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»Nun, Herr Fleischer, ich glaube, Sie sind jetzt über Ihre neuen Aufgaben genügend unterrichtet«, sagte Nuber nach zweistündiger Beratung.
Fleischer starrte sinnend in die vor ihm ausgebreiteten Akten.
»Augenblick noch!« meinte er nachdenklich. »Ist Ihnen noch nie der Gedanke gekommen, daß diese Diebesbande mit den sogenannten Unbarmherzigen identisch sein könnte?«
Nuber lächelte.
»Ganz meine Meinung, Kollege! Doch fehlt eigentlich zu einer solchen Annahme noch jeder Anhaltspunkt. Ich bin übrigens gerade damit beschäftigt, die Zusammengehörigkeit dieser beiden Banden zu beweisen.«
»Ist das so schwer?«
»Sehr schwer! Es ist unzweifelhaft, daß, wenn hier überhaupt ein Zusammenhang besteht, er ein sehr loser sein muß. Ich denke mir das etwa so, daß die Diebesbande den Unbarmherzigen untergeordnet ist, im übrigen aber ganz selbständig arbeitet.«
»Der Gedanke hat einiges für sich. Übrigens – diese Unbarmherzigen! Verfolgen die eigentlich ein bestimmtes Ziel, oder ist gemeinsamer Raub und Plünderung alles, was sie bezwecken?«
»Oh, nein. Sie verfolgen einen ganz anderen Zweck! Das hat mir einmal Inspektor Olbrig auseinandergesetzt. Die Unbarmherzigen streben nach Macht. Alles, was sie jetzt tun, soll lediglich die Vorbereitung zum entscheidenden Schlag sein. Denn dazu brauchen sie viel Geld! Es scheint ihnen etwas ähnliches vorzuschweben, wie die Kamorra im vorigen Jahrhundert. Also eine Machtstellung, mit der jeder Bürger, ja sogar die Polizei zu rechnen hätte.«
»Sie scheinen ja schon allerhand zu wissen«, sagte Fleischer grübelnd und legte seine Zigarre auf den Aschenbecher. Dann goß er aus einem Glas vorsichtig ein paar Tropfen Wasser darauf, so daß die Zigarre zischend erlosch.
»Hm ...« brummte Nuber plötzlich. »Das hätten Sie nicht tun sollen!«
Fleischer blickte überrascht auf.
»Wie meinen Sie? Ach so ... Aber warum denn nicht?«
»Weil Sie dadurch Ihren Posten verlieren werden«, erklärte Nuber und lächelte geheimnisvoll.
Der andere machte ein dummes Gesicht.
»Soll das ein Scherz sein?« meinte er stirnrunzelnd.
»Der Herr bewahre mich davor, mit solch' heiligen Dingen, wie es die Beamtenlaufbahn eines Kriminalinspektors ist, Scherz zu treiben!« entgegnete Nuber gleichmütig und hatte es plötzlich sehr eilig.
Kopfschüttelnd blickte ihm Fleischer nach.
»Bei dem rappelt's wohl!« murmelte er ärgerlich und brannte sich eine neue Zigarre an.
*
Nuber durchquerte einige Straßen und blieb endlich vor einem Gasthaus stehen. Es war ein berüchtigtes Haus, das seinem Namen »Friedliche Klause« noch nie Ehre gemacht hatte. Fast jede Nacht gab es wüste Schlägereien, die nicht selten einen blutigen Ausgang nahmen. Aber die Polizei drückte immer wieder ein Auge zu und ließ den Inhaber der »Friedlichen Klause« ungeschoren. Jeder Polizist wußte auch, warum die Polizei gerade hier von einer ungewohnten Nachsicht beseelt schien. Aber auch die Verbrecher wußten nur zu gut, daß dieses Haus eigentlich nichts anderes für sie war als eine große Mausefalle. Dennoch kamen sie, denn es gab in Berlin nur wenige Häuser, wo die schweren Jungen sicher sein konnten, eine Menge ihresgleichen zu treffen, und die anderen Häuser waren der Polizei ebenfalls gut bekannt.
