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Es war am folgenden Tage, gegen drei Uhr nachmittags, als Nina in Gedanken versunken der Wohnung Malmgreens zustrebte. Die Vorgänge der letzten Nacht hatten ihr einen heillosen Schrecken eingejagt. Erst jetzt war sie sich der Gefahr, in der sie schwebte, bewußt. Halb aus Not, halb aus Leichtsinn hatte sie sich vor etwa zwei Jahren mit den Unbarmherzigen eingelassen. Viel später erst erfuhr sie, daß es keinerlei Möglichkeit gab, diese Verbindung einmal wieder zu lösen. Heute wußte sie, daß die Brüder jeden Abtrünnigen als Verräter betrachteten und demgemäß mit ihm verfuhren. Wenn Muratow geglaubt hatte, sie durch die neue Stellung von der Notwendigkeit, sich Geld auf ungesetzlichem Wege zu beschaffen, befreien zu können, so war er in einem verhängnisvollen Irrtum befangen gewesen. Nie würden die Brüder sie freigeben!
Sehr gegen ihren Willen führte Nina nun ein Doppelleben. Tagsüber arbeitete sie mit unermüdlichem Fleiß bei Ingenieur Malmgreen, die Abend- und zuweilen auch die Nachtstunden waren dem Dienste der Unbarmherzigen gewidmet. Zwar wurde sie jetzt seltener zu den zweideutigen Unternehmungen herangezogen, aber immer wieder kam es vor, daß sie beim Heimkommen einen Zettel auf dem Tisch fand, der kurze und bündige Befehle enthielt. Und die Aufträge waren jetzt viel gefährlicherer Art.
Die Stunden bei Malmgreen waren ihr eine Erholung. Trotz seines mürrischen, anmaßenden Wesens war ihr der Mann nicht unsympathisch. Das Geheimnisvolle, womit er sich und seine Arbeit umgab, übte auf sie einen seltsamen Reiz aus. Tag für Tag erledigte sie nun schon seine Briefschaften, und doch war es ihr noch nicht gelungen festzustellen, was er eigentlich betrieb. Die Briefe handelten von den verschiedensten Dingen und waren meist so unklar und verworren gehalten, daß Nina nicht umhin konnte, dahinter einen geheimen, verborgenen Sinn zu vermuten. Auch war es auffallend, daß Malmgreen sie nie die Briefe zur Post bringen ließ. Das war und blieb vom ersten Tage an das Amt Wang Ho's.
»Guten Tag, Nina!« sagte plötzlich eine Stimme neben ihr. »Wohin des Weges?«
Nina blickte rasch auf. Vor ihr stand, freudestrahlend, Inspektor Muratow.
»Ich ... ich gehe in den Dienst«, erklärte sie etwas hastig und befangen. »Meine Mittagspause ist zu Ende.«
»Ich werde Sie ein Stückchen begleiten. Sie gestatten doch? Oder sind Sie mir noch böse?«
»Nein«, sagte sie errötend. »Ich habe eingesehen, daß ich im Unrecht war ...«
»Das freut mich aber!« rief er fröhlich. »Hoffentlich sind Sie mit der neuen Stellung zufrieden?«
»Ja, sehr. Ich danke Ihnen auch!«
»Unsinn! Danken ... Übrigens hängt mir heute der Himmel voller Baßgeigen! Ich bin wieder Kriminalbeamter! Können Sie sich denken, wie ich mich freue? Ich habe in den letzten Tagen gemerkt, wie sehr ich meinen Beruf liebe.«
»Ich verstehe aber nicht recht«, murmelte sie verwirrt. »Ich habe Sie damals so verstanden, daß Sie wegmußten, weil Sie sich weigerten, etwas über mich zu erzählen ... Oder irre ich mich?«
»Nein, nein! Sie haben schon recht! Aber nun, nachdem Sie doch jetzt auf tugendhaften Pfaden wandeln, konnte ich es Halle erzählen. Er versprach mir, nichts gegen Sie zu unternehmen. Wenigstens, sofern Sie nicht neuerdings Dummheiten machen. Und das kommt doch gar nicht in Frage!«
»Das kommt nicht in Frage«, wiederholte sie tonlos.
