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Es war lange Zeit nicht in England allein, sondern auch in Deutschland üblich, von der poetischen Literatur Nordamerikas, wenn ein seltenes Mal auf dieselbe die Rede kam, in äußerst geringschätzigem Tone zu sprechen. Bei der beschränkten Zahl amerikanischer Dichterwerke, die dem deutschen Publikum – sei es im Original oder aus Uebersetzungen – bekannt geworden, stützte sich diese Geringschätzung im Wesentlichen nur auf das mißgünstige Urtheil der englischen Kritik, die noch vor zwanzig Jahren es kaum der Mühe werth hielt, der literarischen Leistungen ihrer Stamm- und Sprachgenossen jenseit des Weltmeeres anders als mit vornehmem Achselzucken zu gedenken. Das höhnische »Wer liest ein amerikanisches Buch?« blieb noch sprichwörtlich, als die amerikanische Poesie bereits längst einen erfolgreichen Wettstreit mit der zeitgenössischen Dichtung des Mutterlandes begonnen hatte, und derselben auf mehr als Einem Gebiete nicht bloß in der Quantität, sondern auch in der Qualität den Rang abzulaufen drohte. Die beträchtliche Zahl amerikanischer Werke, welche im Laufe des letzten Decenniums in England nachgedruckt wurden und die ermuthigendste Aufnahme fanden, lehrt indeß zur Genüge, daß sich jenes abfällige Urtheil dort in jüngster Zeit gründlich geändert hat. Auch in Deutschland wird eine sorgfältigere Beschäftigung mit der amerikanischen Dichtung der Gegenwart ohne Zweifel bald zu der Einsicht führen, daß in der neuen Welt, ueben einer großen Summe mittelmäßiger und abgeschmackter Produktionen, heutigen Tages schon ein reicher Schatz echter Perlen der Poesie aufgespeichert liegt, deren Werth nur der Unverstand verkennen oder herabwürdigen kann.
Es ist für das deutsche Publikum keine leichte Mühe, sich auch nur mit den hervorragendsten Erscheinungen der amerikanischen Poesie vertraut zu machen. Das von Dr. Ludw. Herrig herausgegebene »Handbuch der nordamerikanischen National-Literatur« (Braunschweig, G. Westermann, 1854) enthält zwar eine nicht übel gewählte Sammlung poetischer Musterstücke von älteren Schriftstellern; doch sind die zum Theil höchst bedeutenden, im letzten Vierteljahrhundert zu Ruf und Ansehen gelangten Dichter fast gar nicht berücksichtigt, und selbst Longfellows Hauptwerk gehört schon einer späteren Zeit an. Ob die ziemlich flüchtig zusammengetragene »Cyclopaedia of American Literature« der Brüder Duyckinck (2 Bde., Newyork, Charles Scribner, 1856) eine neue, verbesserte und bis auf die Gegenwart fortgeführte Auflage erlebt hat, ist uns nicht bekannt geworden. Auf jeden Fall aber wüßten wir dem deutschen Leser, der sich einen bequemen und zuverlässigen Ueberblick über die amerikanische Dichtung von der ältesten Zeit bis auf die Gegenwart verschaffen will, keinen geeigneteren Führer, als das Werk Rufus W. Griswolds: »The Poets and Poetry of America«, nebst dem dasselbe ergänzenden Bande »The Femal Poets of America« (Philadelphia, Parry und Mac Millan) zu empfehlen, – nur daß eben die Anschaffung der jüngsten Ausgabe dieses zum Mindesten bei Lebzeiten des Verfassers alljährlich neu aufgelegten und bis zum Moment des Erscheinens vervollständigten Buches wünschenswerth ist. Die mitgetheilten Biographien beruhen sämmtlich auf mit sorgfältigstem Fleiße eingezogenen Erkundigungen, die zahlreichen Proben sind meistens mit ebenso gutem ästhetischen Geschmack wie mit besonderer Rücksicht auf ein prägnantes Hervortreten der dichterischen Individualitäten ausgewählt, und die kritischen Bemerkungen des Verfassers zeugen, wenn auch sein patriotischer Enthusiasmus ihn zuweilen den Kunstwerth dieser oder jener Produktion überschätzen läßt, doch im Ganzen von dem aufrichtigen Streben, ein objektives Bild der charakteristischen Vorzüge und Schwächen jedes einzelnen Genossen dieser imposanten Dichtergilde zu entwerfen.
