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Arthur Schopenhauer

1788-1860

Europas weltliche Erziehung kennt keine Einweihungen mehr, die den Menschen wandeln und durchs Leben geleiten: die Sakramente der Kirchen wirken auf beschränkte Seelenräume; an die Stelle der Medizinmänner, Priester, Stammesältesten und Männerbünde, die in alten Kulturen Weihen vollzogen, traten bei uns vereinzelt Dichter und Denker, Schreibende und Redende. So bot sich für manche in letzter Zeit George als Künder und Wart am Tor der Jugend, als Hüter der Schwelle zu einem höheren Leben. Für Nietzsches Jugend war Schopenhauer der einweihende Genius – das bezeichnet seinen Rang.

Die Schlüssel der Geheimnisse sind in Händen Einsamer, höheres Wissen wird durch Abseitsstehen bezahlt: gezeichnet und heimatlos, liebeleer und ungeliebt, unzeitgemäß und zeitlos, am Dasein leidend und vom Willen zum Dasein besessen, ging Schopenhauer durch die Maya der Welt.

»Ich stammte aus Danzig, wenig aber fehlte, so wäre ich Engländer geworden«, berichtet Schopenhauer in dem Lebenslauf, den er 1819 gelegentlich seiner Habilitation der Berliner Philosophischen Fakultät vorlegte; seine Mutter kehrte knapp vor der Geburt ihres einzigen Sohnes von einem Aufenthalt in England in ihre Vaterstadt zurück, und so hat Danzig die Ehre, den Philosophen unterm 22. Februar 1788 in seinem Geburtsregister zu verzeichnen, das auch seinen Vater und Großvater führt. Der Weltbürger und Bewunderer britischen Wesens gedachte des Umstands, der ihn in deutschen Boden pflanzte, als eines schicksalvollen Zufalls; einen Bewunderer in Harlem dankte er im Alter besonders erfreut für lebhafte Teilnahme an seiner Philosophie, »um so mehr, als sie vom Auslande kommt, sodann aber auch, weil ich von holländischer Abkunft bin; mein Großvater war noch in Holland geboren, aber jung nach Danzig gekommen, wo er die Tochter des Herrn Soermans, holländischen Residenten bei der noch ›Freien Stadt‹, heiratete. Mein Vater Heinrich Floris sprach noch sehr gut Holländisch. In Deutschland lebt meines Wissens kein einziger meines Namens ...« Und er gedenkt der Bilder seiner Ahnen, die sein Vater ihm auf einer Reise durch Holland in der Kirche von Gorcum zeigte. »Mehrere Soermans, die dort Prediger gewesen, hingen an den Pfeilern, mit Knebelbärten. Es ist gut, daß ich dies doch nach Holland melde, dem Lande, wo meine geistigen Vorfahren Cartesius und Spinoza gelebt haben.«

Indes Schopenhauer der holländischen Väter gern gedenkt, wie Nietzsche – vom Mutterlande enttäuscht – liebevoll auf die polnischen Ahnen blickt, die Mutter verschweigt er: Johanna, die Tochter des Ratsherrn Christian Heinrich Trosiener, war eine Danzigerin. Das Verhältnis des Sohns zu ihr war unglücklich, die tiefen Schatten über seinem einsamen Werk und Leben sind nicht davon zu trennen. Noch das populäre Parergon »Über die Weiber«, Verachtung grollend, ist wie eine späte Abrechnung des Altgewordenen mit dem Schatten der Mutter. Sie war von starkem Schlag, voll unbekümmerter Lebenslust. Nach dem frühen Tode des viel älteren Gatten wurde sie in allen Ehren, was man eine lustige Witwe genannt hat, baute sich mit geselligem Talent und schriftstellerischen Gaben einen Salon in Weimar auf, der ihr entsprach, wie er dem Sohne schal deuchte, indes Exzellenz Goethe es für gut befand, ihn durch gelegentlichen Besuch zu ehren. Sie fand sich selbst als Verfasserin gelesener Romane und Reisebeschreibungen wieder, die dem Zeitgeschmack und keinem höheren Sinn genügten, hatte literarische Seelenfreunde, kurz, sie ward ein rechtes Greuel für den schwermütig verfinsterten Sohn, den geborenen Einsiedler, den seines Werts bewußten Menschenverächter.

Von ihr kam ihm die zähe Lebenskraft, von des Vaters Seite her die tiefen Schatten. Er blieb der Letzte seines Stamms. Die einzige Schwester, Adele, die leidenschaftliche Seele mit dem Mißgeschick erschreckender Häßlichkeit, blieb unverheiratet. Die ältere Generation trug hinreichend Zeichen des Verfalls, aber ihre Erbmasse in Zersetzung trieb die Wunderblüte der Genialität, die absterbende Familie brachte den Unsterblichen hervor. Seine Großmutter Anna Renata geborene Soermans war »von so heftigem Charakter, daß sie nach dem Tode ihres Mannes für wahnsinnig erklärt und unter Vormundschaft gesetzt wurde«. Von den zwei Brüdern des Vaters war der eine von Kind auf geistesschwach, der andere, »ein durch Ausschweifung halb wahnsinnig gewordener Mensch«, lebte »in einem Winkel mit schlechtem Volk«, der Vater selbst fand ein unklares Ende: er stürzte aus einer hohen Speicheröffnung seines Hamburger Handelshauses in den Kanal. Diesem Unfall war eine Zeit krankhafter Aufregungen und Gedächtnisstörungen bei zunehmender Taubheit voraufgegangen, es bildete sich das Gerücht, er habe in einem Anfall von Trübsinn wegen eingebildeter oder wirklicher Vermögensverluste sein Leben freiwillig geendet.

Der Vater Heinrich Floris hatte ein Handelshaus in Danzig, seine Geschäftsfreunde über See saßen in England und Frankreich, sein Wohlstand, schwankend und, wie Danzigs Bestand, an Polens Schicksal gekettet, ging auf den Großvater zurück, der aus Holland kam, aus den freien republikanischen Generalstaaten, und in der freien alten Reichsstadt Wurzeln schlagen mochte. Persönliche Würde, Weltweite, zähen Sinn für Unabhängigkeit, der die Hochschätzung des Geldes einschließt, nationale Tugenden Hollands, vererbte er seinem Sohne und Enkel. Heinrich Floris war ein Weltbürger nach dem Ideal der Aufklärung; er hätte es nicht ungern gesehen, wenn der Erbe seiner Firma als Engländer zur Welt gekommen wäre, er gab ihm den Namen Arthur, weil er auf deutsch, französisch und englisch die gleiche Schreibung hat. Ein vorteilhaftes Angebot Friedrichs des Großen, sich als preußischer Staatsbürger in seinen Landen niederzulassen, lehnte er ab, obwohl er ihn persönlich bewunderte. Er konnte nicht Fürstendiener sein und zog die Freiheit der alten Reichsstadt vor. Mittelalterlich verbrieft, war sie praktisch nur mehr durch Polens ermattende Umklammerung vor Preußens Zugriff bewahrt und sank 1793 bei der zweiten Teilung Polens mit dessen Freiheit ins Grab. Da, als preußische Truppen Danzig einverleibten, kehrte Heinrich Floris unter empfindlichen Opfern der geknechteten Heimat fluchtartig den Rücken und nahm das Gastrecht der Freien Reichsstadt Hamburg in Anspruch.

