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2

Betretenes Schweigen folgte dieser Mitteilung.

»Es war der Mörder!« sagte Muratow nach einer Weile beherrscht. »Ich nehme an, daß Sie dies ganz genau wissen?«

»Ganz genau!« nickte Nuber. »Vielleicht sind Sie so gut und schreiben mir gleich ein bißchen auf, wie der Verbrecher aussah. Ich verspreche mir allerdings nicht viel von einem Steckbrief, aber es ist vorläufig die einzige Spur, die wir verfolgen können. Alles andere sind Mutmaßungen.«

Muratow zog sein Notizbuch hervor und begann zu schreiben. Ohne den Kopf zu heben, fragte er beiläufig: »Ist es eine Tat der ›Unbarmherzigen‹?«

»Vermutlich«, entgegnete Nuber gleichmütig. Dann wandte er sich an seinen Vorgesetzten: »Herr Halle, ich habe vorläufig die Untersuchung abgebrochen. Die Tür ist bereits versiegelt. Wir können heim und noch ein paar Stunden schlafen.«

»Sehr richtig!« meinte Halle und erhob sich erleichtert aufatmend. Muratow reichte seinem Kollegen den engbeschriebenen Zettel und machte sich ebenfalls auf den Heimweg. Vor dem Tore trennten sich die Herren, aber während Halle und Muratow auf kürzestem Wege nach Hause eilten, schien Nuber im Gegensatz zu seinen eigenen Worten durchaus nicht an Schlaf zu denken. Er suchte verschiedene verrufene Nachtlokale und berüchtigte Kaschemmen auf, stellte hier und dort merkwürdige Fragen, die nur ungern und widerwillig beantwortet wurden, verbrachte mehrere Stunden auf den Bahnhöfen und inspizierte einige Hotels.

Es war bereits vier Uhr nachmittags, als er sich, frisch gewaschen und gekämmt, in rosigster Stimmung auf dem Kriminalamt einfand.

»Wo stecken Sie denn so lange?« empfing ihn Halle grollend. »Ich dachte erst, Sie hätten es einfach verschlafen, aber auf meinen Anruf teilte mir Ihr Diener mit, Sie wären seit zwei Uhr nachts nicht mehr zu Hause gewesen.«

»Ich habe mir einige Nachtlokale angesehen«, antwortete Nuber sachlich.

»Nachtlokale angesehen?! Sie glauben wohl, daß ein Mörder nichts Eiligeres zu tun hat, als in ein Nachtlokal zu gehen?« stichelte Halle.

»Das nicht«, widersprach Nuber und lächelte still vor sich hin. »Aber der Ermordete – Inspektor Olbrig verkehrte häufig in derartigen Kaschemmen.«

Halle zwinkerte ungläubig mit den kurzsichtigen Augen.

»Inspektor Olbrig? Undenkbar!«

»Es ist so!« sagte Nuber mit einem gleichmütigen Kopfnicken und beugte sich über die eingelaufenen Briefe.

Nach einer Weile erhob sich Halle schwerfällig von seinem Sitz.

»Passen Sie mal auf, Nuber, ich möchte Sie heute gleich mit Herrn von Gorny bekannt machen. Sie erinnern sich doch ...«

»Ach, Sie meinen den Agenten der englischen Regierung?«

»Ja. Er kommt heute um fünf Uhr hier an, und ich habe ihn in meine Wohnung bestellt. Am besten, Sie kommen gleich mit. Sind Sie fertig?«

Nuber nickte zustimmend.

»Gut, ich gehe gleich mit.« Er sperrte einige Briefe in seinen Schreibtisch, steckte den Schlüssel in die Tasche und trat gemeinsam mit Halle auf die Straße. –

»Ein Herr ist vor einigen Minuten hier gewesen«, meldete die Haushälterin Halles, als die beiden in dessen Wohnung anlangten. »Er kommt in einer halben Stunde wieder.«

»Schon recht, danke«, sagte der Oberinspektor und warf einen prüfenden Blick auf die Karte des Besuchers. »Er ist es!« wandte er sich sogleich lebhaft an seinen Begleiter. »Bitte, treten Sie näher!«

Die Herren machten es sich im eleganten Arbeitszimmer des Oberinspektors bequem.

»Nun werden wir diesen Herrn von Gorny gleich kennenlernen«, sagte Halle bedächtig. »Ich bin wirklich gespannt. In England soll er ganz Hervorragendes geleistet haben. Seine Arbeitsmethoden sind allerdings sehr gefährlicher Art ...«

»Nicht nur gefährlich«, unterbrach ihn Nuber mit leiser Stimme. »Sie sind auch sehr unschön.«

»Unschön?« Halle zuckte die Achseln. »Was heißt ›unschön‹? Es hat zu jeder Zeit und vor allem in jedem Kriege Spione gegeben. Warum wollen wir Verbrechern gegenüber rücksichtsvoller sein, als wir es im Kriege ehrlichen Menschen gegenüber zu sein pflegen? Nein, ich schätze diesen von Gorny! Das muß ich schon sagen! Wissen Sie ... Halt! Was sehe ich da?!«

Halle stand schnell auf und trat an die Tür.