Was dem Leser bei dem flüchtigsten Blick auf die Griswoldschen oder Duyckinckschen Sammelwerke sofort auffallen muß, ist die außerordentlich große Anzahl von Dichtern und Dichterinnen, welche eine verhältnißmäßig so junge Nation inmitten der gewaltsamsten geschichtlichen Kämpfe und der aufreibendsten materiellen Tagesarbeit in dem kurzen Zeitraume eines einzigen Jahrhunderts erzeugt hat. Ist doch kaum erst ein Säkulum verronnen, seit die Bevölkerung der Vereinigten Staaten sich die politische Unabhängigkeit erstritt und in den Reigen selbständiger Nationen eintrat, unter Bedingungen, wie sie im Laufe der Weltgeschichte zum zweiten Male nie dagewesen, und die Entwicklung poetischer Neigungen anscheinend am wenigsten begünstigen konnten. Galt es doch zunächst, ein buntes Gemisch ringshin über eine endlose Bodenfläche zerstreuter Völkerfragmente anglosächsischer, celtischer, deutscher und romanischer Abkunft zu einer neuen, einheitlichen Nationalität zusammenzuschweißen; vor Allem aber galt es, den Boden selbst urbar zu machen, niebetretene Wälder zu roden, unabsehbare Prairien, die nur dem Büffel als Weideplatz gedient, mit Welschkorn, Reis und Tabak zu bepflanzen, den Thieren des Waldes und den blutdürstigen Indianern die Stätte zur Erbauung der Blockhütte abzuringen, ein Netz von Straßen und Kanälen durch die unwirthliche Wildniß zu graben, um Absatzwege für die Produkte des Ackerbaus zu erlangen – wo konnte sich da Zeit und Gelegenheit bieten, den Sinn auf jene höheren Dinge zu lenken, die von Alters her Sporn und Thema der Dichtung sind? Es versteht sich daher von selbst, daß die Anfänge amerikanischer Poesie im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert geringe Bedeutung haben und sich fast ausnahmslos auf Nachahmungen englischer Vorbilder beschränken. Die Abhängigkeit vom Mutterlande erstreckte sich eben auch auf das geistige Gebiet, und es ist lein bloßer Zufall, daß in Canada sich noch heutigen Tages weder ein ähnlicher Aufschwung des industriellen noch des geistigen Lebens, wie in den Vereinigten Staaten, erblicken läßt. Die reiche Entwicklung der amerikanischen Nationalliteratur beginnt naturgemäß erst in den ersten Decennien des neunzehnten Jahrhunderts, wo Cooper und Irving mit ihren klassischen Prosawerken die Bahn brachen, und in rascher Folge ein glänzender Dichtergenius Nach dem andern mit achtungswerthen Leistungen seinen Namen in das Buch des Ruhmes schrieb. Die Verhältnisse erklären es hinlänglich, daß bei Weitem die überwiegende Mehrzahl der amerikanischen Dichter durch Geburt oder Wohnsitz den großen Seestädten des Nordostens angehört. Die Metropole des amerikanischen Lebens, Newyork, und die Neuenglandstaaten, welche von jeher die Hauptpflanzstätte geistiger Kultur gewesen sind, liefern das ansehnlichste Kontingent, und es ist äußerst selten, daß ein einigermaßen namhafter Poet in den westlichen oder (wie William Gilmore Simms) gar in den südlichen Staaten seinen dauernden Aufenthalt nähme. Die Poesie kann als höchste und edelste Blüthe der Bildung nur der Civilisation entkeimen; rohe Naturvölker, wie die Neger oder Indianer, haben keine poetischen Denkmäler hinterlassen – ihr Angedenken kann höchstens einer späteren Zeit den Stoff zu sagenhaften Dichtungen liefern, wie z. B. Longfellow in seinem »Hiawatha« die Stammessagen der Indianer zu einem epischen Gesammtbilde von originellster Färbung verwoben hat. Es läßt sich daher wohl mit Fug behaupten, daß der ungewöhnlich rasche Aufschwung der amerikanischen Poesie als das vollgültigste Zeugniß einer überaus kräftigen Reaktion des geistigen Lebens gegen den nüchternen, kalten und schönheitslosen Materialismus eines tagtäglich in den rohesten Formen sich austobenden Kampfes um das leibliche Dasein zu betrachten ist. In der Thal zeigen die meisten Schöpfungen der amerikanischen Dichter ein prononcirt idealistisches Gepräge, und die lyrische Wärme, die oft mit melancholischer Trauer verwebte Innigkeit des Gefühls, von welcher sie durchdrungen sind, lassen keinen Zweifel daran aufkommen, daß uns die Verfasser in diesen leidenschaftlichen Ergüssen wirklich die tiefe Sehnsucht ihres Herzens nach einer schönheitsvolleren, gemüthreicheren und geisteserhöhten Gestaltung der Lebensverhältnisse ihrer Heimat offenbaren.