»Ist er noch drin?« wandte sich Nuber an einen Mann, der die Auslagen eines Sarggeschäftes in Augenschein nahm. Beim Anblick Nubers wandte er sich hastig um.
»Jawohl. Er trinkt. Aber nicht übermäßig. Hat wohl kein Pulver!«
»'s ist gut!« sagte der Inspektor. »Sie können jetzt gehen. Ich werde selbst weiterbeobachten.«
Nuber mochte etwa eine halbe Stunde Posten gestanden haben, als er einen ärmlich, aber nicht unsauber gekleideten Mann aus der »Friedlichen Klause« herauskommen sah. Unbemerkt folgte ihm der Beamte. Der Mann schien sich plan- und ziellos in den Straßen herumzutreiben. In dem Augenblick, als er seine Hand in der Tasche einer ältlichen Dame verschwinden ließ, packte ihn Nuber hart beim Arm.
»Aber Küster, wir werden doch nicht?!« Im Gegensatz zu dem festen Griff klangen die Worte sehr gutmütig.
Der Angesprochene riß die Hand zurück, wie wenn er feuriges Eisen berührt hätte. Erschrocken starrte er seinen Häscher an. Gleich darauf aber erhellte sich sein pockennarbiges Gesicht.
»Habe die Ehre, Inspektor! Das ist aber nett von Ihnen!« Er war dem Beamten wirklich dankbar, denn Nuber hätte nur um wenige Sekunden später zugreifen brauchen, und kein noch so geriebener Anwalt hätte Küster vor seinem vierzehnten Aufenthalt im Gefängnis zu retten vermocht. Nuber lächelte harmlos.
»Was treiben Sie jetzt, Küster? Ich höre, Sie sind schon ganze drei Tage in Freiheit!«
»Was ich treibe? Hm ... Ja ... Ich arbeite. Sie haben mich eben bei der Arbeit beobachten können.«
Sogar der stets gleichmütige Nuber war verblüfft über diese Unverfrorenheit.
»Tja!« fuhr Küster unbekümmert fort, nachdem er sich durch einen raschen Blick vergewissert hatte, daß sich sein vorgemerktes Opfer, die ältliche Dame, bereits außer Sehweite befand. »Ich verteile Traktätchen. Von der Heilsarmee! Wir machen das jetzt heimlich. Die Leute ahnen nichts, kommen heim, stecken die Hand in die Tasche, und – siehe da – eine Himmelsbotschaft!«
»Das ist fabelhaft!« rief Nuber fröhlich. »Geben Sie mir doch auch mal eine solche Himmelsbotschaft!«
Küster legte sein Gesicht in schmerzliche Falten.
»Das ist aber schade! Gerade habe ich die letzte weggegeben. Aber vielleicht kann ich sonst mit etwas dienen, Inspektor?«
»Kaum«, entgegnete Nuber mit einem leisen Augenzwinkern. »Ich brauche jemand, der vorgestern zwischen sechs und acht Uhr im ›Tollen Schiff‹ gewesen ist. Aber Sie waren natürlich nicht drin?«
Küster schien angestrengt nachzudenken. Plötzlich blickte er entschlossen auf.