»Mein Sohn soll im Buche des Lebens lesen!« war ein Grundsatz, der Johann Floris bei der sorgfältigen Erziehung seines Erben leitete. Er schickte ihn neunjährig zu einem Geschäftsfreund nach Le Havre, mit dessen Sohn er zwei Jahre lang als kleiner Franzose aufwuchs. Er nahm ihn früh mit auf Reisen, so durfte der Zwölfjährige 1800 in Weimar Schiller sehen. Die weltweite Erziehung sollte den Sohn auf den nächstliegenden Beruf bereiten, des Vaters Handelshaus fortzuführen. Aber die erwachende Stimme innerer Berufung wies den Sohn aufs Gymnasium als Eingang zu den Wissenschaften. Da griff der Vater zu einer List, er versprach dem Fünfzehnjährigen eine große Reise, wenn er aufs Gymnasium verzichte und heimgekehrt Kaufmann werden wolle. Die Verlockung war groß, er zog die kurzweilige Einweihung durch die Welt, vom väterlichen Willen geboten, zunächst der langwierigen durch die Bücher vor.

Im Mai 1803 reiste er mit den Eltern über Holland nach London; beim Pfarrer von Wimbledon lernte er sein Englisch und hatte Gelegenheit, wahrzunehmen, was die gewaltige Stadt ihm bot. Er besichtigte den Tower, das Britische Museum und alle erdenklichen Sehenswürdigkeiten, betrat Westminster Abbey, das nationale Mausoleum, das den erhabenen Moder der großen Männer Englands atmet, las an Shakespeares Statue »seinen schönen Vers über die Vergänglichkeit«:

... wir sind aus solchem Zeug
Wie dem zu Tränen; unser kleines Leben
Umfaßt ein Schlaf.

Er kam viel ins Theater, sah Hamlet, sah italienische Opern, Ballette und Vaudevilles, sah ein Quäkermeeting und eine Menagerie, einen Bauchredner und den berühmten Astronomen Herschel mit seinen Teleskopen bei Windsor. Was Fremden von Distinktion geboten werden konnte, zog an ihm vorüber: eine Ruderregatta auf der Themse, die Auffahrt des Adels in über tausend Galakutschen zur Hofcour nach Saint James Palace und das Henken dreier Delinquenten vorm Gefängnis. Er sah die Antichambre bei Hofe, die Hofdamen »schienen verkleidete Bauernmädchen«; sah die königliche Familie in Windsor: »der König ist ein sehr hübscher alter Mann, die Königin ist häßlich und ohne allen Anstand, die Prinzessinnen sind alle nicht hübsch und fangen an, alt zu werden«. Danach Frankreich. In Paris sah er Talma auf der Bühne und den Consul Bonaparte in der Loge; im Louvre stand er vorm Laokoon, der Mediceischen Venus und dem Sterbenden Fechter. Die wilden Tiere des Jardin des Plantes, Sammlungen, Schlösser und Institute umfing sein wacher Blick; Correggio, Raffael und Leonardo wurden sein Besitz. Dazwischen immer wieder Theaterbesuche, eine Parade im Tuilerienhof, bei der Bonaparte Fahnen verlieh. Er sah Südfrankreich mit den Ruinen des Altertums, las in der Arena von Nîmes die Namen antiker Besucher auf den Steinen, besuchte das dröhnende Marinearsenal von Toulon, die »Werkstätte Vulkans« am blauen Meer, daneben das Bagno der Galeerensklaven, so grauenhaftes Nachdenken in ihm weckend, wie die Taubstummen eines Pariser Instituts ihn durch ihre sanfte Heiterkeit betroffen hatten. Die Bürger von Lyon spazieren friedlich über den Platz, »auf dem ihre Freunde und nahen Verwandten vor zehn Jahren in Haufen gestellt und mit Kanonen erschossen wurden«. Die Lieblichkeit des Genfer Sees und die erhabene Gewalt des Montblanc sprachen mit sinnbildlicher Gebärde zu seiner geöffneten Seele. Wie Dante durch Hölle und Läuterung, schritt er durch alles hin und blickte drauf mit der Hellsicht des Genius zwischen Kindheit und Leben. Die Eltern hatten ihn angehalten, auf der Reise Tagebuch zu führen; auf der letzten Seite steht der Vers aus Shakespeare:

... der ärgste Schlag
Ist doch der Tod – und Tod will seinen Tag

und die Sätze »in coelo quies, tout finit ici-bas« – davor eine Liste aller Herbergen mit Vermerken, ob sie gut oder schlecht gewesen.

