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Der König der dunklen Kammer

In drei Verwandlungen vom Ṛgveda bis Tagore

Vor einigen Jahren, als er Mode war, erschien allerlei über Tagore im Druck. Inzwischen ist es stiller um ihn geworden. Die Indologie, als Spezialwissenschaft um Indiens geistige Vergangenheit und Gegenwart, hat zum Künder seiner gegenwärtigen Geisteswende bei uns nicht merklich das Wort ergriffen. Und doch liegt es ihr ob, die schillernde Erscheinung seiner Poesie, seines menschlich-politischen Führertums über ästhetische und ideologische Betrachtung des Augenblicks hinaus durch das jahrtausendalte Erbe, dessen Verständnis sie verwaltet, zu deuten und das einzigartige Ineinander uralter und junger, indischer und westlicher Motive wie Kunstformen zum Verständnis der epochalen Wende indischer Kultur zu klären, die in Tagore (wie Gandhi) weithin sichtbar sinnbildliche Gestalt annahm. Daß hier ein altes Erbe Brechungen und Wandlungen verschiedenster Art erfährt, drängt sich dem Empfinden unmittelbar auf. Aber der Literarhistorie und Geistesgeschichte liegt es ob, diese Empfindung nach ihrem komplexen Gehalt zu bestimmen und zu begründen; hier erschließt sich ein selten dankbares Gebiet, Wandlungsfähigkeit und Lebenskraft des indischen Genius vergleichend zu überschauen. – An Stelle allgemeiner Betrachtungen und Vergleiche sei hier am bekanntesten Drama Tagores, das auch bei uns gespielt und vertont worden ist und in die Weltliteratur der Gegenwart einging, aufgezeigt, wie seine vielfach so stark ins Westliche gebrochene Kunst mit einem ihrer großen Motive unbewußt zu Überlieferungsschichten hinaufreicht, die im Frühlicht der uns erhaltenen altindischen Geistesgeschichte liegen.

Der König der dunklen Kammer ist ein Mysterienspiel, in seiner Idee dem Lohengrin verwandt, wie Wagner ihn faßte: als Tragikomödie des Göttlichen, das ewig darum kämpfen muß, Raum in der Menschenwelt zu finden. Aber Tagores Spiel ist von der Schwermut frei, die den Zauber der romantischen Oper ausmacht. In ihr endet die Sendung des göttlichen Heilsboten, der die Bösen entlarvt und vernichtet und die Unschuld vor ihnen errettet, damit, daß er unverweilt von hinnen muß, ohne sein heilig-segenvolles Herrscheramt ausüben zu können. Aber nicht die Bösen drängen das Göttliche so schnell aus der Welt, ihr Frevelmut gegen die Reinen ruft es ja zu rettendem Erscheinen in sie hinein; vielmehr ist die reine Seele ein zu kleines und schwaches Gefäß, um das Dasein des Übermenschlichen fraglos-gläubig in sich aufnehmen und beseligt tragen zu können. Sie erst macht den unendlichen Abgrund zwischen göttlicher Größe und menschlicher Unzulänglichkeit tragisch offenbar. Dem Gottgesandten ist kein Bleiben in dieser Welt gegönnt, wo selbst die reine Seele (Elsa), die sein wunderbares Erscheinen rettend begnadet, ihm nicht glauben und blind vertrauen kann, sondern zu wissen verlangt, sein Geheimnis lüften muß, um seine Nähe ertragen zu können. Anders, echt indisch: im Begreifen der Unnennbarkeit d. i. des völligen Anderssein göttlicher Unendlichkeit endet das indische Spiel: glaubensvoll und schwermutslos. Hier hat Tagore seine Erfahrung Gottes als des Ungeheuerlichen, des ewig Unfaßbaren, uns nahen und wesensverschiedenen, des »Ewig Fliehenden«, wie er ihn in seiner Lyrik besingt – »deß' körperloses Dahinrauschen den wie Wasser stehenden Raum in strudelnde Blasen von Licht aufwirbelt« – breit und durchsichtig entfaltet. Was die Stimme des einsamen Sängers im Liede ausströmte, wird hier Gegenstand eines festspielhaften Gemeinschaftsakts.

Ein Rätselspiel, dessen unsichtbarer Held, der König der dunklen Kammer, die Kinder seines Reichs und die Könige der Fremde, wie seine eigene Gemahlin Sudarśanā zu narren scheint und mit ihnen die Zuschauer seines Spiels. Nur ein Alter, das »Großväterchen« – eine Lieblingsgestalt Tagores seit dem frühen Roman Schiffbruch – und die verschwiegene Hüterin der dunklen Kammer, Surangamā, scheinen um sein Geheimnis zu wissen. In seinem Reiche herrscht Glück und Frieden, seine Bürger spüren nicht die Hand, die sie lenkt, das alte indische Ideal vorbildlichen Königtums scheint hier Wirklichkeit, wo sittlich-geistige Vollendung des Herrschers allüberallhin Recht und Harmonie verbreitet. Aber es ist etwas Verwunschenes um dieses glückliche Land: niemand noch hat seinen König gesehen. Fremde, die zum Fest des Frühlings herbeiströmen, wundern sich, ein Bürger wagt die Vermutung, er sei häßlich und darum zeige er sich nicht; beinahe alle sind ungeduldig ihn endlich zu sehen, die fremden Monarchen, die sich von seiner Gleichgültigkeit mißachtet wähnen, wie seine Gemahlin Sudarśanā, der er nur in verschwiegener dunkler Kammer naht, ohne daß sie ihn erkennen könnte. Auf ihre Bitte hatte er nur die Antwort, »du wirst meinen Anblick nicht ertragen können; er wird dir nur Schmerz bringen, schneidend-überwältigenden«. – Aber sie verlangt den geheimnisvollen Herrn ihres Herzens wie alle anderen Dinge der Welt im hellen Lichte draußen mit Augen zu sehen, »warum muß es immer dunkel sein in dieser Kammer?« fragt sie die Hüterin der stillen Zelle, und vernimmt, ihr dunkel, zur Antwort: »sonst würdest du nicht Licht noch Dunkel kennen«. Auch von dieser vertrauten Dienerin des rätselvollen Gatten, die mit dem Raume ein Stück seines Geheimnisses bewacht, vermag sie nicht zu erfahren wie er aussieht. Surangamā meint, er sei nicht schön, das sei viel zu wenig. Er gewann ihre völlige Ergebenheit nicht durch Gunstbezeigung, sondern als er mit ordnender Machtgebärde hart an ihr vorbeigriff und ihr Elternhaus zerstörte. Aus Erbitterung und Rasen kam sie zur Unterwerfung: »vielleicht konnte ich ihm vertrauen und in ihm Ruhe finden, weil er so hart und erbarmungslos war. – Ich sah, er war unvergleichlich in Schönheit wie in Schrecken.« Ihr genügt es, als Dienerin an seinem Geheimnis sein Wesen zu fühlen, sein Kommen zu ahnen, das sich ihr lautlos anzeigt, ohne ihn zu schauen, indes die Königin, die ihn besitzt, sich nach seinem Anblick verzehrt und den Dunklen darum drängt. Da gibt er ihr auf, ihn unter der bunten Menge des Festabends im blütenschweren Haine selbst zu erraten. Und ihr Blick vom Altan in die festliche Fülle fällt auf eine reizende Erscheinung von königlichem Gehaben, die, das Märchen der Unsichtbarkeit zerstörend, bereits den Tag über immer größere Scharen huldigenden Volkes angezogen hat. Aber für die Blumen, die sie ihm als Zeichen des Erkennens sendet, hat er keinen verstehenden Blick, erst der König von Kāncī, der zu Gast erschienen ist und bei ihm steht, deutet ihm die Gabe. Er hat als ein echter König die überraschende Erscheinung des unsichtbaren Fürsten als Trug durchschaut, aber er zwingt den Betrüger, der sich die Leichtgläubigkeit und den Wunsch der vielen, zu sehen was man glauben will, zu Nutze gemacht hat, seine Rolle weiter zu spielen, um in den Besitz Sudarśanās, der schönsten Frau, zu kommen. Er heißt ihn, in der Nähe der Frauengemächer Feuer anlegen, damit er sich in der Verwirrung des Brandes unter dem Schein der Rettung ihrer bemächtigen könne, die augenscheinlich keinen Gatten und Beschützer hat. Aber er bekommt sie nicht. Verzweifelt, ihren Blick an einem fremden Manne geweidet zu haben, mit den Augen treulos gewesen zu sein, ohne doch das lieblich trügerische Bild des Falschen aus den Sinnen bannen zu können, da sie kein anderes besitzt, das es verdrängen kann, stürzt sich die Königin, der Feuersbrunst entronnen, wieder in den Brand zurück, als sie des würdelosen Ziels ihrer Augen von nah ansichtig wird. In der dunklen Kammer, zu der nicht Lärm noch Feuer dringt, steht sie wieder dem unbegreiflichen König ihres Herzens gegenüber. Sie hat ihn gesehen im Wirrsal des Brandes, den er bändigte, und es graut sie, daran zu denken: schwarz war er und häßlich, gewaltig und grauenhaft, aber gar nicht schön. Sie schämt sich, ihn an die leere Lieblichkeit des Betrügers verraten zu haben, ohne die Erinnerung an sie auslöschen zu können, ihr graut vor seiner Unmenschlichkeit, daß er ihr nicht zürnt und nicht unter ihrem Abscheu leidet, ja, daß er sie nicht halten will, als sie es herausschreit, sie müsse fort von ihm, nach Hause fliehen. Wie ist Gemeinschaft mit seiner Häßlichkeit möglich und mit seiner fühllosen Gelassenheit, die es verschmäht, sie strafend oder verzeihend zu entsühnen, die ihr Freiheit gibt, zu gehen oder zu bleiben? Sie entflieht seiner leidenschaftslosen Reglosigkeit, die alles ihr selbst anheimgibt, die keinen Schuldigen bestraft und den König von Kāncī frei in sein Reich gesandt hat.

