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22

Seit dem Tage, als Nina erfahren hatte, daß Malmgreen blind war, lebte sie in beständiger Angst und Unruhe. Sie war dem Rate Wang Ho's gefolgt und hatte den Blinden durch nichts merken lassen, daß sie sein Geheimnis kannte. Äußerlich blieb alles beim alten. Nach wie vor saß Malmgreen, in Decken gehüllt, in der Ecke und diktierte in seiner nörgelnden Art unverständliche Briefe. Nach wie vor saß Nina lange Stunden hindurch über ihre Maschine gebeugt und schrieb emsig, mit flinken Fingern, um dann plötzlich, auf sein Zeichen, stumm, ohne Abschiedsgruß zu verschwinden.

Nur in Malmgreens Benehmen Wang Ho gegenüber war eine merkbare Veränderung eingetreten. Trotz seines kurzen Wesens war er zu dem Chinesen früher nie unfreundlich gewesen. Jetzt dagegen behandelte er ihn wie einen Hund. Jedes zweite Wort, das er an ihn richtete, war ein Schimpfwort. Der Chinese ertrug alles mit schier unendlicher Geduld. Nie widersprach er. Nie rechtfertigte er sich. Nur seine Blicke, auf die er, seit Nina Malmgreens Geheimnis kannte, offenbar nicht mehr achtgab, blitzten zuweilen feindlich und böse zu dem Peiniger hinüber.

Nina ahnte die Zusammenhänge. Wo sie sich aufhielt, wo sie auch hinging, immer war der Chinese irgendwo in ihrer Nähe. Er nahm es allem Anschein nach sehr ernst mit seinem Versprechen, sie vor ihren Feinden zu schützen. Kein Wunder, daß Malmgreen ihm zürnte. Früher war Wang Ho auf sein Zeichen immer sogleich zur Stelle gewesen. Jetzt dagegen konnte man zehn zu eins wetten, daß der Chinese auf sein Rufen hin nicht erschien.

Diesen Gedanken hing Nina nach, da sie heute merkwürdigerweise Zeit dazu fand. Entgegen seiner Gewohnheit ließ Malmgreen heute zwischen dem Diktat der einzelnen Briefe längere Pausen eintreten. Augenscheinlich hatte auch er Sorgen. Einzelne Sätze in den Briefen, Sätze, die Nina jetzt halbwegs zu verstehen glaubte, klangen besorgniserregend. Ausdrücke wie »absetzen« und »kaltstellen« kamen viel häufiger vor als früher.

An der Tür klopfte es. Zweimal kurz hintereinander, dann nach einer Weile noch einmal. Wang Ho's Zeichen.

Gleich darauf trat der Chinese ein.

»Ein Herr wünscht meinen Gebieter zu sprechen«, sagte er unterwürfig und fügte einige Worte in chinesischer Sprache hinzu.

»Sie können gehen«, wandte sich Malmgreen an Nina. »Ich brauche Sie heute nicht mehr.«

Wortlos deckte sie die Maschine zu und trat auf den Gang hinaus. Sie mußte durch das Wartezimmer gehen und hatte bereits die Hand auf die Türklinke gelegt, als das Stampfen laufender Füße hinter ihr sie aufhorchen ließ. Erschrocken drehte sie sich um. Sie sah Wang Ho mit allen Zeichen der Verstörtheit auf sie zurennen.

Mit eiserner Faust packte er sie beim Arm und riß sie von der Tür zurück.

»Der Besucher kennt Sie!« zischte er. »Es ist Horn, von der Fortbildungsschule.«

Nina atmete auf.

»Aber das macht doch nichts«, meinte sie verwundert. »Wang Ho, Sie glauben doch selbst nicht, daß diese Kerle noch nichts von meiner Tätigkeit hier wissen.«

»Bestimmt wissen sie das«, nickte der Chinese grimmig. »Ich fürchte auch gar nicht, daß er Sie hier sieht! Aber Sie dürfen ihn nicht sehen, denn er darf nicht erfahren, daß Sie von seinem Erscheinen hier etwas wissen!«

»Jetzt verstehe ich«, sagte Nina leise. »Weiß übrigens Malmgreen schon, daß ich die ›Schlanke‹ bin?«

»Er weiß es seit gestern! Ich glaube, er ist entschlossen, Sie zu vernichten! Sie wissen zu viel ...«

»Hölle und Teufel!« erscholl Malmgreens laute Stimme. »Verdammter Hundesohn, wo steckst du schon wieder?!«

Wang Ho schob Nina hastig hinter einen Vorhang.

»Wenn ich Horn hereingeführt habe, verschwinden Sie!« flüsterte er. »Gehen Sie von hier sofort zu Inspektor Muratow. Es wird Ihnen schon etwas einfallen, um Ihr Erscheinen zu erklären. Ich kann Sie in der nächsten Stunde nicht selbst bewachen. Ich muß wissen, worüber Horn mit ihm spricht.«

Gleich darauf geleitete er den Besucher in Malmgreens Zimmer. Der Blinde schwieg. Erst als der Chinese die Tür ziemlich geräuschvoll hinter sich geschlossen hatte, begann er zu sprechen.

»Ich habe Sie hierher bestellt, weil ich für Sie einen Auftrag habe. Aber davon später. Sagen Sie mir vor allen Dingen – wie kommt es, daß der bewußte Film trotz meiner ausdrücklichen Weisung noch immer vorgeführt wird?«

Horn schien sich recht unbehaglich zu fühlen.