Über die Schweiz und Süddeutschland führte ihn die Reise weiter nach Wien und über Dresden heimwärts, aus ihrem erregenden Mysteriengange trat er in die enge, kahle Wirklichkeit: ins Kontor. Da starb sein Vater; die Mutter löste die Firma auf, zog nach Weimar und kam eben zurecht in die Kriegswirren nach der Schlacht bei Jena, deren Leiden die Menschen einander näherbrachten und der hilfsbereiten Fremden schnell einen Kreis erwünschter Beziehungen schufen. Der Sohn verkam indes im ungemäßen Beruf; Johanna, weitschauend und verständig, erlöste ihn nach einigen Bedenken und ebnete ihm die Wege. In Gotha und Weimar holte er die alten Sprachen und anderen Lernstoff nach, mit einundzwanzig Jahren kam er 1809 zur Hochschule: verspätet, aber er brachte einen Reichtum an Welt und Bildung mit, den wenige von ihr heimtragen. »Mich haben nicht die Bücher, sondern die Welt hat mich befruchtet«, schrieb er später in einem Lebensabriß an Professor Erdmann in Halle. Er ließ sich in Göttingen zuerst bei der Medizin einschreiben, hier legte er den Grund zu naturwissenschaftlichen Kenntnissen, wie sie seit Aristoteles kaum ein Philosoph mehr besessen und als bestimmendes Element bis ins Metaphysische seiner Lehre bei sich bewegt hat. Sie trugen auch seinen Erfolg, als in der zweiten Jahrhunderthälfte naturwissenschaftliches Denken triumphierte. Bald fand er den Weg zur Philosophie: Gottlob Ernst Schulze, der kritische Anhänger Kants (nach seiner Schrift Änesidemus zubenannt) ward sein Lehrer. Er gab ihm den »weisen Rat«, den er ihm lebenslang dankte, »meinen Privatfleiß fürs erste ausschließlich Plato und Kanten zuzuwenden und, bis ich diese bewältigt haben würde, keine anderen anzusehen, namentlich nicht den Aristoteles oder den Spinoza. Bei der Befolgung dieses Rates habe ich mich sehr wohlbefunden.« In dieser Wahl lag eine Entscheidung gegen die übrige romantische Nachfolge Kants, die, an Aristoteles und Spinoza genährt, mit Hegel und Schelling Deutschland noch lange beherrschen sollte. »Platon der göttliche und der erstaunliche Kant« sind die Genien, die Schopenhauer am Eingang seiner Dissertation als Hüter der Schwelle seines Lebenswerkes beschwört, aber wie sehr verwandelte sich, was sie gelehrt hatten, unter seinem Griff, wie wenig möchten Platoniker und Kantianer ihn als Nachfolger ihrer Meister gelten lassen!

In Berlin hörte er im Winter 1810 Fichte, seine »Verehrung a priori« wich jedoch bald »der Geringschätzung und dem Spotte«. Eine fruchtlose Begegnung, wie später mit Hegel gelegentlich der Habilitation. Die Ferien verbrachte er in Weimar, der Mutter ein unerwünschter Gast, sich selbst und anderen schwierig. Sie hatte ihm schon früher vorgehalten, »wie wenig dir vom frohen Sinn der Jugend ward, wieviel Anlaß zu schwermütigen Grübeleien du von deinem Vater zum traurigen Erbteil bekamst«. Hier begegnete er 1811 Wieland. Der achtundsiebzigjährige Patriarch wollte ihm, augenscheinlich auf Johannas Wunsch, ausreden, sich einzig der Philosophie zu widmen, die doch kein solides Fach wäre, aber er imponierte dem Alten mit der Antwort: »Das Leben ist eine mißliche Sache; ich habe mir vorgesetzt, es damit hinzubringen, über dasselbe nachzudenken.«

Das war nicht die Haltung, in der Volk und Vaterland dem weltbürgerlich Erzogenen, schweifend Heimatlosen glühend das Herz erfüllen konnten: als Preußen vom Waffenlärm des Befreiungskrieges erklirrte, trug ihn die Welle einen Augenblick, bald aber lehnte er Gewehr und Säbel, die er sich beschafft hatte, an die Wand; dies war nicht seine Form, sich zu erfüllen. Er zog sich nach dem stillen Altenburg zurück und brütete seinen Erstling aus, die Dissertation Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Mit ihr wurde er 1813 in Jena zum Dr. phil. promoviert.

Als die Mutter sein Opus zu sehen bekam, meinte sie bissig, »das sei wohl etwas für Apotheker«, worauf er losbrach, man werde es noch lesen, wenn von ihren Schriften kaum mehr ein Exemplar in einer Rumpelkammer zu finden sein werde ... »Aber von der deinigen wird noch die ganze Auflage zu haben sein«, gab sie ihm schlagfertig zurück – Weissagungen aus Hellsicht des Hasses blitzend: sie sollten sich wortwörtlich erfüllen. Mutter und Sohn hatten einander nur mehr Bosheiten zu sagen und waren gescheit genug, bald auch auf diese Form des Umgangs zu verzichten.

Wieder in Weimar, durfte er Goethe nahekommen. Den Schöpfer der Farbenlehre mutete eine Bemerkung der Dissertation, geometrische Beweise müßten durchweg anschaulich sein, sympathisch an, und er fand im jungen Philosophen einen Adepten für sein wissenschaftliches Schmerzenskind. Freilich verdarb Schopenhauer ihre anfängliche Einmütigkeit auf optischem Gebiet, indem er bald eine eigene kleine Farbenlehre Über das Sehen und die Farben entwarf, und Goethe zog sich davor mit epigrammatischen Stoßseufzern der Enttäuschung zurück:

Trüge gern noch länger des Lehrers Bürden,
Wenn Schüler nur nicht gleich Lehrer würden

und:

Gutgedachtes in fremden Adern
Wird sogleich mit dir selber hadern.

Aber Goethe blieb doch das größte Erlebnis des geborenen Einzelgängers, der einzige Mensch, der den ewig Einsamen verzaubert hat und ihm zeitlebens für alle anderen stand. Schopenhauers Stammbuch, das er Goethe, sich einzutragen, brachte, wie der Schüler im Faust dem verkappten Mephisto, blieb als Reliquie lebenslang leer bis auf die einzige Seite, auf der Goethe seine kritische Hellsicht in den kleinen Mahnvers gefaßt hatte:

Willst du dich deines Wertes freuen,
So mußt der Welt du Wert verleihen.

In seinen Tagebüchern verzeichnete Goethe ihn als einen »meist verkannten, aber auch schwer zu kennenden, verdienstvollen jungen Mann«. Schopenhauer und Lord Byron sind wie die Abgesandten einer neuen Generation Goethe genaht: ein verwandeltes Zeitalter in seinem Aufgange huldigte in ihnen beiden der sinnbildlichen Gestalt des Alten, dem allumfassenden Genius und Magier auf seinem Wege zur Selbstvollendung.

In Weimar begegnete er auch dem Manne, der ihm die wahlverwandte indische Geisteswelt erschloß: die Weisheit der Upanischads in Gestalt von Anquetil-Duperrons Oupnekhat und die Lehre des Buddha in Friedrich Majer. Er war ein Jünger Herders, und durch ihn erreichte der allverstehende Sinn des Begründers geschichtsphilosophischer Universalität mit seiner weitzündenden Kraft des ganz ungeschichtlich Philosophierenden, auf daß er beiläufig den Deutschen ihre eigentümliche Beziehung zu Indien präge. Friedrich Schlegels Sprache und Weisheit der Inder war ein Hinweis geblieben, genial in der Gebärde, taub im Kerne, August Wilhelm Schlegel versank in philologischer Pionierarbeit, den schweifenden Intuitionen Herders fehlte wie Novalis' Blitzen die plastische Kraft, Hegels hellsichtige Formeln über Indien verschwanden in den Riesentrümmern seiner Kollegs. Schopenhauer blieb es aufbehalten, seinen Deutschen die allgemein eindrucksvolle Maske Indiens aus der eigenen Sehnsuchtsferne und -nähe abzuformen.