Aber die augenscheinliche Gleichgültigkeit des Gatten verfolgt sie auch in das Haus des Vaters, der sie grollend aufnimmt und der entlaufenen Frau ihren königlichen Rang versagt: keine Botschaft des Königs, kein Zeichen der Sehnsucht oder Ungeduld dringt in ihre erniedrigende Verlassenheit, – als sei sie nie etwas für ihn gewesen. Aber das Trugbild, dessen Liebreiz sie erlag und nicht aus der Erinnerung löschen kann, naht ihr wieder. Mit ihm kommt der König von Kāncī, hier lockt Verlangen, und menschliche Bindung greift in das öde Nichts, dem sie wie ein Nichts anheimgegeben ist. Wie sollte die Verlassene ihn, der sie ganz entgleiten ließ, im Geiste nicht wieder verraten.

Um die schönste Frau entspinnt sich ein Kampf; der Betrüger ist nur eine Puppe in den Händen des Königs von Kāncī, der sich seiner bedient, um durch seinen Anspruch die schöne Frau in seine Gewalt zu bekommen; aber noch sechs andere Könige rücken heran und machen ihm die Beute streitig. Der Vater versagt die Gattin des dunklen Königs allen und droht, die Entlaufene in sieben Stücke hauen zu lassen, damit jeder der Werber sein Teil an ihr habe, ehe ihr Ansturm sein Reich zerstört. Er zieht ihnen aber doch entgegen und wird vor seiner Stadt von ihnen besiegt und gefangen. Die Schönste ist in der Hand der sieben Könige und soll, um ihren Vater zu retten, nach adeligem Brauch selbst wählen, wem unter ihnen sie gehören will. Schmerzvoll gedenkt sie ihres Königs, dessen Kammer sie im Trotz verließ, und naht der strahlenden Versammlung verhaßter Werber, die sie entehren wollen, mit dem Entschluß zu sterben, ehe ein anderer die dunkle Kammer ihres Herzens, deren Tor nur einer geöffnet hat, entweihen dürfte. Erwartend sitzen die Großen in ihrem Schmuck, nur der König von Kāncī verzichtet auf allen Prunk, er rechnet darauf, daß ihr Blumenkranz, der den Erwählten unter ihnen bezeichnen wird, unter den Sonnenschirm fallen wird, den der liebreizende Betrüger, an den ihr Auge sich verlor, über sein Haupt halten muß. Aber es kommt nicht zum Letzten. Der unsichtbare König schickt Botschaft an seinesgleichen: das Großväterchen, das Lieder singend mit den Kindern seiner Stadt am Festtage umhertollte, erscheint als kriegerischer Herold und lädt die Könige vor seinen Herrn. Da kommt es zur Schlacht. Der Fürst von Kāncī kämpft wie ein Löwe, aber die übrigen Könige, ihm verbündet, verraten sich untereinander durch lässige Tat, weil keiner sein Leben einsetzen will, dem anderen den Preis zu gewinnen. Sie fliehen, der Fürst von Kāncī erliegt, und der König der dunklen Kammer behauptet das Feld. Sudarśanā ist gerettet, in tiefster Demut und seliger Geschlagenheit erwartet sie den Helden ihres Herzens, aber er verzeiht. Er rettet sie und verschmäht den Dank wie das Bekenntnis ihrer Schuld. Sie begreift ihn nicht, und Surangamā, die Hüterin der dunklen Kammer, die ihr als einzige auf ihren Leidensweg gefolgt ist, hat als Lösung seines Rätsels nur die Worte, »sagte ich dir nicht: mein König sei grausam und hart, – o wahrhaftig sehr hart?« – Vergeblich auf ihn zu warten, wer ihn finden will, muß ihn suchen. Denn so jäh er naht, mit seiner Glorie Verworrenes schlichtend, Wolken von Unrecht und Gewalt zerteilend, so schnell ist er entschwunden, und niemand weiß wohin. »Deshalb schmäht ihn das Volk und zweifelt an ihm. Aber das ist ihm einfach ganz gleichgültig. Er ist wie von Stein und hart wie Demant.« Wie ehedem auf der Flucht vor ihm, zieht die Königin wandernd durch den Staub der Straßen, und, von Surangamā begleitet, trifft sie ein andres Paar von Wanderern mit dem gleichen Ziel: das Großväterchen und den König von Kāncī, den ihr Gemahl frei ließ, ohne sich an ihm zu rächen. Ihn, der seiner Unsichtbarkeit trotzte, weil er nur an das Sichtbare glaubt, und ihn mit dem Kampfe um Sudarśanā zwingen wollte, aus seinem Geheimnis herauszutreten, hat der dunkle König auf die Wanderschaft geschickt, ihn zu suchen. »Das macht er immer so«, sagt Großväterchen, »– das gehört mit zu seinen Scherzen; – aber ein so gewaltiger Herr er auch ist, er muß sich dem beugen, der sich ihm ergibt.« Und er singt sein Wanderlied: »dies ist meine fröhliche Pilgerschaft zum Lande ›Alles verloren‹, – alles zu verlieren hoffe ich mit aller Macht!«

Auch der Stolz der Demut, der die Schritte der Königin durch den Staub der Straßen trägt, kann nicht dauern, der Stolz der suchend Wandernden, die ihr Ich zerbrochen hat und sich der Überwindung freut, schmilzt in der Gewißheit, daß es der Ruf vom Ziele war, der sie auf den Weg gerissen hat: »Er kam, ehe du kamst. Wer anders hätte dich auf die Wanderung schicken können.« – »Ich fing an, ihn zu finden, sobald ich ihn suchte.«