»Gabriel hat mir persönlich den Auftrag gegeben, die Vorführung zu verhindern. Dabei habe ich vier andere Sachen laufen. Ich kann mich nicht zerreißen ... daher ...«

»Sie haben vollkommen recht«, sagte Malmgreen, zur nicht geringen Verwunderung Horns sehr freundlich. »Sagen Sie Gabriel, daß ich Sie von sämtlichen Aufgaben entbunden habe. Er hat andere Leute da, die es machen können. Die Filmsache aber soll er selbst, unter allen Umständen er selbst, erledigen. Ich habe heute einen ausdrücklichen diesbezüglichen Befehl des großen Unbarmherzigen erhalten. Sie selbst aber, Horn, haben sich ganz der Aufgabe zu widmen, die ich Ihnen jetzt geben werde. Verstanden?«

Horn nickte.

»Sie können sich auf mich verlassen!«

»Passen Sie auf!« Unwillkürlich dämpfte der Blinde seine Stimme. »Sie kennen doch den verfluchten Chinesenkerl, der bei mir im Hause ist? Mit dem stimmt etwas nicht. Sie werden ihn beobachten, Schritt für Schritt verfolgen und mir – aber nur mündlich – alles, was Sie erfahren, berichten. Das ist aber nur ein Teil Ihrer Aufgabe. Dieser Kerl hat einen zehnjährigen Bruder. Zufällig hat dieser einiges gehört und gesehen, was weder für seine Ohren noch für seine Augen bestimmt war. Unsere Sache ist hierdurch gefährdet. Sorgen Sie dafür, daß diese Gefahr beseitigt wird. Sie verstehen mich doch?«

»Ich verstehe Sie. Vollkommen.«

»Aber«, fuhr Malmgreen noch leiser, noch eindringlicher fort, »es muß ein ganz einwandfreier Unfall sein. Nicht das geringste darf auf Mord deuten!«

»Das wird schwer sein«, murmelte der andere. »Die Polizei wittert ja jetzt sogar beim Tode aus Altersschwäche einen Mord.«

»Es muß gehen!« Malmgreens Stimme klang hart.

»Es wird gehen!« Horn verneigte sich ehrfurchtsvoll, obwohl er wußte, daß Malmgreen es nicht sehen konnte. »Zwei Tage Zeit! Ist das zuviel?«

»Nein! Aber nach Ablauf dieser Frist muß er tot sein. Bis dahin – auch ihn genau überwachen!«

Plötzlich blickte Malmgreen verstört auf.

»Haben Sie nichts gesehen?« fragte er atemlos. »Ich hörte ein Geräusch!«

Horn wandte sich hastig um. Dann schüttelte er den Kopf.

»Nichts, Herr Malmgreen! Es ist nichts Verdächtiges zu sehen.«

Das Gesicht des Blinden war fahl.

»Eure Augen sind nichts wert!« brummte er wütend. »Ich kann mit meinen Ohren besser sehen als Ihr mit den Augen. Ich sah einen Lauscher! Ich sah, wie er seinen Atem anhielt, ich sah, wie er einen Vorhang fallen ließ, ich sah, wie er davonschlich! Schnell! Seh'n Sie nach, wer es war!«

Horn war aufgesprungen und wandte sich zur Eingangstür.

»Nicht dort!« rief der Blinde unwillig. »Die kleine Tapetentür hinter dem Vorhang links! Sie führt in einen Gang. Die dritte Tür rechter Hand ist Wang Ho's Zimmer. Sehen Sie nach, ob er es war! Wenn ja – stechen Sie ihn sofort nieder! Schnell! Schnell!«

Horn schlich sich zur bezeichneten Tür und riß sie hastig auf. Der Gang war finster und leer. Horn holte seinen Revolver hervor und tastete sich an der rechten Wand entlang. Durch die dritte Tür, die nur angelehnt war, stahl sich ein schwacher Lichtschimmer.

Horn schob vorsichtig den Revolver durch den schmalen Spalt, dann stieß er die Tür langsam, ruckweise auf.

Erleichtert aufatmend blieb er an der Schwelle stehen. Er erblickte eine kleines, aber sauberes Zimmer. Auf einer Matte am Boden lag der Chinese. Neben ihm eine Opiumpfeife. Ein kleines Lämpchen verbreitete ein mattes, gedämpftes Licht. Die Brust des Chinesen hob und senkte sich in regelmäßigen Atemzügen.

Horn trat näher und rüttelte den Schläfer unsanft bei den Schultern.

»Laß mich ...« lallte Wang Ho. »Die Götter ... des mächtigen Reiches der Himmelssöhne ... reden ... Laß sie mit mir reden ...«

»Hm«, brummte Horn nachdenklich. »Scheint ja völlig berauscht zu sein.« Er steckte den Revolver beruhigt wieder in die Tasche und wandte sich zum Gehen.

Plötzlich stutzte er. Rasch bückte er sich und betrachtete aufmerksam die Schuhsohlen des Chinesen. Die Sohle des einen Schuhes war feucht.

Horn richtete sich langsam auf. Seine Blicke hingen wie gebannt an einer kleinen Wasserlache dicht neben der Tür.

Mit einem Ruck warf sich Horn herum. Er blickte jetzt in zwei weitgeöffnete Chinesenaugen. Aus diesen Augen sprach ein unergründlicher Haß.

Horn fuhr erschrocken mit der Hand nach der Tasche. Ehe er jedoch dazu kam, den Revolver zu ziehen, vernahm er schon das Knacken des Bodens. Einem Panther gleich war der Chinese emporgeschnellt, und bevor sein Gegner sich's versah, hatte er ihn bereits angesprungen. Durch die Wucht des Anpralls wurde Horn umgerissen und stürzte nieder. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihn. Dann spürte er nichts mehr.


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