Die zweite Einweihung ins Labyrinth des Lebens durch die großen Geister der Vergangenheit im Umgang mit ihren Werken und durch Lebende in Begegnungen mit ihnen ging ihrem Ende zu; jetzt galt es den Ariadnefaden zu spinnen, das Geheimnis des Labyrinths als Philosoph zu offenbaren, die Welt zu deuten mit der Sprache, die er von Kant gelernt zu haben meinte. Aber näher als Kant waren ihm insgeheim die großen Dichter: Sophokles und Shakespeare, Calderon und Goethe, und alle Weisheit der Alten bis zu Seneka und Plotin, dazu die deutschen Mystiker Paracelsus und Böhme. Er wußte um diesen Stil seines Denkens: »Die Philosophie ist so lange vergeblich versucht, weil man sie auf dem Wege der Wissenschaft statt auf dem der Kunst suchte« – die seine sollte keine Wissenschaft sein, »sondern Kunst«, nicht am Faden des kausalen Denkens, dessen Vielfalt seine Dissertation aufgehellt hatte, sollte sie sich »wissenschaftlich« entlangtasten, aber das Geweb dieses Denkens, »die Welt als Vorstellung« durchstoßen und mit intuitivem Griff den Kern von Welt und Ich, den »Willen« anfassen, aufzeigen und die Umkehr, das Erlöschen seines weltschaffenden Dranges lehren.

Mit sechsundzwanzig Jahren ging er in die Einsamkeit nach Dresden, um wie ein indischer Yogin oder Schöpfergott sich selber zu bebrüten: »In meinem Geiste erwächst ein Werk, eine Philosophie, die Ethik und Metaphysik in einem sein soll, da man sie bisher trennte, so fälschlich als die Menschen in Seele und Körper. Das Werk wächst allmählich wie das Kind im Mutterleibe: ich weiß nicht, was zuerst und was zuletzt entstanden ist, ... ich schreibe auf, unbekümmert, wie es zum Ganzen passen wird, denn ich weiß, es ist alles aus einem Grund entsprungen. So entsteht ein organisches Ganzes, und nur ein solches kann leben.« Vier Jahre später trat sein philosophisches Lehrgedicht Die Welt als Wille und Vorstellung ans Licht, orphisch inspirierter Philosophie der Griechen näher verwandt als Kant, Erlösung verheißend wie jene, voll verzaubernder Schattentiefen und einer neuen Musikalität des Denkens.

Nach der heiligen Nüchternheit der Vernunft, mit der sich von Cartesius bis Kant der Geist souverän in seinen Grenzen und Vermögen feierte, kam endlich Er, von der Schwermut der Triebe trunken, und brachte den Gegenschlag. Voll der Trauer der Kreatur sang er vom Willen zum Leben: wie er in dumpfer Wut sich selbst verzehrt im zeitlosen Wirbel seiner Gestalten zwischen Geburt und Tod, wie er im Menschen sich die Künste schuf, vor ihren leuchtenden und klingenden Gebilden selig auszuruhen von seiner Blindheit, sich die Musik erfand, sich selbst unendlich zu genießen, und wie er schließlich den Funken des Geistes, der in ihm glimmt, auf daß er sich durch das Lebenswirrsal taste, das er selber ist – wie er diesen Funken des Geistes in Lehren von Eingeweihten, indischen oder der seinen, zur Fackel entfachen kann, deren Strahl ihm sein ziellos-leidvolles Spiel erhellt und den Weg zur Umkehr in Selbstverneinung erleuchtet.

Die Epoche der Vernunft, so sehr sie Bresche schlug in die offenbarte Religion, war von Theologie durchtränkt geblieben, noch die selbstberauschten Titanen entfesselter Vernünftigkeit, Schelling und Hegel, kamen von der Tübinger Hochburg der Theologie, wie Schleiermacher von den Herrnhutern her. In Schopenhauer erhob eine neue Zeit die Stimme: das bürgerliche Jahrhundert sprach aus dem Kaufmannssohn, aus der Frage des reichen Jünglings, ob das Geschäft des Lebens sich bezahlt mache oder ob die Herbergen der Lebensreise schlecht und zu teuer seien. Der alte Gott war tot, unvermerkt hatten die Sturmglocken der Französischen Revolution den kritisch Zerkränkelten zu Grabe geläutet, noch hing die Luft voll theologischer Schwaden, die erst im Fortgang des Jahrhunderts sich erkältend klärten: Schopenhauers gottlose Lehre kam wie ein Hahnenschrei vor Tag. Sie war die Metaphysik zu Balzacs Menschlicher Komödie, zu Flauberts Gesellschaftsbildern, ihre Feier der Künste begründete den Kult des Kunstwerks als Offenbarung aller Lebenstiefen, weihte die Opernszene zur Mysterienbühne für Richard Wagner und wies vorgreifend den verzweifelten Schönheitssuchern der symbolistischen Dichtung Europas von Baudelaire und Oscar Wilde bis Rimbaud und George das Unbedingte religiösen Ernstes für ihr pathetisches Treiben.