Zwei Wissende, zwei Neugeweihte kommen die Wanderer zur Stadt des dunklen Königs, »im gemeinen Grau des Staubes nahen wir unserem Herrn. Und werden auch ihn ganz mit Staub bedeckt finden. Denn glaubt ihr, sein Volk schont ihn? auch er kann ihren schmutzigen und staubbedeckten Händen sich nicht entziehen, und achtet's nicht einmal, sich dem Schmutz vom Gewände zu wischen.«

Wieder vereint die dunkle Kammer das Paar: »Wirst du mich jetzt ertragen können?« – »O ja, ja. Dein Anblick stieß mich ab, denn ich dachte dich im Lusthain zu finden und im Prunkgemach. – Da ist noch dein geringster Diener gefälliger anzusehen als du. Doch diese Sehnsucht verließ meine Augen auf immer. Du bist nicht schön, mein Herr, du stehst über allem Vergleich.« – »Was mit mir vergleichbar ist, liegt in dir selbst.« – »Dann ist auch das unvergleichlich. Deine Liebe liegt in mir, – in der Liebe spiegelst du dich und siehst dein Antlitz in mir wieder – schimmern: nichts daran mein, alles ist dein o Herr.« – Der König der dunklen Kammer öffnet die Tür zum Tag, aber ehe das Licht hereinbricht, betet die Seele: »Ehe ich gehe, laß zu deinen Füßen mich neigen, o Herr des Dunkels, Grausamer, Furchtbarer, Unvergleichlicher DU!«

Der Stoff zu diesem Spiel kam Tagore von einer Geschichte, die schon mehr als zweitausend Jahre vor ihm das Gefallen buddhistischer Erzähler gefunden hatte und von ihnen aus dem Schatze weltlicher Überlieferung ihrer Zeit in den Kranz früherer Leben ihres Buddha geflochten worden ist. Sie ist in der Jātaka-Sammlung der Ceylonesischen Schule aufbewahrt, wie in der großen Buddhalegende der Mönche des indischen Mittellandes, die der Lehre von der Überweltlichkeit der Buddhas anhangen Jātakam, Nr. 531. – Mahāvastu, Vol. II Ende, Vol. III Anfang.:

Es war einmal ein junger König von seltener Häßlichkeit. »Häßlich an Farbe und Aussehen, mit dicken Lippen, dickem Kopf und plumpen Füßen. Er hatte einen Bauch, war schwarz wie Tinte, unangenehm und widerwärtig anzuschauen.« Aber er war der Sohn der Hauptgemahlin seines Vaters und war klüger als alle seine Stiefbrüder. Seine Klugheit und Geschicklichkeit zu allen Dingen hatten etwas Übermenschliches, denn Indra selbst, der Götterkönig, war gnädig bei seinem Werden im Spiel gewesen. Als sein armer Vater, der König über ein mächtiges Reich war, von allen seinen fünfhundert Frauen keinen Sohn bekam, gab er, einer Sitte folgend, einmal seinen ganzen Harem frei, daß seine Frauen nicht unfruchtbar blieben, und er Erben bekäme. Da erbarmte sich Gott Indra seiner Lieblingsgemahlin, auf daß nicht Menschenhände sie entweihten, und forderte sie für sich in Gestalt eines alten und eklen Brahmanen, – eisgrau aber noch geil. Um sein Wort zu erfüllen mußte der König ihm die Widerstrebende überlassen. Der Gott nahm sie mit sich, aber er berührte sie nicht. Er gab sich ihr zu erkennen in seiner Herrlichkeit und schenkte ihr Fruchtbarkeit.

Als Prinz Kuśa den Thron seines Vaters bestiegen hatte, bat er seine Mutter, ihn zu vermählen. Er wollte aber keine Frau, die ihm ähnlich wäre, sondern es sollte das schönste Weib der Welt sein. Er bekommt es auch: Sudarśanā, »Schön anzuschauen«, die Tochter des Königs von Kanyākubja wird ihm zugeführt.

Seine Mutter fürchtet, die Allerschönste werde seinen Anblick nicht ertragen können, und sorgt dafür, daß die in der Ferne am Hofe ihres Vaters ihm Vermählte, die ihn noch nie gesehen hat, dem jungen König nur in völlig dunklem Gemach begegne. Die junge Frau ist unzufrieden, daß sie ihren Herrn niemals zu sehen bekommt, aber die Königin-Mutter bedeutet sie, kein Lichtstrahl dürfe das Glück ihrer Nächte und die Schönheit ihres Gemahls verschwiegen beleuchten. Sie seien beide gleich und unvergleichlich schön und würden von sündhaften Stolze übermannt werden, wenn sie ihre Augen aneinander weiden dürften. Sie habe diese dunkle Kammer den Göttern gelobt, und erst wenn die junge Königin Mutter geworden sei, erst wenn ihr Sohn das zwölfte Jahr erreicht habe, dürfe ein Lichtstrahl auf ihr Geheimnis fallen. Aber der Wunsch der jungen Frau, ihren Gemahl zu schauen, wird durch solche Worte nicht gestillt. Da sinnt die Mutter auf eine List. Der schönste seiner Stiefbrüder muß den Thron des Königs einnehmen, königlich geschmückt inmitten seiner schönen Brüder und des strahlenden Hofstaats, damit Sudarśanā ihn einmal als ihren Gemahl erschaue. Sie ist geblendet von der göttergleichen Schönheit der Versammlung, und der Anblick des Königs entzückt sie. Nur Einer mißfällt ihr im prangenden Kreise: König Kuśa selbst, der zur Linken des Thrones steht, und den weißen Sonnenschirm, das Zeichen der Herrschaft, über den Bruder hält. »Ist denn in unserem weiten Reiche kein besserer Mann für dieses Amt zu finden, der ist ja gar nicht anzusehen, man hält seinen Anblick nicht aus«, bemerkt Sudarśanā zur Königin-Mutter, aber sie wird bedeutet, dieser Mensch sei unvergleichlich an Trefflichkeit und Gaben, »seiner Macht verdanken wir es, wenn wir glücklich leben«. Denselben Bescheid erhält sie vom König, als sie ihn bittet, wenn er sie lieb habe, solle er dieses widerwärtige Wesen aus seiner Nähe entfernen.

Auch der König fühlt das Verlangen, das Glück seiner Nächte im Strahl des Tages zu sehen. Immer wieder muß seine Mutter ihm dazu verhelfen. Sie veranstaltet eine Lustfahrt des Harems in den königlichen Park vor der Stadt, um seine Teiche in der Pracht ihrer Lotosblüte anzuschauen. Kuśa geht verkleidet vorauf und verbirgt sich in einem Teich unter den breiten Blättern der Blumen, und als Sudarśanā kommt und herabsteigt, um von den schönen Lotosblumen zu pflücken, packt sie der König plötzlich und umschlingt sie. Wie er sie in seine Arme schließt, schreit sie laut um Hilfe, »o weh, ein Wasserunhold will mich fressen«! Aber die anderen Frauen erkennen König Kuśa und hüten sich sein Spiel zu stören. Erst als er von ihr abläßt und verschwindet, bemühen sie sich um die Entsetzte und beglückwünschen sie, daß sie lebendig aus den Klauen des Unholds entronnen sei. Als die dunkle Kammer die Gatten wieder vereint, fragt der Gemahl, »Du gingst in den Park, die Lotosblumen zu schauen, hast Du mir keine mitgebracht? Liebste, liebst du mich nicht?« Darauf erzählt sie ihr Abenteuer und wie sie gerade noch mit dem Leben davon gekommen sei, und er sagt ihr, »geh' nicht wieder zum Lotosteich, die Blumen zu schauen; auch ich wäre dort einmal um ein Haar von einem Wasserunhold gefressen worden«.