»Seh'n Sie ... Augenblick!« unterbrach er sich und horchte angestrengt auf die Ausrufe einiger Zeitungsverkäufer.
»Weiteres Fallen der Isheim-Aktien! Erklärung der Verwaltung der Isheim A.-G. zu dem Kurssturz! Isheim selbst greift mit Scheinkäufen ein!«
»Donnerwetter!« murmelte Muratow bestürzt.
»Berührt Sie das irgendwie?« erkundigte sich Nina.
»Mich? Nein. Ich habe im Leben noch keine Aktie besessen. Bin ein ganz armer Schlucker. Aber Isheim ist mein Freund ...«
»Das tut mir aber leid«, sagte Nina ohne sonderliche Teilnahme.
Zwei Herren, lebhaft sprechend, überholten sie.
»Heute sanken die Aktien auf 84«, erklärte der eine erregt. »Etwa gegen zehn Uhr kam eine Erklärung der Verwaltung heraus, worin ausdrücklich betont wurde, daß keinerlei Anlaß zu Besorgnissen vorhanden sei. Daraufhin zogen die Papiere etwas an. Standen nach einer Stunde auf 87. Plötzlich begann Isheim selbst zu kaufen. Es ging ruckweise in die Höhe. Man trieb das Papier bis auf 93 hinauf. An der Nachbörse wurde es aber wieder mit 89 gehandelt. Was tun? Kaufen oder verkaufen?«
»Ich würde kaufen«, entgegnete der andere bestimmt.
Muratow seufzte.
»Wenn das nur gut ausgeht ...«
»Jetzt muß ich aber laufen!« sagte Nina nach einem Blick auf die Turmuhr. »Auf Wiedersehen!«
Wenige Minuten später betrat sie eilig Malmgreens Zimmer. Er schien heute besonders mißgestimmt.
»Schreiben Sie«, herrschte er sie ohne jede Vorrede an.
Nina hatte kaum Zeit, Platz zu nehmen, als er schon mit dem Diktat begann:
»An den 7. Kongreß der Kriegsinvalidenvertreter! Zu unserem nicht geringen Erstaunen erfahren wir, daß die Aufführung des unsererseits mißbilligten Films doch zustande gekommen ist. Im Namen des Generalbevollmächtigten teilen wir Ihnen folgendes mit: Ihre Bemühungen in dieser Angelegenheit waren durch eine völlige Unkenntnis der Sachlage gekennzeichnet. Wir ordnen an, daß nunmehr wirksamere Mittel angewandt werden, so daß die Vorführung des Filmes binnen zweimal 24 Stunden endgültig unterbunden wird. Andernfalls wird der 7. Kongreß aufgelöst und sein Leiter Ga. kaltgestellt. – Haben Sie das? Ja? Weiter! – Was die unglücklichen Teilnehmer des ersten, mißlungenen Versuchs betrifft, so ist die Schmidt an dem von ihr gewählten Ort zu belassen, aber unter genauer Beobachtung. Betreffs der ›Schlanken‹ sind Nachforschungen ... Zum Teufel! Warum schreiben Sie denn nicht?!«
Nina saß leichenblaß da und starrte ihn, keines Wortes mächtig, an.
»Nun, was ist?!« donnerte Malmgreen. »Sie wollen wohl Frühstückspause machen?«
»Mein Gott! Mein Gott!« dachte das Mädchen. »Wenn ich doch nur schreiben könnte!« Ihre Finger fuhren unruhig über die Tasten. Vor ihren Augen flimmerte es.
»Gleich! Einen Augenblick! Die Maschine ist nicht ganz in Ordnung.« Ihre Lippen waren trocken. Sie hatte Mühe, die Worte zu formen.