Vier schmale Bücher, aber nicht weniger als »die gesamte Philosophie, das ist die Lehre vom Wesen der Welt und dem menschlichen Geiste«, wie er 1820 sein erstes Kolleg in Berlin ankündigte – nichts weniger als wieder einmal der Griff, dem göttlichen Urbild den Schleier zu rauben, das von sich gesagt hat: »Niemand hat mein Gewand aufgehoben.« »Die Welt ist meine Vorstellung«, so fing es an; er hatte das einmal Goethe entwickelt und gesagt, die Sonne wäre nicht, wenn wir sie nicht sähen, aber Goethe hatte ihn bloß groß angeblickt und bemerkt: »Vielmehr wären Sie nicht, wenn die Sonne Sie nicht sähe!« Aber so fing es an: die Welt ein Gehirnphänomen, die Sinneswahrnehmungen, vom Geiste mit seinen Kategorien kantisch bewältigt, verweben sich zur Welt als Vorstellung, ihr Kern, Kants »Ding an sich«, ist subjektiv innen greifbar als »Wille«, außen objektiv in den Stufen und Lebensformen des Naturreichs und in den platonischen Ideen der Kunstwerke. Der anmutigsten Phantasie aller Völker, der griechischen, entsprang eine wunderbare Idee, die kühnste, folgenreichste Hypothese, und sie trug, was höheren Wesens im Abendlande ist, von Plato und Aristoteles bis Hegel – die Idee, daß dem Menschen in Geist oder Vernunft ein übermenschlich-göttliches Organ geliehen sei, das ihn über alle Kreatur erhöht. Es gibt ihm die überweltliche Wahrheit zu eigen, die göttliche Wirklichkeit jenseits des Scheins der Welt und ihrer Trübe, es kann sich mit dem heiligen Geiste der oberen Sphäre erfüllen und an der höchsten Wahrheit und Wirklichkeit schauend, erkennend, innewerdend unmittelbar teilhaben. Diese Strahlenleiter, auf der Engel auf und nieder steigen, war zerbrochen, Schopenhauers Lehre war das Zeichen dieser Wende: an Stelle des Geistes ward der Wille bestimmender Wesensgrund des Menschen wie aller übrigen Kreatur. Damit stieß Schopenhauer die Tür zum neuen titanischen Weltalter entgötterter Menschheit auf, in dem das Reich des Heiligen Geistes sich entrückt, indes die entfesselten Lebenskräfte und der Zauberer Intellekt zu Allgewalten werden. Die religiöse Verherrlichung der biologischen Werte, seit dem 19. Jahrhundert unaufhaltsam ansteigend, ist unbewußte Schopenhauerei mit umgekehrtem Vorzeichen. Schopenhauer wußte, was er geschichtlich bedeutete und warum man ihn so lange beschwieg, er nannte seine Lehre »eine Wahrheit, welche vor mir kein Philosoph in alter, mittlerer und neuer Zeit erkannt hat, nämlich daß das Primäre, der Kern unseres Wesens der Wille ist, der Intellekt sekundär und akzidentell: Alle, alle, alle per saecula saeculorum haben das Gegenteil gelehrt«.

Im Abklingen seines Schöpferrauschs schrieb er auf seiner ersten Italienreise ein paar spröde, zwingende Reime, die Ursprung und Schicksal seines Werkes umreißen:

Aus lang gehegten, tief gefühlten Schmerzen
Wand sich's empor aus meinem innern Herzen.
Es festzuhalten, hab' ich lang gerungen:
Doch weiß ich, daß zuletzt es mir gelungen.
Mögt euch drum immer, wie ihr wollt, gebärden:
Des Werkes Leben könnt ihr nicht gefährden.
Aufhalten könnt ihr's, nimmermehr vernichten:
Ein Denkmal wird die Nachwelt mir errichten.

In einer Anwandlung falscher Bescheidenheit, die der Schatten seines ungemeinen Selbstgefühls war und erst im Glänze späten Ruhms unbedenklicher Eitelkeit des Alters wich, überschrieb er diese Zeilen »Unverschämte Verse« – sie waren prophetisch, das Denkmal einbegriffen, prophetisch wie der Mutter boshaftes Wort, das sich wie ein antiker Familienfluch in vollem Umfange erfüllte: die vollkommen gleichgültige Zeit, ein paar verständnislose Kritiken begruben das Werk, kaum daß es ins Licht getreten war, verdammten den größten Teil der ersten Auflage zu Makulatur. Ein Wort aus Goethes Feder hätte ihn für alle Unbill entschädigt, aber es blieb aus; nur ein angeregtes, eigentlich ablenkend leeres Geraune des Alten, das Adele ihm besuchsweise gelegentlich entlockte, drang auf dem Umweg über sie zum Bruder – ein Schweigen Goethes wie zu Kleists »Penthesilea«. Wie ehrt es Schopenhauer, daß diese tiefste Enttäuschung seine Liebe und Verehrung, sein Wissen um die Einzigkeit des Alten, die er als Wahlverwandtschaft ihrer beider Genien empfand, nicht irre machte. In großen Dingen besaß er die Gelassenheit des Weisen. Nach sieben Jahren ertönte eine einsame Stimme von Rang zu seinen Gunsten, Jean Paul schrieb: »Könnt' ich nicht mehreren vor Jahren herausgekommenen Werken, die mir nicht Lob genug erhalten zu haben geschienen, noch einiges nachschicken ... und könnt' ich also zum Beispiel nicht lobend anführen: Schopenhauers Welt als Vorstellung und Wille, ein genial philosophisches, kühnes, vielseitiges Werk voll Scharfsinn und Tiefsinn, aber mit einer oft trost- und bodenlosen Tiefe, vergleichbar dem melancholischen See in Norwegen, auf dem man in seinen finsteren Ringmauern von steilen Felsen nie die Sonne, sondern in der Tiefe nur den gestirnten Himmel erblickt und über welchen kein Vogel und keine Woge zieht. Zum Glück kann ich das Buch nur loben, nicht unterschreiben.« Das war zugleich Gruß- und Abschiedswort des sentimentalen Zeitalters an das eherne, das heraufkam.

Der Menschenverächter in Schopenhauer nahm das Mißgeschick seines Werks als Bestätigung seiner geringen Meinung von den Mitmenschen, dieser »Fabrikware der Natur«, und witterte dabei eine Verschwörung der Zunftphilosophie gegen den einsamen Genius – eine Legende, an der er, unkund der Zeitströmungen, die seinen Erfolg lange hemmten, wie sie ihn dann trugen, mit ingrimmiger Freude braute.

Indessen stellte die »Welt als Vorstellung« seinen Willen zum Dasein auf eine unerwartete Probe: das Bankhaus, dem Heinrich Floris' Erben ihr Vermögen anvertraut hatten, erklärte sich bankrott. Johanna und Adele gingen, wie es geschäftsunkundigen Erben in solchen Fällen zu geschehen pflegt, gründlich verarmt aus dem Ausgleich hervor; aber der Metaphysiker bewährte erstaunlichen Wirklichkeitssinn: er versteifte sich auf die besondere Form seiner Forderung, die ihm zu warten erlaubte – abzuwarten, ob J. C. Muhl und sein Haus wirklich ganz an den Bettelstab kämen oder sich wieder erholten. Er ließ sich nicht ins Bockshorn jagen und rechnete richtig: J. C. Muhl erholte sich bald und durfte in wenigen Jahren dem Philosophen die materielle Grundlage seines Daseins restlos wiedererstatten. Ein Sieg, der Schopenhauer wohltat: einmal doch hatten Scharfblick, kaltes Blut und Strategie über die Gemeinheit der Welt triumphiert. Er stand sich gut mit dem Demiurgen seines neuen Zeitalters, dem Gelde, dessen Allmacht die Epiker der bürgerlich-kapitalistischen Ära, von Balzac zu Zola, beschäftigte. Seine Briefe an den Geldmann in diesem Handel, zuredend, fordernd, drohend, voll Weltblick und grimmiger Ironie, haben nicht ihresgleichen in der Briefliteratur aus den Federn der Philosophen aller Zeiten. Freilich seine letzte Beziehung zu nahen Menschen ging über den unerquicklichen Auseinandersetzungen während dieser Geldangelegenheit völlig in die Brüche: das an sich schon schwierige Verhältnis zu Adele. Die Geschwister gaben einander an Empfindlichkeit, Mißtrauen und Stolz nichts nach. Aus völliger innerer Vereinsamung schrieb er 1820 den Vers:

Sie sind mir alle fremd, die mich umgeben,
Die Welt ist öde und das Leben lang.