Bald gelüstet es den König wieder, der Geliebten bei Tage nahe zu sein, und die gleiche Szene wiederholt sich im Mangohain. Der Königin aber entgeht es nicht, wie ähnlich der Waldunhold, der sie hier überfiel und zu fressen drohte, als der König sich über sie warf und mit Küssen bedeckte, jenem anderen Unhold im Wasser war, und wie beide dem häßlichen Schirmträger glichen, »als habe eine Mutter sie geboren«. Und wieder treibt es Kuśa, der Schönen außerhalb der dunklen Kammer zu begegnen, sich für den Abscheu zu rächen, den sie vor seiner Erscheinung empfindet, und ihre Ahnungslosigkeit zu necken, daß sie nächtlich in ihre Arme schließt, was ihr im Tageslicht ein Greuel ist. Sudarśanā geht mit den anderen Frauen, die Elefantenställe des Königs zu besehen, und Kuśa ist ihr in der Tracht eines Wärters nahe. Wie sie sich zum Gehen wendet, wirft er ihr einen Klumpen Elefantenkot in den Rücken, der ihr Gewand beschmutzt. Aufgebracht beklagt sie sich bei der Königin-Mutter, die an ihrer Seite geht, über die Frechheit dieses Burschen, daß man so etwas der ersten Gemahlin des großen Königs bieten dürfe und verlangt eine Bestrafung. Aber die Mutter beruhigt sie und sagt, dieser Elefantenwärter könne nicht bestraft werden, da sei nichts zu machen. Ebenso geht es ihr zu anderen Malen, als sie die Pferdeställe und den königlichen Wagenpark betritt, unerkannt bewirft König Kuśa sie jedesmal beim Weggehen mit Kot.

Eine zufällige Begegnung zerreißt das Netz des Truges, mit dem der König spielt. In den Elefantenställen bricht Feuer aus, und so viele Hofleute und Bürger auch zu Hilfe eilen, sie können seiner nicht Herr werden. Der Harem gerät in Aufregung, das Feuer droht auf die Gebäude des Schlosses überzugreifen. Da eilt König Kuśa, der gerade außerhalb der Residenz weilte, herbei, legt selbst Hand an, und seine Kraft und Unerschrockenheit meistern in Kürze die Gefahr. Das Feuer wird bezwungen und von den wertvollen Tieren, denen der Tod in den Flammen drohte, kommt auch nicht eines um. Jubelnd umdrängt die Menge den König, Hofleute, Bürger und Frauen des Harems, und eine von ihnen redet ihn preisend an. Sudarśanā vernimmt ihre Worte und erkennt, wer ihr König der dunklen Kammer ist. In seiner ganzen Häßlichkeit steht Kuśa vor ihren Augen. Die göttergleiche Pracht ihres Daseins ist ihr verleidet, »ich will nichts essen und nichts trinken; was fang ich mit dem Leben an, wenn ich mit diesem Teufel zusammen sein muß«. Sie ging zur Königin-Mutter: »Laß mich frei, ich will nach Kanyākubja zu Vater und Mutter. Läßt du mich nicht ziehen, so lege ich Hand an mich und bringe mich um.« Da dachte die Königin-Mutter, »Besser ist es, diese Königstochter lebt, als daß sie stirbt«, und sagte zu ihr, »Geh, wohin du willst«.

Ohne Abschied vom König eilt sie hinweg. Kuśa ist über ihre Flucht untröstlich. Keine andere Frau seines Harems kann ihn reizen. Er muß Sudarśanā wieder haben. Er überträgt die Regierung einem seiner Stiefbrüder und wandert verkleidet nach Kanyākubja. Unerkannt tritt er dort bei einem Kranzwinder als Geselle ein und übertrifft mit seiner Kunstfertigkeit die Arbeiten des Meisters und alles, was man bisher an Werken dieser Art gesehen hat. Seine Stücke erregen bei Hof Bewunderung, die Frauen des Harems sind entzückt, nur Sudarśanā will von ihnen nichts wissen: sie bemerkt an ihnen den Namen Kuśas, den ihr Gemahl heimlich angebracht hat. Sie entnimmt daraus, daß er unerkannt in der Stadt weilt, daß er sie verfolgt, um sie wieder zu bekommen. Aber sie hütet sich, das Geheimnis zu verraten; sie will nichts mehr von ihm wissen. Als dieser Weg der Annäherung versagt, geht Kuśa als Geselle zu einem Töpfer, und wieder erregen seine Arbeiten das Entzücken von Hof und Harem; nur vor den Augen Sudarśanā, die erkennt, wessen Händen sie entstammen, finden sie keine Gnade. Aber der standhafte König läßt nicht ab; nachdem er noch in verschiedenen Handwerken fruchtlos mit Meisterstücken um die entflohene Gattin geworben hat, findet er seinen Weg schließlich in die Küche des Königs und, wie in allen anderen Fertigkeiten leistet er hier in der Kochkunst Bewundernswertes. Der König – sein Schwiegervater – ist begeistert und macht ihn zum Leibkoch der königlichen Familie. Er bekommt Zutritt zum Harem, um seine Speisen auszutragen. Sudarśanā kann einer Begegnung mit Kuśa nicht mehr ausweichen. Es kommt zu einem Wiedersehen der Gatten, bei dem der Mann werbend der Frau gegenüber tritt, deren Bann ihn nicht los läßt, während von ihr nur Kälte, Abweisung und Hohn ausgehen.

Beide stehen einander gegenüber, wie jener königliche Mann Purūravas, der Erdensohn, und das lustvolle Weib aus dem Götterhimmel, Urvaśī, deren bitteres Wiedersehen nach jäher Trennung alte Verse eines vedischen Zwiegespräch-Liedes berichten. Verließ Urvaśī den »König ihres Leibes«, der dreimal des Tages mit der übermenschlich Schönen der Liebe pflegen durfte, nicht ebenso erbarmungslos und geschwind wie Sudarśanā ihren Gatten? Verließ sie ihn nicht, weil ein Pakt gebrochen war, weil das Geheimnis ihrer dunklen Kammer jäh erhellt wurde? Sie hatte ihn gewarnt: Ihre Augen durften nicht auf seine Nacktheit fallen, die sie im Spiel und Liebeskampf genoß. Aber wie er sich nächtlich schnell erhob, um die beiden Lieblingslämmer der Geliebten zu retten, deren klagendes Blöken durch das Dunkel scholl, als himmlische Gesellen des Götterweibes sie raubten, und in Hast und Zorn verschmähte, sein Gewand überzuwerfen, erhellte Lichtschein wie ein Blitz die dunkle Kammer, und die Göttliche sah den Erdensohn in seiner Nacktheit. Jäh verließ sie den Buhlen. So hatten es ihre himmlischen Gesellen gewollt, für deren Neid das Glück des Menschenkindes in den Armen der Göttlichen schon allzulange gewährt hatte. Sie schufen den jähen Schein im dunklen Gemach der Liebenden, der die Ungleichheit des Paares offenbar machte.

In liebestoller Verzweiflung irrt der Verlassene umher und sucht die Entwichene. Im wilden Walde findet er sie schließlich wieder, schwanengleich in einem Teich mit anderen Götterfrauen spielend. Wie Kuśa und Sudarśanā reden sie miteinander: Liebe heischend und kalt versagend.