»Ein Schirm? Aha! Von Gorny hat hier seinen Schirm stehen gelassen!« Er hob den Schirm auf und hielt ihn nahe an seine Augen. »Dieser zurückgelassene Schirm kann uns allerhand Aufschlüsse über Charakter und Äußeres von Gornys geben ...«

»Streng nach Conan Doyle«, meinte Nuber mit leisem Spott.

»Jawohl, streng nach Conan Doyle!« rief Halle hitzig. »Jeder hat eben seine besonderen Arbeitsmethoden. Und die meine ist sicherlich nicht der schlechtesten eine. Nur der Erfolg entscheidet! Finden Sie nicht auch?«

Nuber schwieg hartnäckig.

»Stellen Sie sich doch mal vor«, ereiferte sich Halle, »von Gorny hätte hier ein Verbrechen begangen und dabei seinen Schirm liegen gelassen. Das wäre ...«

»Ein Verbrecher, der Ohrfeigen verdient!« warf Nuber gelassen ein.

»Ach«, rief Halle ärgerlich, »ich führe dies doch nur als Beispiel an. Was würden Sie in einem solchen Falle tun? Selbstverständlich zunächst die Marke des Schirmes feststellen und dann bei dem betreffenden Schirmgeschäft vergeblich eine Beschreibung des längst vergessenen Käufers zu erlangen suchen. Ich aber würde, ohne mich viel um die Schirmmarke zu kümmern, auf Grund kleiner, winziger Anzeichen sofort einen Steckbrief hinter dem Täter loslassen. Passen Sie auf! Ich habe von Gorny nie gesehen, aber ich weiß schon jetzt genau, wie er aussieht!«

»Haben Sie ein Lichtbild von ihm?« erkundigte sich Nuber, ohne eine Miene zu verziehen.

Halle strafte ihn mit einem verächtlichen Lächeln.

»Der Schirm hier ist sein Lichtbild!« erklärte er nachdrücklich. »Der Mann hat langes, wallendes, blondes Haar, ist klein von Wuchs ... Das ist klar! Sein Körper ist klotzig, unförmig, man möchte fast meinen, daß unser Mann leidend ist. Sein Charakter ist nicht gerade angenehm. Er ist nachlässig, geradezu schlampig. Außerdem ein ganz sparsamer, wir können ruhig behaupten – knickeriger Mensch. Seine Kleidung entspricht gerade noch den Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft. So, genügt Ihnen das zunächst? Bei näherer Untersuchung könnte man natürlich ...«

»Danke, danke! Es genügt vollkommen! Ich möchte nur wissen, woher Sie diese Kenntnisse haben?«

»Sehen Sie!« meinte Halle erfreut. »Das sind eben die logischen Schlüsse! Ich finde zum Beispiel ein langes blondes Haar am Schirm. Das ist einfach. Der Schluß ist zwingend! Ich finde ein Zigarrendeckblatt. Was sagt mir dies? Daß unser Mann raucht? Gewiß. Es sagt aber noch viel mehr! Ich selbst bin Zigarrenraucher. Erkenne an dem Deckblatt die billige Qualität der Zigarre. Ein weiterer Schluß – der Mann ist knickerig!«

»Oder arm!« meinte Nuber.

»Habe ich auch erwogen. Aber der Schirm selbst ist teuer gewesen ... Den Wuchs unseres Mannes festzustellen, ist sehr einfach. Ich stemme mich auf den Schirm. Er paßt ausgezeichnet zu meinem Wuchs. Ich bin klein, folglich ist von Gorny auch klein. Der Schirm weist eine Krümmung auf. Folglich ist sein Besitzer schwer oder leidend, denn er hat die Gepflogenheit, sich auf den Schirm zu stützen. Zwei Fettflecken endlich beweisen, daß von Gorny nachlässig und schlampig ist.«

»Gestatten, von Gorny!« sagte plötzlich eine angenehm klingende Stimme hinter ihnen. »Die Herren scheinen mein Klopfen überhört zu haben.«

Halle wandte sich rasch um. Sprachlos starrte er die Erscheinung des Ankömmlings an.

Vor ihm stand im elegant sitzenden Sakkoanzug ein etwa dreißigjähriger junger Mann. Sein Äußeres entsprach nicht im entferntesten den Vermutungen Halles. Sein kurzes, schwarzes, glattgescheiteltes Haar, seine energischen Gesichtszüge, sein schlanker, sehniger Körperbau und nicht zuletzt die geschmackvolle moderne Kleidung standen in krassem Widerspruch zu Halles Prophezeiungen.

Nuber schien dieser Umstand viel Vergnügen zu bereiten. Angelegentlich besah er seine Fingerspitzen, und um seine Mundwinkel zuckte es verdächtig.

Halle schluckte seinen Ärger mühsam hinunter.