Mehr um des Ruhmes als möglicher Einkünfte willen, weil es zur Idee des Philosophen seiner Zeit gehörte, daß er, wie Kant, Professor sei, habilitierte er sich in Berlin, im Hauptquartier des allmächtigen Hegel. Er las sein Kolleg zur gleichen Stunde wie der große Zauberer dialektischer Geschichtsphilosophie – eine Herausforderung, die seinem Selbstgefühl natürlich war, aber natürlich war auch, daß sein Hörsaal entmutigend leer blieb, so leer, daß er den Versuch, vom Katheder herab für seine Philosophie zu werben, abbrach und wieder auf Reisen ging.

»Ich habe gelebt, um mein Buch zu schreiben«, sagte er 1822 einem Freunde, »daher von dem, was ich in der Welt wollte und sollte, sind neunundneunzig Prozent getan und gesichert, der Rest ist Nebensache, folglich auch meine Person und ihr Schicksal.« Er fühlte sich fertig, »machen Sie nur, daß Sie Gatte und Hauspapa werden, wozu Sie besondere Anlagen haben, die mir abgehn«, riet er dem anderen; für den Einsamen, Unbehausten kamen neue Wanderjahre. Nach der feurigen Sammlung auf die Geburt des geistigen Kindes, nach den Jahren des Brütens und der großen Enttäuschung über mangelndes Echo kam Abspannung ins Beiläufige, Flucht nach Italien, Wanderjahre mit Aufenthalten in der Schweiz, in München und Mannheim, mit Plänen, sich anderwärts zu habilitieren, und zaghaften Hoffnungen auf eine Berufung, aber alles zerrann, wie die literarischen Pläne, mit denen er seine Muße füllen wollte: Übersetzungen aus Giordano Bruno und David Hume oder von Sternes Tristram Shandy; die schönste Frucht dieser Zwischenzeit, seine Übertragung von Balthasar Gracians Handorakel der Weltklugheit fand sich im Nachlaß; es gelang ihm, eine lateinische Neubearbeitung seiner kleinen Farbenlehre in einer fachwissenschaftlichen Serie anzubringen; die Anerkennung, die sie bei optischen Fachmännern fand, war wie eine Ironie auf die ungemessenen Erwartungen, die er an die Wirkung seines Hauptwerkes geknüpft hatte. Der stumme Umgang mit den Geistern der Vergangenheit, Dichtern und Denkern von den Griechen bis Goethe, die Weisheit der alten Inder, die Lehre des Buddha blieben der Trost des Einsamen. An ihnen spann er sein Weltbild fort, zähen Glaubens, die Welt werde ihm entgegenreifen und seinen Schöpfer schließlich krönen.

Der Philosoph des unbewußten Willens war, wie alle Romantiker, traumgläubig; da hatte er in der Neujahrsnacht auf 1831 einen ängstlichen Traum: sein toter Vater erschien ihm und hielt einen Knaben an der Hand, einen frühverstorbenen Jugendfreund. Dann nahte die Cholera, die Hegel wegraffen sollte; Schopenhauer begriff das Zeichen des Traumes und floh aus Berlin. Er erwog verschiedenes, entschied sich schließlich für Frankfurt am Main als Zuflucht und dauernden Sitz. Es war Flucht vor dem nackten Tod, Rettung vor der alle bedrohenden Seuche, das einzig Gescheite im Augenblick, doch auch der endgültige Zusammenbruch eines Lebenstraumes, der Verzicht des Ehrgeizigen auf den Ruhm des akademischen Lehrers, wie er seine älteren Rivalen Fichte, Schelling, Hegel berauschend getragen hatte. Den mißglückten Versuch seines ersten Kollegs hatte er in zwölf Jahren nicht erneut, das »dürre Berlin« war ihm zuwider, aber er hatte zäh an seiner Eigenschaft als philosophischer Dozent festgehalten und war sich mit ihr wie Hamlet mit seiner Trauerschwärze als der heimliche Kronprätendent inmitten feilen Prunkes vorgekommen – dies Spiel war zu Ende. Ein bitterer Verzicht: Abschied von der ersten Lebenshälfte und ihren hochfliegenden Wünschen. Aus diesem Schiffbruch rettete er sich auf die namenlose Insel stillen Rentnerdaseins. Ein zahlungsfähiger Herr mit Büchern, Flöte und Pudel, spann er sich ein in verschollenes Einsiedlertum inmitten der Welt, die seine Stimme ohne Widerhall verschluckte und das Kind seines Geistes bogenweis zu Einwickelpapier zerpflückte. Aber der blinde Wille zum Leben, dem er als ewigem Demiurgen der Welt den ersten Altar errichtet hatte, der Dämon seiner Brust trug ihn über diesen Schiffbruch hinweg; er wollte neunzig, ja hundert Jahre alt werden, um den endlichen Sieg seiner Lehre zu schauen ... »zu meiner Mission gehört auch noch, daß man alt werde wie Methusalem und jung bleibe wie Radetzky«. Ein Traumbild tröstete ihn, als er, von Todesangst gejagt, ans Leben geklammert, ein Unbekannter, sich in sein zweites Leben tastete. »Die ihm über alles ehrwürdige Gestalt seines verstorbenen Vaters war ihm damals erschienen«, berichtet einer seiner Jünger, »und hatte ihm durch eine symbolische Handlung ein langes und ruhmreiches Leben an seinem neuen Wohnort verheißen ...« Sein Vater stand im Hofe des Hauses mit einer Leuchte vor ihm.