Aber während Purūravas sich in wilden Klagen, Bitten und Beschwörungen ausströmt und verzweifelt sich zu töten droht, als Urvaśī in höhnischer Abweisung unerbittlich bleibt, steht Kuśa gelassen vor der widerspenstigen Geliebten.

Gewiß: er zog ihr nach und will nicht ohne sie heimkehren, aber er ist gefaßt; bereit ein Leben lang dienend um sie zu werben. Kein anderes Weib kann ihn verlocken, dem daheim ein Harem erwartend blüht, und auch das Aussichtslose seines Werbens schreckt ihn nicht, das Ende wird es lehren, ob er ein Tor war oder weise in seiner Unbeirrbarkeit. Sudarśanā überschüttet ihn mit Hohn und bitteren Worten: nie wieder will sie mit ihm zusammen leben, tausend Frauen kann er in einer Nacht haben, was ist er so auf sie allein versessen, daß er soviel Pein um ihretwillen auf sich nimmt, die ihn nicht ertragen kann. Lieber will sie sich in Stücke hacken lassen, so schwört sie ihm, als wieder die seine werden. Er mag sich eine Hündin oder ein Schakalweib zur Liebe suchen. – Ihr Schwur wird schneller auf die Probe gestellt, als sie ahnen konnte. Sieben Königen von Nachbarreichen ist es zu Ohren gekommen, die allerschönste sei ihrem Gemahl davongelaufen; sie rücken mit Heeresmacht heran und wollen sie jeder für sich zum Weibe. Ihr Vater verzweifelt, wie er sein Reich vor ihrem Ansturm retten soll. Gibt er die Tochter einem von den sieben, werden die sechs Enttäuschten über ihn herfallen und seiner Herrschaft den Garaus machen, gibt er sie keinem, so hat er sie allesamt gegen sich. Er droht, die Tochter, deren pflichtvergessene Flucht das ganze Unheil heraufgebracht hat, in Stücke hacken zu lassen, damit jeder der ruchlosen Freier sein Teil an ihr bekomme. Sudarśanā sieht sich schon tot und klagt der Mutter ihr Leid: Sie soll auf ihr Grab einen Karnikārabaum pflanzen und, wenn er im Frühling goldgelb wunderbar in Blüte steht, der Schönheit ihres Kindes gedenken, über die Sudarśanā so eifersüchtig wachte und die ihr den Tod gebracht hat. Ihrer gedenkend soll sie bei sich sprechen, »so schön war auch Sudarśanā«. – Die Verzweiflung treibt sie zu König Kuśa, der im Schmutz des Küchenhofes steht und Schüsseln spült; mit zitternden Gliedern tritt sie zu ihm und spricht ihn an. Die Mutter sieht, wie die Königliche unten mit dem Knecht redet und schilt sie. Da löst die Not ihr die Zunge, und sie bekennt sich zu ihrem Gemahl.

Er wird der Retter in der Not. An der Spitze des Heeres zieht er vor die Stadt, ins Angesicht der Feinde und besiegt ihre Übermacht im Augenblick ohne Schwertstreich. Auf seinem Kriegselefanten sitzend stößt er, während die Seinen sich alle die Ohren verschlossen haben, seinen furchtbaren Kriegsschrei aus, den Löwenruf, vor dem die Heere der Feinde entsetzt auseinanderstieben. Die Könige, die nach seiner Gemahlin lüstern waren, fallen lebend in seine Hand. Er schont sie und heißt seinen Schwiegervater sie mit sieben andern seiner Töchter vermählen. Siegreich kehrt er, Sudarśanā neben sich, in sein Königreich zurück.

Aber noch liegt der Fluch der Häßlichkeit auf ihm. Ward sie ihm zuteil, weil seine Mutter den Götterkönig in Gestalt des eklen Brahmanen verschmäht hat und ihn eine ganze Nacht, ehe er sich in seiner himmlischen Glorie ihr offenbarte, um Liebe winseln ließ, unfähig sich ihm hinzugeben? – Unterwegs badet Kuśa in einem Teiche und sieht sich selbst in seiner ganzen Mißgestalt. Es ekelt ihn, er will ein Ende mit sich machen. Da naht der Götterkönig ihm in seinem Himmelsglanz und beschenkt ihn mit einem Lichtjuwel. Wenn er es an seiner Stirn trägt, verklärt ihn sein Glanz zum Schönsten aller Sterblichen, bedeckt er es, erscheint er in seiner früheren Gestalt. Begeistert grüßen alle dieses Wunder der Verwandlung. Sudarśanā flüstert, »mein König, bedecke das Juwel niemals, laß mich Dich immer so in deiner Herrlichkeit erschaun«.

Über vier Jahrtausende und wohl noch länger ist die Geschichte vom König der dunklen Kammer auf mehr als einem Wege in Indien gewandert, ehe sie in Tagores zarten Fingern zu einem Symbol des Kampfes der Seele mit der unergründlichen schauervollen Tiefe Gottes ward.

Ihr Ursprung ist Vergessenheit.

Aus der mythischen Welt des Altertums ward als ihre früheste Form bewahrt, was in das sakrale Liederbuch magischer Priesterschaft und in die Deutungen des Rituals einging. – Purūravas und Urvaśī sind große Bilder der beiden Geschlechter, der ewigen Zeugungskraft und Empfängnislust, auf deren zitternden Wellen alles Leben tanzt. Mit ihren Namen nannten die Priester das Holzbrett von einem weiblichen und den Stab von einem männlichen Baume, die sie quirlend ineinander führten, daß der Glut ihres Liebestanzes der göttliche Funke heiligen Feuers entspränge.

Im Ṛgvedischen Liede wendet das Schicksal des Königs der dunklen Kammer sich nicht so glücklich wie in der Geschichte der buddhistischen Mönche. Er führt die Geliebte nicht wieder heim, um, von ihr anerkannt, an ihrer Seite zu leben, von übermenschlicher Schönheit verklärt, die allen Unterschied zwischen Beiden löscht. Die Kluft zwischen Göttin und Mensch klafft unüberbrückbar, nachdem ein grelles Licht sie der nachtwandelnden Liebe offenbar gemacht hat. Purūravas findet Urvaśī am Teiche nur wieder, um zu vernehmen, daß er sie lebenslang verloren hat. Einsam kehrt er vom Zwiegespräch am Waldsee heim. Aber Trost wird ihm zuteil: Über ein Jahr wird Urvaśī auf eine einzige Nacht in seine Arme zurückkehren. Und wird ihm den Sohn bringen, den sie von ihm empfangen hat.

Dann, nach Jahresfrist, wird ihm Hoffnung zuteil: die Geliebte verkündet ihm, daß die himmlischen Wesen, die durch ihre List das Geheimnis der dunklen Kammer zerstörten, ihm einen Wunsch gewähren werden. Da spricht er die Bitte aus, die sie ihm eingab: »Ich will einer der Euren sein.« Und die Wesen der höheren Welt schenken ihm himmlisches Feuer zum Opfer, durch das er einer der ihren werden kann, auf immer mit Urvaśī im Himmel vereint.

Die Weisheit der Priester lehrt in den Brāhmanas der hundert Pfade Śatapatha-Brāhmana XI, 5, I, I ff., wo die Strophen des Ṛgvedischen Liedes gedeutet werden, daß die Gabe der Himmelswesen, der himmlische Feuerbrand und die Schale, in der er lohte, in einem Augenblick, da Purūravas nicht acht auf sie hatte, verschwanden, als er sie kaum erhalten hatte. Er ward belehrt, sie seien in Bäume eingegangen: der Feuerbrand in einen männlichen, die Schale, die ihn barg, in einen weiblichen. Die Erörterung der Frage, wie er aus ihnen beiden das himmlische Feuer wiedergewinnen soll, dessen Glut seinem Opfer die Kraft verlieh, ihm die Pforte des Himmels zu entriegeln, schließt die Erzählung. Hier lag für das ritualistische Denken der Priester der Sinn der Geschichte von Purūravas und Urvaśī. Hier fanden sie Ursprung und Erklärung ihres Ritus der Feuererzeugung und in Purūravas später Vereinigung mit Urvaśī das Unterpfand der hohen magischen Wirkung seines Gebrauchs auf das Schicksal des Opfernden jenseits des Todes.

