten Fang gemacht, und dürfen sich nun wohl eine Pause und etwas Ruhe gönnen. Nehmen Sie!«
Er deutete nach dem Fensterbrett hin, und Weigand ließ sich nicht nötigen. Er fühlte jetzt, da die erste Aufregung des Erfolges vorüber war, von neuem die Folgen des stundenlangen Suchens, treppauf, treppab, und der durchlittenen Gemütserregungen. Er nahm eine der Flaschen und setzte sich auf einen hölzernen Küchenstuhl, und so leerten sie jeder, der Polizeibeamte und der Verbrecher, in friedlichem Beieinander ihre Flaschen. Wenn ein Unbeteiligter plötzlich eingetreten wäre und die Szene beobachtet hätte, er hätte wohl eher alles andere als den wahren Charakter der Situation vermutet.
So pflegen sich im wirklichen Leben auch Szenen von ergreifender Tragik viel schlichter und natürlicher abzuspielen, als die künstliche Aufbauschung im Roman und Drama es darzustellen beliebt.
Der Kommissar erhob sich. Nun hieß es, der dienstlichen Pflicht zu genügen und die kriminelle Handlung, die ihn hierher geführt hatte, zum vorläufigen Abschluß zu bringen. Es galt, die Ernte der monatelangen Bemühungen, die ihn und seine Leute in beständigem Atem erhalten, zu sichern und einzubringen ...
Zuerst wurde in der Küche nähere Umschau gehalten, aber hier fand sich nichts von Belang. Dann nahm der Kommissar die Küchenlampe und trat damit in den Korridor hinaus. Nicht ein einziges Mal während der Zwiesprache mit dem Falschmünzer hatte er an etwaige Gehilfen des Verbrechers und an irgend welche Gefahr gedacht. Nun gewahrte er, während er den Korridor ableuchtete, einen starken, baumlangen Menschen, der sich in die dunkle Ecke zwischen Korridor und der offenstehenden Flurtür gedrückt hatte und der nun von dem erstaunten Kommissar beleuchtet, förmlich in sich zusammensank.
Der Goliath hatte wenig Imponierendes und wenig Bedrohliches.
Weigand mußte laut lachen, als er die krampfhaften Bemühungen des großen Menschen gewahrte, der zusehends kleiner wurde und am ganzen Leibe wie Espenlaub zitterte. Er faßte den Feigling am Rockkragen und sagte jovial, im Scherzton: »Na, Onkelchen, kommen Sie doch mal 'n bißchen hervor!«
Aber der Ertappte war ganz fassungslos und nicht imstande, Rede und Antwort zu stehen.
Gutgelaunt, wie der Kommissar in seiner gehobenen Stimmung war, wartete er geduldig ab, bis der Verdutzte wieder zu sich gekommen war und zu antworten vermochte.
Er heiße Bender, Nikolaus Bender, sei Kaufmann und stamme aus Rußland. Er sei bei Lomnitz zu Besuch; im übrigen wisse er von dessen Treiben nichts, sondern habe ihm nur Grüße von einem gemeinsamen Freunde in Riga überbracht.
Der Kommissar nickte vergnügt.
»5o, so! Na, es wird sich ja zeigen, was für ein Bruder Sie sind. Einstweilen leisten Sie uns wohl ein bißchen Gesellschaft. Wir müssen erst noch näher mit einander bekannt werden.«
In diesem Moment ließen sich Schritte von der Treppe her vernehmen. Es war Feldau, der mit zwei Kollegen zurückkam. Der Fremde, dessen Tracht – er trug halblange Stiefel, in dessen Schäfte er die bauschigen Hosen gestopft hatte – ihn in der Tat als Russen legitimierte, wurde dem einen der beiden Kriminalschutzleute übergeben. Die anderen Beamten begaben sich unter Führung von Lomnitz in das große Vorderzimmer, das, wie sich zeigte, dem Falschmünzer als Werkstätte gedient hatte.
Es war charakteristisch für Lomnitz und kennzeichnete den großen moralischen Abstand, der zwischen ihm und Spangenberg bestand, daß er auch nicht den leisesten Versuch machte, zu leugnen und seine Handlungen zu beschönigen.
»Da haben Sie die ganze Bescherung!« sagte er zu dem ihm auf den Fuß folgenden Kommissar und deutete in die Stube hinein. Der Anblick war frappierend. Quer durch das ganze Zimmer waren dünne Stricke gezogen, auf denen die noch feuchten, eben angefertigten Fünfmarkscheine zu hunderten hingen. In der Mitte des Raumes stand eine Kupferdruckpresse, und auf derselben lagen zwei Kupferplatten, die die beiden Seiten eines Fünfmarkscheines in sauberstem Stich zeigten.