»Maschine nicht in Ordnung!« grollte er. »Wer schreibt auf dieser Maschine? Sie, wenn mich nicht alles täuscht. Sie sind verantwortlich! Die Maschine hat immer in Ordnung zu sein. Immer!«
»Bitte!« preßte Nina hervor. »Ich glaube, jetzt stimmt es wieder.«
»Also!« murrte Malmgreen unzufrieden. »Wo sind wir stehen geblieben? Ja, so ... – sind Nachforschungen anzustellen, ob es sich nicht etwa um Verrat handelt. Der englische Agent ist um seine Meinung zu befragen. Sollten wir mit unseren Vermutungen recht haben, so ist die ›Schlanke‹ im üblichen Verfahren zu beseitigen. Schluß!«
Nina spannte den Bogen aus, spannte ebenso geistesabwesend einen neuen ein. Mit zitternden Fingern und fliegendem Atem schrieb sie weiter. Einen Brief nach dem andern. Lauter unverständliche Dinge. Aber der Inhalt des ersten Briefes wollte ihr nicht aus dem Kopf. Denn diesen hatte sie verstanden. Wort für Wort.
»Was fehlt Ihnen heute?« fragte Wang Ho besorgt, als sie sich nach Beendigung ihrer Arbeit in seinem Teestübchen erschöpft auf eine Matte fallen ließ. »Sie sehen schlecht aus. Sie sollten mehr für Ihre Gesundheit tun. Das Leben ...«
»Wang Ho«, unterbrach ihn Nina plötzlich, »was ist Malmgreen eigentlich?«
Der Chinese blickte erstaunt auf.
»Was er ist?« gab er sinnend zurück. »Er ist vieles. Gut, edel, großmütig ...«
Nina wehrte mit einem matten Lächeln ab.
»Nicht das – meine ich. Von Beruf? Was ist er von Beruf?«
»Oh! Verschiedenes. Zum Beispiel Börsenmakler, Großindustrieller, Schiffsreeder«, zählte der Chinese geläufig auf. »Außerdem noch Ingenieur, Schriftsteller, Altertumsforscher ...«
»Er ist ein Verbrecher!« warf Nina mit müder Stimme ein.
Klirrend fiel eine Tasse auf den Boden. Das gelbe Gesicht des Chinesen nahm einen grauen Schein an. Erschrocken preßte er die Hand an die Lippen. Dann sprang er mit einem Satz an die Tür und lauschte.
»Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, sagen Sie das nicht noch einmal!« flüsterte er endlich.
»Warum?« fragte Nina laut und wunderte sich selbst über ihren Mut. »Wollen Sie mich töten, Wang Ho?«
Der Chinese schüttelte heftig den Kopf.
»Nein! Kränken Sie mich nicht, Miss Holm. Sogar wenn ich Sie töten wollte, könnte ich es doch nicht. Aber sagen Sie mir – Sie dürfen Vertrauen zu mir haben – wie kommen Sie auf die Vermutung, daß er ein Verbrecher ist?«
»Wozu die Komödie, Wang Ho? Sie wußten ganz genau, daß ich es einmal erfahren würde. So vorsichtig Malmgreen auch seine Worte wählt, so dumm ich auch sein mag, aber wenn er in seinen Briefen Aufträge gibt, die mich betreffen ...«
»Wieso? Miss Holm, erklären Sie es mir«, bat der Chinese beinahe demütig.
Nina lächelte verächtlich.
»Wollen Sie vielleicht jetzt noch bestreiten, daß es Ihnen bekannt war, daß auch ich zu der Bande der Unbarmherzigen gehöre? Die ›Schlanke‹ – so nennen sie mich!«
Das Grauen, das sich in den Zügen des Gelben malte, gab ihr die Gewißheit, daß ihm diese Tatsache völlig unbekannt gewesen war. Und plötzlich flammte in ihr ein Hoffnungsschimmer auf. Wenn nun Wang Ho zu ihr hielt? Sie war überzeugt, daß er vieles konnte. Gewiß war dann noch nicht alles verloren. Aber schon seine nächsten Worte raubten ihr wieder die kleine Hoffnung.
»Sie sind die ›Schlanke‹?« wiederholte er atemlos. »Dann ist Ihr Verderben nicht mehr aufzuhalten. Kein Mensch vermag Ihnen mehr zu helfen.«
Nina starrte ihn erschrocken an. Das klang ja noch schlimmer, als sie gefürchtet hatte.
Der Chinese zog aus seinem Gewand eine kleine silberne Uhr.