Der Dichter des alten Liedes, das die Priester in den Schatz kultischer Formeln retteten, weil sie es verstanden, wie es ihrer Sphäre gemäß war, sagt Tieferes von der Bedeutung der dunklen Kammer, die Purūravas und Urvaśī vereinte. Er läßt Urvaśī selbst an den Sinn der grausamen Trennung von dem Geliebten rühren, an die bittere Wahrheit, die ihrer Flucht und Kälte Recht gibt. Wohl war Purūravas den Unsterblichen gleich an unerschöpflicher Manneskraft, er war ein Gott, wenn ihre Umarmungen ihn zu immer neuer verschwenderischer Glut entfesselten, und sie im Spiel der Seligen in eins verschmolzen. Vier Jahre lang verbrachte sie Nacht um Nacht mit ihm. Aber er ist ein Sterblicher, dem Tode unterworfen. Keine dauernde Gemeinschaft ist möglich zwischen den Kindern der Erde und den Himmelsbewohnern. An Allem sind sie wesensverschieden.

Urvaśī spricht:
»Als ich verstellt unter Sterblichen weilte
vier Herbste Nacht um Nacht mit dir vereint,
aß ich einzig ein Stückchen Butter
des Tags, – und bin noch immer davon satt.«

Aller Wunsch und alle Kunst, die Grenze zwischen Mensch und Gott auszulöschen, scheitert am ewigen Unterschied göttlichen und irdischen Wesens. Einst waren die Menschen Gefährten der Götter und halfen ihnen als Priester und Helden die Weltherrschaft gewinnen im Kampf mit den Dämonen, halfen ihnen zum Besitz der Sonne, dem Kern ewigen Lebens. Der Heilige Vasiṣṭha war dem königlichen Gotte Varuṇa befreundet, dem Könige der Götter, Indra, verband sich ein Ahn des ältesten Priestergeschlechts, Bṛhaspati, mit seiner magischen Kunst, wie seine Enkel irdischen Königen, und ward selbst zum Gott unter Göttern, – nicht der einzige Mensch, der zu den Unsterblichen aufstieg und ihresgleichen ward. So war es im ersten der Weltalter, als das göttliche Element der Wahrheit und die wahrhafte Ordnung aller Dinge, die auf ihr beruht, noch unvermindert in das Gewebe menschlichen Daseins eingehen konnte, ehe die Dämmerung des zweiten Weltalters anbrach, die den Menschen ein erstes Viertel des Göttlichen entzog, und der vertraute Umgang von Göttern und Menschen, gewohntes Auf und Ab zwischen Himmel und Erde, ein Ende nahm. Zu Ende ging die Zeit übermenschlicher Seher, die von Angesicht zu Angesicht den Göttern gegenüber traten und ihre Schau in Hymnen faßten. Jetzt ward das Ritualwissen wichtig, magische Kunst schlug geheimnisreiche, gefahrvolle Brücken über den Abgrund zwischen Gott und Mensch, die Weisheit der Alten vom Wesen der Götter dem Spätergeborenen wahrend und dem getrübten Menschen deutend.

Wie ein schwermutsvoller Liebesblick auf die Zeiten hoher Ahnen ist das Lied von Purūravas und Urvaśī, ein spätes Glied der alten Hymnendichtung, das mit tragischem Ernst die Grenze des Menschtums zieht. Sein Ausklang verflicht unerbittliche Bescheidung des Menschen in den ihm zugemessenen Bereich mit magischem Trost und Verheißung göttlichen Lebens nach dem Tode:

Urvaśī spricht:
»So sprechen die Götter zu Dir: es ist einmal so,
du bist dem Tode verwandt.
Dein Geschlecht soll den Göttern opfern, du selbst
im Himmel selig sein.«

Die Seligkeit des Himmels in Urvaśī verkörpert, läßt sich nicht auf die Erde bannen, aber Verehrung der Götter, Opfer frommer Enkel, führen nach dem Tode zu ihren seligen Höhen.

Ein weiter Weg durch die Zeiten von dem unbekannten großen Schöpfer des alten Liedes zum Erzähler angloindischer Prosa, zum Lyriker des Brahmā Samāj, ungefähr so weit wie das Feld, das im Lichte der Überlieferung indischen Geistes liegt. Es ist nicht leicht, einen völligeren Wandel der Bedeutung zu denken, als er über das Symbol der dunklen Kammer im Wandel der Jahrtausende gekommen ist. Mit dem Sinn seiner Teile hat sich auch die Spannung seiner Kräfte, die Lagerung seiner Gewichte völlig verschoben.

Eine entscheidende Veränderung, die Tagore den Weg für seine neue Form freigab, war bereits eingetreten, als die Buddhisten den Stoff aus dem Strome weltlicher Erzählung schöpften. Das himmlische Weib war zum Menschenkind geworden. Da wurde der Mann, der es nur in dunkler Kammer erleben durfte, mit unholdhafter Häßlichkeit beladen, um die Kluft tiefer Ungleichheit zwischen den Nahegerückten zu wahren. Aber des Mannes Mißgestalt ist nun nichts Allgemeines mehr, ist nicht mehr Natur, wie das Menschtum des Purūravas. Darum bedarf sie einer Erklärung. Es muß etwas geschehen sein, was sie verursacht hat. Weil die Mutter vor der eklen Scheingestalt des Götterkönigs Abscheu empfand, wird ihr ein ungestalter Sohn geboren, vor dem die Frau, die er liebt, erschaudert, wie einst die Mutter vor dem Gotte, wenn das Dunkel der Kammer seine Gestalt nicht mehr verhüllt. Aber was nur dank einer seltsamen Begebenheit vor seiner Geburt über Kuśa verhängt worden ist, kann durch ein zweites Wunder von ihm gewonnen werden. Gott Indra darf und muß den Makel tilgen, an dem der König schuldlos ist. Nachdem der alte Mythos zur volkstümlichen Wundergeschichte geworden ist, fordert das die Logik seines neuen Stils. Die Form einer rechten Wundergeschichte ist der Ring; das Ende muß sich zum Anfang finden und die Knoten lösen, die er geknüpft hat. Milder Schimmer der Verheißung verklärt Purūravas den abendlichen Horizont der Hoffnung. Dem Tode verwandt wartet er gläubig-gewiß, aber in einsamer Sehnsucht, der Stunde, die durch das Tor des Todes ihn zum Glück der Unsterblichen aufwärts geleitet, das er einst in seiner dunklen Kammer mit Urvaśī vereint auf Erden kostete. In der Wundergeschichte von König Kuśa folgt der notwendige Schlußakkord, der ihr Grundmotiv, die große Dissonanz, beglückend auflöst, ihrer breiten Entfaltung, ohne daß eine Fermate von unbestimmter Dauer sich dazwischen schöbe.