Auf seine Gesundheit bedacht, fand er sich ein sonniges Haus in der »Schönen Aussicht« am Main zu dauerndem Domizil. Die Fenster blicken auf den Fluß und die alte Mainbrücke: ein sinnbildliches Wohnen am Ufer des Stroms, der wie der Lebensstrom Samsara mit seinen Wellen Gestalten bildend und zerlösend unaufhaltsam zum Meere eilt, um wie das Oupnekhat sagt, »Name und Gestalt darin von sich abzutun«. Ein schicklicher Ort, als Philosoph zu leben und zu enden, im Anblick einer Brücke, über die das Leben von hier nach drüben hastet, die ihren Bogen vom vertrauten Diesseits zum Ufer jenseits spannt. »Sehen Sie dort drüben in Sachsenhausen das alte graue Haus?« wies er einem Besuch an seinem Fenster. »Dort lebte im 13. Jahrhundert ein Ritter, der zuerst die Verneinung des Willens lehrte.« Er hatte die Theologia deutsch des Frankfurter Deutschherrn schon in jungen Jahren gelesen ... »Ja, das sind meine Geistesgenossen, dieser und Eckehart und Tauler.« Er war den Spuren des mittelalterlichen Geistesverwandten nachgegangen, hatte in dem Deutschen Hause drüben die Winkel durchsucht, um vielleicht eine Spur seines »Vorgängers« zu finden.

Das Altern bekam ihm, es hellte ihn auf, seine Verzichte kosteten ihn wenig: die Welt hatte er gesehen, die Frauen bedeuteten ihm kein Wunder, von dem der Abschied schwerfällt. Mit Verhältnissen in Dresden, Italien, Berlin hatte er der Allmacht des Triebes geopfert, dabei war Eros seiner triebstarken, umdüsterten und gehemmten Natur ein dunkler, geißelschwingender Dämon geblieben, kein seelengeleitender Bote und Gott. Statt seiner Weihen galt ihm das Mysterium der Kunst, dem er wie keiner vor ihm das Wort geredet hat; in ihrem ekstatischen Erleben fand er platonische Ruhe vor dem Drang des Triebes, alterslos genoß er den »verkörperten Willen« in der Klangwelt Mozarts und Beethovens, sein Liebling blieb Rossini: die unverwölkte Heiterkeit des Lebenswillens in seiner Musik ward er nicht müde sich einsam auf der Flöte vorzuzaubern.

Die hellen Stunden des Vormittags gehörten bis zuletzt gesammelter Arbeit, in ihnen reifte die zweite, breite Gestalt des Werkes: sein zweiter Band ergänzender Betrachtungen, vielstimmig durchwebt vom Geisterchor aller Zeiten, der mit kristallenen Versen und Sentenzen zu Zeugen gleicher Erkenntnisse aufgerufen ward. Hier entfaltete sich die Meisterschaft seines Stils, sein schönes reines Verhältnis zur deutschen Sprache, geformt am Vorbild der Antike und der großen Prosa Europas, voll jener Prägnanz, Musik und Bildgewalt der Rede, kraft deren Schopenhauer nicht bloß der lesbarste Denker deutscher Zunge, vielmehr auch einer ihrer großen Lehrmeister ist. Diese zweite Blüte und Ernte seines Lebensherbstes brachte die dunkel schimmernden Betrachtungen über die Unzerstörbarkeit unseres wahren Wesens durch den Tod und über die Metaphysik der Geschlechtsliebe hervor, mit denen die untergründige Essenz seiner Lehre erst voll ins Licht trat und Kristall ward. Was er »Beiwerk und Überbleibsel« nannte, Parerga und Paralipomena bereitete seinem Werk den Weg: Ergänzungen und Notizen, Zitate und Betrachtungen, Stein auf Stein in langen einsamen Jahren zusammengetragen und ausgefeilt, bestimmt dem Hauptwerk eingefügt zu werden, wenn es einmal vom Vergessen auferstände, aber in der Zeit des Harrens seiner Auferstehung vorausgesandt. Darunter die Aphorismen zur Lebensweisheit, tief gescheit und menschlich, satirisch blendend und gelassen, ihres Namens wert, und jener hintergründige Versuch Über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen, dessen tiefe Blicke eine leuchtende Brücke schlagen vom Stern- und Schicksalsglauben der Antike über Paracelsus zur Ehrfurcht vor dem Unbewußten in der Seelenkunde unserer Zeit.

Nach langem Harren kam der Erfolg, schließlich der Ruhm. Hegels Lehre lag scheintot, gründlicher gestorben war, was Schopenhauer den »jüdischen Theismus« zu nennen liebte: die christlich-monotheistische Biedermeierphilosophie, die Gott-Vaters Offenbarungen immer noch mit den Ansprüchen kritischen Denkens hatte versöhnen wollen – er stellte befriedigt fest: »Die Aktien des alten Juden sinken.« Nach der Enttäuschung der Achtundvierziger-Ideale und gegen den tödlichen Materialismus von Kraft und Stoff gab seine Lehre einer wissenschaftlich entgötterten Welt die tröstliche Metaphysik: zu nichts verpflichtend, keine Rückkehr zu theologischen Idealismen anmutend, auch nicht im Stil des indischen Yoga eine wirkliche Praxis der Ich-Verneinung aufzeigend, spiegelte sie in ihrer rhapsodischen Mystik die Abgründe des Lebens.

In England bemerkte man ihn zuerst, nicht zuletzt wegen seines Schimpfens »Über die Universitätsphilosophie«. Seine Schrift Über die Freiheit des Willens war von der Königlich Norwegischen Sozietät der Wissenschaften zu Drontheim preisgekrönt, in Presse und Schriften regten sich Anhänger, mit Briefen und Besuchen fand sich ein Kreis von »Jüngern« zusammen, wer unter ihnen für ihn stritt, erhielt den Rang des »Apostels«. Gierig verfolgte er, was um ihn geschah. Bekümmert, ihm könne manches entgehen, genoß er den wachsenden Ruhm. Lange verkannt, war er sich als der »Kaspar Hauser« der deutschen Philosophie erschienen; nun genoß er sich als ihr »steinerner Gast«, der den Unfug ihres Betriebes das verdiente Gericht brachte, schließlich fühlte er sich als ihr »Kaiser«. Seine großartigste Auswirkung entging ihm: eine Einladung von Richard Wagners Kreis nach Zürich lockte ihn nicht aus dem Bau, die Dichtung des Ringes in »süperbem« Privatdruck 1854 »aus Verehrung und Dankbarkeit« ihm dargebracht, hat ihm nichts besagt. Porträts verbreiteten sein Bild, eine Großnichte des Marschalls Ney schuf seine Büste und rührte mit dem Zauber ihrer Jugend ans Herz des Greises, Neuauflagen seiner Schriften kündeten wachsende Geltung, eine Gesamtausgabe stand als Krönung des Lebenswerkes bevor. Er sah dem allem anerkennend zu, nickte das Leben ermutigend an, so fortzufahren, da nahm – »und Tod hat seinen Tag« – ein Lungenschlag den Zweiundsiebzigjährigen am 21. September 1860 gnädig schnell hinweg, sein Dämon meinte es am Ende mit ihm gut.