»Ich gebe Ihnen zwei Stunden Zeit!« sagte er gelassen. »Dann melde ich alles, was ich weiß, meinem Herrn. Es tut mir leid. Aber die ›Schlanke‹ ist eine Verräterin. Ich darf und ich will mit solchen Leuten nichts zu tun haben. Fliehen Sie! Versäumen Sie keine Minute!«
Nina warf noch einmal einen hilfeflehenden Blick auf Wang Ho. Aber das steinerne Antlitz des Chinesen ließ den letzten Hoffnungsschimmer in ihr ersterben. Hastig raffte sie ihre Kleider zusammen und eilte durch den dunklen Gang auf die Straße.
Sie erblickte einen kleinen, etwa zehnjährigen Chinesenjungen, der, tapfer an einer Banane kauend, vor der Kamera eines Liebhaberphotographen still hielt. Das mußte der kleine Bruder Wang Ho's sein, von dem der Chinese ihr schon so viel vorgeschwärmt hatte. Der Photograph rückte ihn etwas beiseite und hob ein wenig seinen Kopf.
»So, mein Kleiner, wenn du jetzt ganz ruhig bist, gebe ich dir nachher noch ein paar Bananen.«
»Ich werde ganz ruhig sein«, sagte der Knabe und lachte übers ganze Gesicht.
Nina warf einen Blick zu den Fenstern Malmgreens. An einem davon waren die Vorhänge etwas verschoben. Sie sah das Gesicht Wang Ho's. Aber es war nicht mehr das steinerne, eisige Antlitz, das sie wenige Sekunden zuvor gesehen hatte. Ein zufriedenes Lächeln stand jetzt in diesem Gesicht. Schmerzlich durchzuckte es Nina. Kein Gedanke Wang Ho's galt ihr und ihrer Not. Nur an seinen kleinen Bruder, auf den er so stolz war, dachte er.
»Achtung! Jetzt ganz still, bitte!« rief der Photograph.
Nina wandte sich um. Ihr Herzschlag stockte. In der nächsten Sekunde sprang sie vor und riß den kleinen Chinesen beiseite. Dann erscholl ein lautes Krachen.
Zitternd, den vor Schreck weinenden Knaben an ihre Brust gepreßt, stand Nina da und betrachtete stumm den schweren Telegraphenmast, der jetzt genau auf der Stelle lag, wo vorhin der Kleine gestanden hatte.
Leute umringten sie. Ihr lautes Schreien, ihre zudringlichen Fragen beunruhigten und verwirrten sie.
»Sie haben ihm das Leben gerettet! Er wäre bestimmt tot! Nein, solch ein Unglück! Und diese Geistesgegenwart! Oh, Gott, Sie bluten ja!«
Es war das letzte, was Nina hörte. Sie fühlte, wie etwas Flüssiges, Warmes und Widerliches ihr von der Stirn herab tropfte, ihr die Augen verklebte. Mit einem Aufstöhnen brach sie zusammen.
*
Als sie die Augen aufschlug, sah sie sich wieder im Teestübchen Wang Ho's. Zu ihren Füßen kauerte der kleine Chinese. Auf ihrer Stirn lag ein kalter Umschlag, und dicht neben ihr stand, einen Eiskübel in der Hand, Wang Ho selbst.
Als er merkte, daß sie zu sich gekommen war, gab er seinem Bruder unmerklich einen Wink. Der Kleine sprang behend auf und lief hinaus.
»Miss Holm«, sagte Wang Ho ernst und feierlich, »Sie haben meinem Bruder das Leben gerettet. Wang Ho's Dankbarkeit kennt keine Grenzen. Sein Leben gehört jetzt Ihnen!«
Nina lächelte schmerzlich.
»Sie werden mir helfen, Wang Ho? Dann bin ich ruhig. Ach, ich fühle mich so schwach. Bin ich verwundet?«
»Der Mast hat Sie nur leicht am Kopf gestreift. Es hätte schlimmer ausfallen können.«
Nina nickte.
»Daß der Mast aber auch gerade auf die Stelle fallen mußte, wo Ihr Bruder stand. Wie seltsam! Welch merkwürdiger Zufall!«
»Meinen Sie?« Die Augen des Chinesen bekamen plötzlich etwas Gläsernes. »Ich glaube nicht, daß dies ein Zufall war«, ergänzte er düster.