Hier konnte allmählich die völlige Verschiebung der Gewichte im Grundgefüge der Fabel einsetzen. Der glückliche Ausgang, das Unverdiente des Verhängnisses, die Beziehung seines Ursprungs zum König der Götter statteten den Helden bei seiner Mißgestalt mit Zuversicht und heiterem Siegesgefühl aus, die dem tragischen Symbol der Grenzen menschlicher Natur versagt sein mußten. Die Huld des Gottes hatte ja in Kuśa ein Wunder von Mensch geplant, als Geschenk an den frommen Vater und seine Königin, deren Hoheit den Gott rührte, als sie nicht wie die übrigen Frauen des Harems sich der unverhofften Freiheit freute und wie die andern von Umarmung zu Umarmung schwärmte. Es war nicht Indras Schuld, daß dem göttlichen Elixier, mit dem er die Königin beschenkte, in ihrem Leibe ein so häßlicher Sohn entsproß. Sie hatte in der Stunde der Prüfung vor dem Scheine seiner Mißgestalt versagt, so blieben ihrem Sohne zwar übermenschliche Gaben an Klugheit und Kraft, aber die himmlische Schönheit fehlte.

Nun sind die Gewichte vertauscht. Das Weib der dunklen Kammer ist bei aller Schönheit nur ein Erdenkind, aber der werbende Mann, den es verabscheut, nachdem es ihn im grellen Lichte seiner nackten Häßlichkeit gesehen hat, kommt vom Himmel her. Tagore vollendet nur diese Umkehrung, wenn er den König der dunklen Kammer zum Sinnbild Gottes macht und seine Königin zum Zeichen für die Menschenseele.

Vielleicht erweist man dem Spätgeborenen keinen großen Liebesdienst, wenn man sein silbermattes lyrisches Schattenspiel in die lebensträchtige herbe Nähe des schwermutvollen alten Liedes und neben die launige, farbenfrische und tiefsinnige Wunderwelt der buddhistischen Erzählung stellt. Aber sein Verdienst um das alte Symbol der dunklen Kammer wird dabei offenbar. Er hat ihr wieder einen Sinn gegeben, wie sie zur Zeit des alten Liedes einen besaß, während sie im Munde der Mönche zu einem bloßen Fabelstück geworden war. Sie griffen neben anderen die prachtvolle Erzählung unbedenklich auf, um fromme Weltkinder, die Buddhas Lehre anhingen, damit zu unterhalten. Mehr noch als die Entfernung über viele Jahrhunderte trennte sie die geistige Welt des Ordens, in dem sie lebten, von den Gedanken des verschollenen Dichters, dessen großes Lied kaum einer von ihnen vernommen haben kann, keinem von ihnen zu deuten aufgegeben war. Sie begnügten sich, den dankbaren Stoff mit einer leichten Floskel äußerlich in ihr großes Repertoire der früheren Leben des Buddha einzufügen. Die ceylonesische Überlieferung erzählt, man brachte einen Mönch vor den Erleuchteten, dem war das Ordensleben leid geworden. Auf einem der täglichen Bettelgänge in die Stadt hatte er gegen die Regel den Blick erhoben und ein schöngeschmücktes Weib betrachtet. Da sehnte er sich wieder ins Weltleben zurück. Der Meister redete ihm sein Gelüsten aus, indem er ihm erzählte, wieviel Leid vor Zeiten über König Kuśa gekommen sei um eines schönen Weibes willen. Und deutend schloß er, daß niemand anderes als er selbst damals Kuśa gewesen sei. – Auch die Mönche des indischen Mittellandes, die der Lehre von der Überweltlichkeit der Buddhas anhangen legen dem Meister diese Gleichung zwischen sich und König Kuśa in den Mund. Nur der Anlaß für den Erhabenen, von diesem seiner früheren Leben zu erzählen, war nach ihrer Überlieferung ein anderer. Der Buddha spricht zu den Mönchen von den großen Ereignissen und Kämpfen, die seine sieghafte Erleuchtung begleiteten. Als in der Dämmerung des Morgens unter dem Baume der Erleuchtung das Licht der Wahrheit ihm aufgegangen war, und alle Fesseln des Lebens zerrissen lagen, jagte er mit einem kleinen Laut seines Mundes, – es war noch nicht einmal ein Wort, – das Heer des Versuchers, des Herrn der Welt des Scheins, der mit der Lockung der Lebenslust und mit Drohung der Vernichtung alle Geschöpfe im Kreise von Geburt und Tod gefangen hält, in die Flucht. Das unabsehbare Heer dräuender Unholde, scheußlicher Fratzen, die ihn im Dunkel der Nacht vom Sitze der Erleuchtung hatten schrecken wollen, zerstob in Nichts. Die Mönche sind von Staunen bewegt über die Wunderkraft des Erleuchteten. Aber der Erhabene bedeutet sie, daß schon früher einmal vor einem Laut seines Mundes ein großes feindliches Heer zerstoben sei. Und erzählt die Geschichte von König Kuśa.

Die buddhistische Überlieferung war für Tagore verschüttet, als er dem Symbol der dunklen Kammer seine neue Bedeutung gab. Immerhin hat der wandlungsreiche Stoff auf seinem Fluß bis in die Gegenwart ihn in einer Form erreicht, die der buddhistischen eng verwandt war. Enger als die Gestaltungen, die in der späteren brahmanischen Überlieferung: in Mahābhārata und stilverwandten epischen Texten der Sektenliteratur bewahrt worden sind. Hier schützte priesterliche Tradition, die ohne abzubrechen durch die Jahrtausende lief, nicht nur die Namen von Held und Heldin, sondern auch ihren alten himmlisch-irdischen Gegensatz. Auch von Kālidāsa, dessen lyrisches Schauspiel Urvaśī der brahmanischen Überlieferung entwächst, aber sie ins Untragisch-Idyllische umbiegend freier verwertet, als Tagore seinen unbekannten wild wachsenden Schößling vom alten Stamme, trennt ihn hier eine Welt. Das Motiv des Brandes, den der König meistert und der ihn vor der Geliebten entlarvt, ein Knoten im Gewebe Tagores – findet sich nur in der Erzählung der Mönche des Mittellandes. Die ceylonesische Überlieferung kennt ihn nicht. Sie verlegt die Erkennungsszene an den Lotosteich und macht dieses Zusammentreffen zur letzten Abwandlung des Begegnungsthemas. Aber eben dieses Motiv des Brandes ist alt. Es gehört zusammen mit der Rettung der wertvollen Tiere, die in den brennenden Elefantenställen durch ein von außen überraschend kommendes Unheil bedroht sind. Beides sind durchsichtige Wandlungsformen des verhängnisvollen Lichtscheins im Liebesgemach des Purūravas und der schon verlorenen aber noch geretteten Lämmer. Beide Paare von Zeichen hier und dort sind einander so unähnlich und sind dabei in der Funktion so identisch wie wechselnde Symbole in verschiedenen Szenen einer zusammenhängenden Traumfolge, die in der Welt des gleichen Triebes dieselben Wunschziele oder Hemmungen verschleiert ausdrücken, deren nacktes Auftreten das Bewußtsein mißbilligt.