Die geheimnisvoll-beziehungsreiche Art, mit der Goethe Vordergründe und Tiefen seines vielräumigen Daseins zu höherem Einklang gediehen, die magische Kraft seiner Gebärde, was er der Welt gab und entnahm, ins Sinnbildliche zu sich heraufzuheben, war Schopenhauer versagt – auch jene schmalere, strahlende Geschlossenheit von Werk und Haltung, Sein und Leisten, die Schiller und Beethoven die Aura kämpfender Engel schenkt. Er wußte es selbst am besten, wie so vieles. »Ich habe wohl ergründet und gelehrt, was ein Heiliger sei, aber ich habe nie gesagt, daß ich einer wäre.« Diese Kluft zwischen Lehre und Leben trennt ihn vom indischen Ideal des Lehrers, dessen Wort nur so weit Gewicht hat, wie es sich in seiner täglichen Gebärde spiegelt. Schopenhauer saß auf seinem Kanapee unter den Bildern seiner Pudel und sagte mit einem innigen Blick auf eine Buddhafigur, die er sich hatte vergolden lassen: »Wir Buddhisten ...«, und seine kontemplative Nähe zum Nirwana war dabei so echt wie seine Besitzerfreude. Aber demselben Jünger, der ergriffen lauschte, als er vom Buddha sprach, lachte er ins Gesicht, als er darauf kam, Schopenhauer habe einst in Italien als Welt- und Frauenverächter gegolten ... »Ich damals die Welt von mir stoßen«, rief er aus und warf sich lachend ins Kanapee zurück, »in einem Alter von dreißig Jahren, wo das Leben mich anlachte! Und was die Weiber betrifft, so war ich diesen sehr gewogen – hätten sie mich nur haben wollen.«

Fichte ist als patriotischer Redner ins Gedächtnis der Nation gedrungen, Hegel öffnet seine Welt nur Köpfen, die den Flug seines Denkens zu lernen vermögen, Schelling verschwimmt im Dämmer seiner Tiefe – Schopenhauer aber prägte mit Künstlerkraft den Typ des Philosophen für die Vorstellung einer Welt, die selbst nicht zu philosophieren vermochte, aber, weil sie nicht mehr beten konnte, der Idee des Philosophen bedurfte. »Exit Philosophia, intrat Philosophus« hat ein Hegelkenner zu seiner Erscheinung bemerkt. Wie es Schopenhauer nicht gegeben war, eine Zeile Hegel zu verstehen, schuf er Philosophie für solche, die nicht wissen, was philosophisches Denken zu sein vermag, die vielmehr mit den schicksalshaft-beiläufigen Vorgängen ihres Hirns und Herzens den möglichen Umkreis denkender Vertiefung ziemlich abgeschritten wähnen. Dabei aber hat er als letzter des romantischen Titanengeschlechtes die Gebärde des philosophischen Menschen noch einmal für die Welt gestaltet und sie damit verzaubert. Neben ihm sank Philosophie ins Professorale, zünftig Beamtete ab, das sich selber wichtiger blieb als es der Welt werden konnte; er aber schlug die schwindelnde Brücke von Kathederscholastik zu magischer Existenz, hob als erster Philosophie ihrer schillernden Möglichkeit aller Verführungen entgegen: dem magischen Essayismus Nietzsches, der Drachensaat entfesselter Subjektivität und schillernder Rhetorik, allen Zaubereien mit Geistern und Dämonen.

Hegel hat den Staat vergottet, andere lehrten an seinen Krippen, was dem Staat ersprießlich oder harmlos dünken konnte – Schopenhauer erneuerte den Typ des trotzigen Neinsagers. Freilich war er kein Diogenes in der Tonne, rentengepanzert saß er auf seinem Kanapee und an der Wirtstafel des »Englischen Hofes«. Aber »seht ihn nur an, niemanden war er untenan«, rief Nietzsche aus seiner siebenten Einsamkeit Zarathustras über ihn. In seiner halkyonischen Begegnung mit Dionysos, hoch über Zeit und Raum, sah Nietzsche in Schopenhauer seinesgleichen, wie er in seiner Jugend, ihn als Erzieher feiernd, sein Bild nach den eigenen Zügen geformt hatte. Wohin man an der schicksalsvollsten Erscheinung im Geisterraum des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wohin man an Nietzsches Lebenswerk blickt, trifft man Schopenhauer im Untergrund: die Überwindung des europäischen »Nihilismus« durch die Bejahung der »ewigen Wiederkunft« im tragischen Pathos des dionysischen Übermenschen ist die Antwort auf die »Verneinung des Willens zum Dasein«. Das »trunkene Lied« mit seinem »Weh spricht: vergeh! – doch alle Lust will Ewigkeit« spiegelt die Überwindung der Einweihung in die Abgründigkeit der entgötterten Welt, die Nietzsche an der Schwelle des Lebens von Schopenhauer empfangen hatte.

Von Hegel läuft eine Schicksalslinie zu den entscheidenden Umbrüchen im Leben europäischer Völker seit dem Weltkrieg, zu Revolutionen, die unter entgegengesetzten Vorzeichen die göttliche Allmacht des Staates, die Vergottung des souveränen Volkes als Quelle seiner Kräfte an die Spitze aller Werte stellen; eine andere Linie geht von Schopenhauer über Wagners nordischen Mythos, über Nietzsches »Antichrist« und »blonde Bestie«, über seinen »Willen zur Macht« und die »Umwertung aller Werte« zur neuen Psychologie der Triebe und des Unbewußten und über Klages und George zur Mythologie des 20. Jahrhunderts; und beide Linien verschlingen sich zur Hieroglyphe der Gegenwart. Hegel und Schopenhauer, einander fremd und verständnislos, sind die Hüter der Schwelle, die fackelschwingenden Genien zu beiden Seiten des Eingangs zum Stählernen Weltalter: einander abgekehrte Masken, ergänzen sie sich zu einem doppelgesichtigen Janushaupt.


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