»Für gewöhnlich erinnere ich mich nicht daran, was ich vor zwei Tagen trieb. Habe ein schwaches Gedächtnis, wissen Sie! Aber weil Sie es sind, Inspektor – ja, ich war drin. Weiß auch, was Sie von mir wollen. Kann Ihnen nur sagen, daß er nicht von der Zunft ist, oder aber«, hier dämpfte Küster seine Stimme, »er ist ein ganz großes Tier, das unsereins sonst nicht zu sehen kriegt. Er war maskiert und zwar sehr gut. Nach meiner Meinung hat er das Ding ganz allein gedreht, ohne Helfershelfer.«
Der Kriminalbeamte hatte gespannt zugehört und ihn mit keinem Wort unterbrochen. Erst als der Mann schwieg, erkundigte er sich:
»Wie tat denn Olbrig ihm gegenüber? So 'n bißchen fremd, zurückhaltend?«
»Im Gegenteil! Ich dachte mir so in meinem Innern – da ist wieder mal einer verzinkt worden, und nu versäuft der Judas mit dem Häscher die Silberlinge. Nu aber Schluß, Inspektor! Mehr weiß ich nicht.«
»Noch eins, Küster! Sie sagen, der Mann war maskiert. Würden Sie ihn vielleicht dennoch auf 'nem Bild erkennen?«
»Ich kann mich beherrschen!« rief Küster bestürzt. »Wo denken Sie hin? Die Sache liegt doch so: Sie waren heute nett zu mir – Sie wissen schon, was ich meine – dafür habe ich Ihnen dann ein bißchen was erzählt, ohne zu ahnen, um was es sich dreht. Um Gotteswillen, Inspektor, merken Sie sich das – ohne zu ahnen! Wenn Sie anders berichten, schlagen die Unsrigen mich tot! Die erfahren alles! Wir haben mehrere Leute von uns bei euch ...«
»Ich weiß«, nickte Nuber. Er wollte noch etwas hinzufügen, schwieg aber betroffen. Die Gesichtszüge Küsters hatten sich auffallend verändert, um seine Mundwinkel zuckte es, und die Augen flackerten unstet.
»Sie müssen mir helfen, Inspektor«, preßte er mühsam hervor. »Nehmen Sie mich fest! Verhaften Sie mich! Wir werden beobachtet!«
»Von der Polizei?« fragte Nuber belustigt.
Küsters Blicke waren starr.
»Nein«, sagte er tonlos. »Die Polizei fürchte ich nicht. Die sperrt mich höchstens ein. Es ist ein Unbarmherziger! Nicht umsehen! Das wäre mein Tod! So helfen Sie mir doch! Er hat schon Verdacht geschöpft. Schimpfen Sie! Toben Sie!«
»Unsinn! Ich schimpfe und tobe nie. Das wissen Sie und auch alle anderen Verbrecher! Würde also nur verdächtig wirken. Sprechen Sie nur ruhig so weiter – ein bißchen ängstlich –«
»Was anderes reden! Er kommt!« zischte Küster erregt, dann sagte er plötzlich laut: »Ich verstehe nicht, was Sie von mir wollen! In meinem Leben bin ich noch in keinem ›Tollen Schiff‹ gewesen! Weiß gar nicht, was das sein soll – ›Tolles Schiff‹?! Haben Sie schon mal ein tollgewordenes Schiff gesehen? Ich nicht.«
Der Beamte hörte nur mit halbem Ohre hin. All seine Aufmerksamkeit galt der Gestalt des langsam an ihnen vorüberschlendernden Mannes. Leider konnte Nuber nur seinen Rücken sehen. Die Kleidung machte durchaus keinen ärmlichen Eindruck. Der Kriminalbeamte schätzte den Nerzpelz auf einige tausend Mark. Ein paar Schritte weiter blieb der Mann stehen und winkte einen Wagen heran.
Nuber verabschiedete sich hastig von dem vor Angst bebenden Küster und fuhr dem Wagen nach. Die Fahrt dauerte nicht lange. Vor dem Gebäude der Börse stieg der Herr im Nerzpelz aus und trat ein. Nach einigen Minuten folgte ihm der Detektiv.
»Kennen Sie den Herrn im Pelz?« erkundigte er sich beim Portier.
»Aber selbstverständlich!« versetzte dieser gewichtig. »Das war doch der steinreiche Fabrikant Isheim.«
Nuber war so überrascht, daß er sogar vergaß, dem Portier ein Trinkgeld zu geben. – – –
Eine halbe Stunde darauf saß er dem Bankdirektor Jakobson in dessen Arbeitszimmer gegenüber.
»Womit kann ich Ihnen dienen, mein Herr?« erkundigte sich der Direktor liebenswürdig.
Nuber schien in das Betrachten des Tapetenmusters versunken.
»Notieren Sie bitte einen Auftrag!« sagte er ruhig. »Meine sämtlichen Papiere der Isheim-A.-G. sind sofort bestmöglich zu verkaufen.«
Der Bankier fuhr auf.
»Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf«, meinte er nach kurzem Sinnen, »so tun Sie das nicht! Die Isheim-Aktien haben gerade jetzt einen Tiefstand erreicht, wie er seit langem bei diesem sicheren Papier nicht zu verzeichnen war. Sie notieren heute an der Börse mit 108. Ich bin überzeugt, daß sie binnen wenigen Tagen ihren früheren Stand mit 122 wieder erreichen und behaupten werden.«
»Sie sind davon überzeugt. Ich nicht!« sagte Nuber kühl.
»Erlauben Sie, mein Herr!« ereiferte sich der Direktor. »Sie sind ein Laie und können das nicht so beurteilen. Als Fachmann sieht man da klarer. Sie kauften auf meinen Rat vor einigen Jahren für insgesamt 100 000 Mark Isheim-Aktien. Damals notierten sie nur 97. Warten Sie mal!« Er nahm einen Bleistift vom Tisch und warf schnell einige Zahlen auf ein Blatt Papier. »Seit einem Jahr notieren diese Aktien, abgesehen von kleinen Schwankungen, immer um 120 herum. Wenn Sie heute verkaufen, erzielen Sie rund 111 000 Mark. Es entgeht Ihnen demnach ein sicherer Gewinn von 12 000 Mark.
»Sei es!« entgegnete Nuber gelassen. »Ich bin Ihnen natürlich für Ihren Rat dankbar, aber es bleibt bei dem Auftrag.«
Der Direktor zuckte die Achseln.
»Ich nehme an, daß Sie dringend bares Geld brauchen. Einen andern, halbwegs vernünftigen Grund für ein solch überstürztes Abstoßen eines so guten Papiers gibt es nicht!«
»Vielleicht doch!« Nuber erhob sich zum Abschied. »Aber nehmen Sie ruhig an, ich benötige für 111 000 Mark bares Geld.«
»Wie Sie wünschen«, sagte der Bankier und reichte dem Kriminalbeamten ein Blatt zur Unterschrift.
Als Nuber gegangen war, klingelte er und ließ seinen Prokuristen rufen.
»Schauen Sie mal her, Halbermann«, rief er mit gedämpfter Stimme und zwinkerte vergnügt mit seinen kleinen, förmlich in Fett verquollenen Äuglein.
Der Prokurist zwängte sein Monokel in die Augenhöhle und warf einen Blick auf das Papier. Ein Ausruf des Staunens entfuhr ihm.
»Nanu? Das ist ja großartig! Kommt wie gerufen!«
»Nicht wahr?« Der Direktor streichelte liebevoll sein Doppelkinn. »Ich sehe, Sie haben mich verstanden. Wir führen also den Auftrag nicht aus. In wenigen Tagen ist der frühere Kurs annähernd erreicht. Dann verkaufen wir. Ein Reingewinn von 12 000 Mark! Haben Sie irgendwelche Bedenken?«
»Nein!« antwortete Halbermann bestimmt. »Das Papier ist bombensicher!«
»Gut. Nuber wird aber wohl in drei Tagen Geld verlangen. Machen Sie etwa 50 000 Mark flüssig, auf den Rest wird er eben warten müssen, ich finde schon eine Ausrede. Und dann noch eins – für alle Fälle. Offiziell habe ich Ihnen den Auftrag weitergegeben. Sie haben ihn verlegt und vergessen. Stimmt's?«
»Jawohl!« nickte der andere mit einem breiten Lächeln. »Ganz wie gehabt! Und 40 Prozent Beteiligung am Reingewinn!«
»Sagen wir 33 Prozent!«
»Ausgeschlossen! Warum sollte meine Ehre und Unbestechlichkeit plötzlich so im Kurs gefallen sein?«
Der mächtige Körper des Direktors bebte und wackelte vor Lachen.
»Ihre Ehre? Ha, ha ... Eigentlich eine etwas wurmstichige Ware! Aber gut! Sie sollen Ihre 40 Prozent bekommen! Ganz wie gehabt!«