Ein wandlungsvolles Zeichen in den älteren Fassungen der Fabel ist bei Tagore verschwunden: das Geschenk des himmlischen Feuerbrandes, das Purūravas Unsterblichkeit verleihen soll, und das Lichtjuwel, das Kuśa überirdische Schönheit schenkt. Beide gehören zueinander als Wandlungsformen eines Wertes, wie die eben genannten Zeichenpaare. In der Tradition der Mönche des Mittellandes heißt das Juwel jetzt »Jyotīrasa«, »dessen Essenz himmlisches Licht ist«, und die ceylonesische Überlieferung nennt es »Verocana«. Verocana ist ein Name der Sonne, und die Sonne ist in der alten Zeit die Stätte der Unsterblichkeit, ihr Besitz Unterpfand todentrückter Göttlichkeit, zu ihr steigen die Seligen auf. Wenn Indra dieses Juwel Kuśa verleiht, verklärt er ihn zum Unsterblichen. Aber sein Schein an der Stirn des Königs, der seine angeborene Unvollkommenheit schimmernd verhüllt, strahlt für unseren wissenden Blick auch auf die Königin Sudarśanā und verrät ihre vergessene himmlische Abkunft. Um ihr ganz gleich zu sein, bedurfte Kuśa des Sonnenjuwels der Unsterblichkeit. Hier ragt der himmlisch-irdische Gegensatz von Götterweib und Menschenkönig des ṛgvedischen Liedes in die verwandelte Fabelwelt der frei weiter gewachsenen Wundergeschichte hinein, wie Sudarśanās elementarer Widerstand gegen Kuśas Häßlichkeit – eine Art Naturgewalt in seiner Unbeirrbarkeit – als verwandelte Auswirkung des unüberwindlichen Gegensatzes zwischen Gott und Mensch seine Erklärung findet Mit der buddhistischen Tradition des Mittellandes teilt Tagores Spiel den Namen Sudarśanā für die Heldin. Er ist spät, denn er herrscht nur in den jüngeren Prosastücken dieser Überlieferung, nicht in den alten Versen, die ihren Kern bilden. Aber in ihnen heißt die Heldin auch nicht mehr Urvaśī, sondern Prajāpatī. Ein seltsamer Name, der zu Spekulationen verlockt, nur scheinbar eine willkürliche Biegung des männlichen Götternamens Prajāpati, »Herr der Geschöpfe«, »Schöpfer der Welt« ins Weibliche, eher wohl prajāvatī, »die Nachkommenreiche«. Buddhisten war dieser Frauenname geläufig, so hieß die weibliche Verwandte des Buddha, die ihn als Kind nach dem frühen Tode der Mutter aufgezogen haben soll, und deren Bitte nach seiner Erleuchtung dem Widerwilligen die Zulassung von Frauen in den Orden abrang. Es bleibt dunkel, warum dieser neue Name für die Heldin innerhalb der Überlieferung von Vers zu Prosa geändert wurde. Die ceylonesische Überlieferung hat aus ihm »Prabhāvatī«, »die Glänzende« gemacht..

Tagore kennt keinen himmlischen Feuerbrand und hat auch keinen Raum für das Sonnenjuwel der Unsterblichkeit. Gott und Mensch, der Unendliche und das Unendlich-Kleine sind einander nah und fern, sind eines und voneinander geschieden, wie der Strom, der von den Bergen kommt und breite Ebenen durchfließt, und das Meer, in das er mündet, um Name und Gestalt zu verlieren. Aber der Weg ist weit und währt unendlich lange, so lange wie das Fließen des Stromes, dessen Mund das Weltmeer küßt, indes sein Wellenleib ewig und ewig nach ihm hinverlangt. Auch wer um Gott weiß und in ihm mündend sich schon in ihn verliert, bleibt ein ewiger Wanderer zu ihm hin.

Ein Zwiegespräch unter den späten Liedern, die »Zum anderen Ufer« drängen, zieht die Grenze des Menschtums, wie Tagore sie fühlt: Bescheidung und Verheißung flechten sich in eins:

»Wanderer, wohin geht dein Weg?«
– baden geh ich im Meer
beim Morgenrot
entlang dem baumbesäumten Weg. –

»Wanderer, wo ist das Meer?«
– wo der Lauf des Flusses endet,
Dämmerung sich in Morgen wendet,
wo der Tag ins Dunkel rollt. –

»Wanderer, ziehen viele mit dir?«
– weiß nicht, wie ich sie zählen sollt.
sie wandern alle Nächte
mit Lampen in der Hand,
sie singen alle Tage
auf den Wassern und über Land. –

»Wanderer, wie weit ist das Meer?«
– das ist unser aller Frage:
wie weit?
seiner Fluten Steigen
dröhnt bis an die Sterne,
wenn unsere Stimmen schweigen
– nah erscheint es und ist ferne. –

»Wanderer, wie die Sonne sengt!«
– Ja, der Weg ist lang und schwer,
singe, wem das Herz bedrängt,
singt, wenn eure Seele leer. –

»Wanderer, überfällt euch Nacht?«
– liegen schlafend wir umher,
bis des Tages Lied erwacht
und der Ruf vom Meer. –

Kein Gnadengeschenk Gottes, dessen Wesen für die Vielen schonendes Dunkel umgibt, enthebt die Seele mit einem Wunderakt ihrem Menschtum, erhebt sie über den Abgrund der Vergänglichkeit, in den mit dem Tode der Gattin und blühender Kinder dem Dichter jäh die Idylle eines reichen Lebens versank. Irrtum und Trotz, Leiden und Einkehr reifen die Seele dazu, Gott zu ertragen, wie er ist in seiner Unfaßbarkeit. Aber auch wer Gott ergriffen hat und verwandelt ihm geweiht ist, bleibt Mensch, ein Pilger unendlichen Wegs, wie der Strom ewig zum Meere wallt, –

»Nah erscheint es und ist ferne« –

erfahrbar und unfaßbar: das ist Gott. Endliches und Ewiges stehen einander gegenüber, und ihre Vereinigung ruht im Schoße der Ewigkeit.

Im letzten seiner Lieder »Zum andren Ufer« ruft Tagore noch einmal die ganze Zerbrochenheit und kalte Öde auf, deren Überwindung die Totenlieder versuchen »Fruchtlese« XLVI-XLVIII.. In einsamen dunklen Tönen, die wie fahle Garbenbündel auf nächtlichem Feld sich aneinander halten, steigt der Schmerz der Kreatur, die leidvoll sich in das verhängte Opfer des Liebsten fügt, zum wolkenschweren Abendhimmel eines Lebens auf:

»Mein Weggesell,
nimm meinen Gruß eines Wandernden an.
meines gebrochenen Herzens Herr,
Herr über Verlust und Abschied schwer,
Herr des schweigenden Abendgrau's
nimm meinen Gruß aus verödetem Haus.«

In die versammelte Schwere dieser dunklen Klänge jagen jäh sie durchbrechend, einer oberen Mitte entquellend, Fanfaren hellen Lichtes und zerschneiden sie kreuz und quer, daß vor ihrer Macht Seufzer verstummen und Tränen versiegen. Unvermittelt wie ein Wunder brechen sie herein, unverbunden und selbstherrlich sich überstrahlend:

»O Licht am neuen Morgen!
Sonne am ewigen Tag!
dich grüßt die Hoffnung, die nicht sterben kann!
Wegweisender, ich bin ein Wandernder
endlosen Wegs,
nimm meinen Gruß eines Wandernden an!«

Eben der Glaube des unendlich Kleinen, der die unendliche Weite zu Gott hin überfliegt, der die unendliche Entfernung von Mensch zu Gott in sich aufzunehmen vermag, ohne daran zu zerbrechen, gibt dem Menschen die Würde und die Kraft, in seiner Sphäre der Preisgegebenheit dem Unzerbrechlichen ins Angesicht zu schauen und ihn zu ertragen. Das Wissen um die Ewigkeit des Weges und das Ja zu diesem Wege sind das unendliche Teil am Menschen, das ihn dem Unendlichen in aller Demut und Entfernung verwandt macht. Es ist der selige Weg zum Lande »Alles verloren«, den die Königin zu ihrem König der dunklen Kammer geht.

In der Kurve vom ṛgvedischen Liede zum Spiele Tagores spiegelt sich die Wandlung indischen Lebens- und Gottesgefühls, von den »Göttern auf Erden«, wie sich die vedischen Brahmanen fühlten und nannten, zur demütigen Hingabe an Gott ( bhakti) des Hinduismus, deren Klänge Tagore aus indischem Volksgesang und Sektenlehren in die Weltliteratur der Gegenwart hinübergetragen hat.


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