Während die Beamten in staunender Bewunderung, voll Interesse und befriedigter Genugtuung alles in Augenschein nahmen, trat Lomnitz mit hastigem Schritt an einen kleinen, in der Ecke stehenden Tisch, auf den: mehrere Flaschen standen. Mit plötzlichem Griff hatte er eine der Flaschen gefaßt und ließ sie blitzschnell in seine Tasche gleiten.
Aber Feldau hatte die Manipulation des Greises wahrgenommen. Rasch trat er an ihn heran, zog ihm das Fläschchen aus der Tasche und überreichte es seinem Vorgesetzten.
Der Kommissar öffnete den Flakon; er enthielt eine scharfe Säure, Lomnitz bestritt nicht, daß er die Absicht gehabt hatte, sich zu vergiften, um sich so der strafenden Gerechtigkeit zu entziehen.
»Ich bin ein verbrauchter, alter Mann,« sagte er mit zitternder, seine tiefe Gemütsbewegung wiedergebender Stimme. »Meine Kinder schämen sich meiner, das werden Sie ja wissen, Herr Kommissar. Das Zuchthaus werde ich ja doch nicht mehr lebend verlassen. Da könnten Sie mich ebensogut gleich in einen Sarg legen und begraben lassen.«
Nachdem der Kommissar dem Polizeiagenten gewinkt hatte, den verzweifelten, greisen Verbrecher scharf im Auge zu behalten, ging er an die weitere Besichtigung der im Zimmer befindlichen Gegenstände.
Rings um die Druckmaschine waren allerlei Kästen und Behälter aufgestellt, die verschiedene Materialien enthielten, die zu früheren Versuchen benutzt worden waren: photographische Gelatineplatten, Kupferplatten mit galvanischem Niederschlag und außerdem eine ganze Anzahl mißlungener Falsifikate. Den überraschendsten und einen ganz unerwarteten Fund machte der Kommissar in zwei großen, sauber eingewickelten, in einer Kiste verpackten Kupferplatten, auf denen sich in tadellosem Stich die zwei Seiten einer russischen 25-Rubel-Note befanden. In derselben Kiste lagen auch einige teils halbgedruckte, teils fertige, ausgezeichnet gelungene 25-Rubelscheine, die offenbar mittels dieser Platten hergestellt waren.
»Aha,« bemerkte der Kommissar schmunzelnd, »nun wissen wir auch, warum der Herr Russe Ihnen seinen Besuch gemacht hat, Lomnitz.«
Und abermals einen der mit erstaunlicher Vollkommenheit angefertigten 25-Rubel-Scheine betrachtend, setzte er mit ehrlicher Überzeugung und aufrichtigem Gefühl hinzu: »Sie sind wahrhaftig ein Künstler, Lomnitz. Schade, schade um Sie!«
Während die Beamten noch weiter in allen Ecken und Winkeln herumstöberten, machte Lomnitz einen weiteren Selbstmordversuch. Er stürzte plötzlich nach dem nächsten Fenster hin und wäre auf die Straße hinabgesprungen, wenn ihn Feldau nicht noch im letzten Moment zurückgerissen hätte.
Kommissar Weigand hielt es an der Zeit, die Haussuchung, die ein so großartiges, zufriedenstellendes Ergebnis gehabt hatte, zu beendigen und die Verhafteten in Sicherheit zu bringen.
Noch war ja das Leben des alten Lomnitz kostbar, noch hatte er verschiedene Aufschlüsse zu geben, die für die Beurteilung und völlige Aufklärung des Münzverbrechens von Wert waren.
Die kleine Schläferin, die achtjährige Tochter der Witwe Saaler, wurde geweckt und mußte sich ankleiden.
Weigand ließ zwei weitere der Beamten, die unten auf der Straße warteten, hinaufkommen. Sie erhielten den Auftrag, in der Falschmünzerwerkstatt zu bleiben und etwaige Besucher festzunehmen.
Die übrigen Beamten nahmen Lomnitz und den Russen Bender in ihre Mitte. Auf der Straße wurden zwei Autodroschken angerufen, die die ganze Gesellschaft nach dem Polizeipräsidium brachten.
Der Kriminalwachtmeister, der an der Expedition teilgenommen, erbot sich, die kleine Saaler in seine Familie aufzunehmen, bis sie ins Waisenhaus gebracht oder ihrer Mutter wieder übergeben werden konnte.
Es war ein köstliches Gefühl tiefster Befriedigung, das den Kriminalkommissar durchströmte, als er um zwei Uhr morgens nach seiner Wohnung zurückkehrte. Er hatte das erhebende Bewußtsein, dem Staat und der Allgemeinheit einen guten Dienst erwiesen zu haben, indem er durch Beharrlichkeit und durch geduldige, mühsame Arbeit einen Verbrecher unschädlich gemacht hatte, durch dessen Geschicklichkeit viele Menschen geschädigt worden waren.