»Ah, da sind Sie ja schon, Herr von Gorny!« rief er lärmend, bemüht, seine Enttäuschung zu verbergen. Er machte die Herren miteinander bekannt und forderte den Besucher mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen. Die Unterhaltung drehte sich anfangs um die Reise des Engländers und andere belanglose Fragen. Von Gorny plauderte harmlos und unbefangen, immer ein freundliches Lächeln auf den Lippen, und hatte sich schon nach einer knappen Viertelstunde das Wohlwollen Halles gesichert.

»Wir werden uns schon verstehen«, meinte der Oberinspektor heiter. »Hoffentlich können wir gut zusammenarbeiten.«

»Das ist mein innigster Wunsch«, äußerte von Gorny höflich.

»Hier, unser Herr Nuber«, fuhr Halle lebhaft fort, »ist auserkoren, mit Ihnen gemeinsam zu wirken. Es würde mich freuen, wenn Sie hier dieselben Ergebnisse wie in London erzielen, Herr von Gorny!«

»Warum nicht? Ich hoffe es zuversichtlich. In London haben wir unter den ›Unbarmherzigen‹ ziemlich aufgeräumt. Nur die aus Berlin ständig nachrückenden Verstärkungen hinderten uns, ein Ende mit dem Gesindel zu machen. Nun wollen wir gemeinsam den Herd dieser Bande, der sich zweifellos in Berlin befindet, ausfindig machen.«

»Entschuldigen Sie, bitte«, mischte sich jetzt Nuber in das Gespräch. »Ich sehe da nicht ganz klar. Meines Erachtens werden die Unbarmherzigen Sie jetzt für einen Verräter halten und Sie bei der ersten Gelegenheit kaltmachen.«

Von Gorny lachte unbekümmert.

»Nein, Herr Kollege! Die Unbarmherzigen wissen es und sind mit meinem Erscheinen in Berlin sehr einverstanden. Sie glauben nämlich, daß ich beim Londoner Kriminalamt kompromittiert bin und dort kaum noch etwas nützen kann. Ich soll meine angeblich fingierte Tätigkeit als Agent des Kriminalamtes nun hier ausüben, wo man mir, wie die Brüder hoffen, mehr Vertrauen entgegenbringen wird als in London.«

»Ich verstehe«, sagte Nuber langsam. »Ja, jetzt verstehe ich ...« Seine Augenbrauen waren zusammengezogen, was seinem Gesicht einen strengen, finsteren Ausdruck verlieh.

»Was ist mit Ihnen heute nur los!« brauste Halle auf, dem das Benehmen seines Untergebenen taktlos erschien.

»Ich habe eben eine logische Gedankenkette, streng nach Conan Doyle, geschmiedet«, meinte Nuber kühl. »Ich glaube, sie hat keinen Fehler.«

Halle lachte gezwungen.

»Na, ja ...« sagte er verlegen, ohne auf Nubers Worte einzugehen und erhob sich schwerfällig. »Bitte, Herr von Gorny, seien Sie morgen um acht Uhr im Amt. Sie können dann gleich mit Ihrer gefährlichen Arbeit beginnen. Heute werden Sie gewiß noch Privates zu erledigen haben. Ich will Sie jedenfalls nicht länger aufhalten.«

»Sehr liebenswürdig, danke! Aber in der Tat – ich habe heute noch zu tun.« Von Gorny verabschiedete sich durch zwei gemessene Verbeugungen und schritt zur Tür.

»Ihr Schirm, Herr von Gorny! Vergessen Sie Ihren Schirm nicht!« rief ihm Halle nach.

Der andere wandte sich an der Tür um.

»Meinen Schirm?« meinte er verwundert. »Aber ich habe doch noch nie einen Schirm besessen!«

»So, so ...« war alles, was Halle zunächst antworten konnte. Von Gorny schloß kopfschüttelnd die Tür.

Nuber räusperte sich vernehmlich.

»Pech, nicht wahr?« meinte er.

»Wie kommt der Schirm hierher? Wem gehört er?« fuhr Halle die inzwischen herbeigeklingelte Haushälterin heftig an.

Die Haushälterin griff nach dem Streitobjekt, schob es mit einem energischen Ruck unter den Arm und wandte sich zum Gehen.

»Was weiß ich, wie der hierherkommt?« rief sie ärgerlich. »Und wem er gehört? Wem wird er schon gehören! Ihnen, natürlich!«

Die Tür fiel krachend ins Schloß. Halle stand da, wie zur Bildsäule erstarrt. Nuber aber lächelte boshaft.

Es dauerte jedoch nicht lange, bis sich Halle wieder gefaßt hatte.

»Ein Denkfehler«, brummte er, »sonst nichts! Natürlich – ein Glied der Kette war falsch ...«

»Das erste – glaube ich!«

»Nun ja – das erste«, gab Halle widerwillig zu. »Wenn jemand gerade einen Raum verlassen hat, und man findet dort gleich darauf einen Schirm, so muß er nicht unbedingt diesem ›Jemand‹ gehören. Das stimmt. Aber, Herr Nuber, Sie werden selbst zugeben müssen, daß ich im allgemeinen recht habe. Meine logischen Gedankenketten werden noch so manchem Verbrecher zum Verhängnis werden. Verlassen Sie sich darauf!«

Nuber schien nicht ganz überzeugt zu sein.


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