Zuerst stutzen wir freilich, wenn wir beim Durchblättern fast jeder Sammlung amerikanischer Gedichte einer so ausschließlichen Pflege der lyrischen Poesie und so zahlreichen Klagen über die Armuth und Trostlosigkeit des Lebens begegnen. Wir glauben uns zuweilen fast in die überwundene Periode unserer eigenen Weltschmerzliteratur zurückversetzt, und begreifen nicht recht, wie diese schwermüthigen Lenauschen und Heineschen Töne sich ein Echo auf dem jugendlich gesunden Boden der neuen Welt zu erwecken vermocht haben. Es will uns bedünken, das Epos müßte weit eher als die Lyrik in einem Lande gedeihen, das in den abenteuerlichen Entdeckungsfahrten des Columbus und Cortez, in der Besiedelung Neuenglands durch die Puritaner, in den romantischen Kämpfen mit, den Indianern um den Besitz von Wald und Prairie, und vor Allem in dem heldenmüthigen Revolutionskriege, dessen Siegespreis die politische Unabhängigkeit und die nationale Einigung war, eine Fülle von großartigen Stoffen besitzt, die zu epischer Behandlung ganz besonders aufzufordern scheinen. Und wie kommt es, daß ein Volk, dem die Aufgabe gestellt ist, die brennendsten socialen und politischen Fragen, die leidenschaftlichsten Konflikte des menschlichen Lebens, sei es auf friedlichem Wege der Verständigung, sei es unter gewaltsamer Durchhauung des Knotens mit Schwert oder Dolch in tragischem Bruderkampfe, zu lösen, auf jeden Fall aber die Lösung zu suchen – wie kommt es, daß ein solches Volk bis auf den heutigen Tag gänzlich des Dramas entbehrt? So fragen wir anfangs erstaunt, aber es ist nicht schwer, die Antwort zu finden. Das Drama kann nur dort zur Blüthe gelangen, wo über die leitenden Grundsätze der Religion, Politik und Moral eine gewisse Uebereinstimmung der Ansichten herrscht, wo das Band einer gemeinsamen Weltanschauung die überwiegende Mehrzahl der Gebildeten umschlingt, wo der Poet für die von ihm gebotene Lösung der ethischen Konflikte mit einiger Sicherheit auf die Billigung der großen Masse seines Publikums rechnen darf. An solcher Einheit der ethischen Grundlage fehlt es aber bis auf den heutigen Tag überall in Amerika. In keinem anderen Lande der Welt ist die Bevölkerung auf allen Gebieten des Lebens in so zahlreiche, sich schroff gegenüberstehende Parteien zerklüftet wie dort. Neben den hinlänglich unduldsamen Religionsgenossenschaften der alten Welt haben sich im Laufe der Zeit auf dem jungen Boden die abenteuerlichsten neuen religiösen Sekten gebildet, Quäker und Methodisten, Shakers, Mormonen und Bibelkommunisten, einerlei wie sie sich nennen, alle voll Glaubenseifers und alle mehr oder minder überzeugt von der alleinseligmachenden Kraft ihrer Lehre. Nicht minder leidenschaftlich befehden einander die politischen Parteien, Demokraten und Republikaner, Freunde und Gegner der Negersklaverei, deren Abschaffung der Süden dem Norden heute noch nicht verzeihen mag, und bei diesen Kämpfen wird Name, Ruf und Ehre des jeweiligen politischen Gegners so erbarmungslos zerfleischt, als handelte es sich um die öffentliche Darlegung der sittlichen Entrüstung über von ihm verübte todeswürdige Verbrechen. In diesem Wirrwarr von Rohheit und Leidenschaft müßte die Stimme des dramatischen Dichters machtlos verhallen; es ist daher ganz erklärlich, daß die wenigen amerikanischen Schriftsteller, welche sich der Bühne zuwandten und von welchen nur G. H. Boker mit Auszeichnung genannt zu werden verdient, ihre Stoffe nicht der Gegenwart und den Verhältnissen der neuen Welt, sondern meist der abenteuerlichen Romantik des europäischen Mittelalters entnahmen. Nicht viel besser ist es um das Epos bestellt. Was an sagenhaften Elementen aus älterer Zeit vorhanden war, beschränkte sich fast einzig auf die Stammestraditionen und wunderlichen Sitten und Gebräuche der Indianer. Diese Partie des amerikanischen Lebens hat durch die gelehrten Arbeiten Schoolcrafts ihre kulturgeschichtliche Würdigung, durch die Lederstrumpfromane Coopers und durch Longfellows »Hiawatha« ihre poetische Darstellung gefunden. Im Uebrigen aber ist die kurze und ruhmvolle Geschichte der Vereinigten Staaten nach allen Richtungen hin von berufenen Schriftstellern zu rasch und zu gründlich durchforscht und beleuchtet worden, als daß der Poet sich versucht fühlen könnte, mit dem Historiker zu rivalisiren. Es wäre zum Mindesten ein gewagtes Unternehmen, die Heroengestalten des Unabhängigkeitskampfes oder gar die Helden des für die Geschichte der Menschheit ebenso glorreichen, jüngst beendigten Bürgerkrieges zum Thema epischer Behandlung zu wählen, da jeder Leser im Stande und geneigt sein würde, alle Abweichungen von der authentischen Wirklichkeit der Ereignisse einer lästigen Kontrole zu unterwerfen. Longfellow handelte daher verständig genug, als er den Stoff seiner »Evangeline« einer weiter zurückliegenden Zeit und einer Episode des Koloniallebens entnahm, die, weil von minder hervorragender geschichtlicher Bedeutung, in einem gewissen trüben Dämmerlichte lag und der Erfindungsgabe des Dichters freien Spielraum ließ. Sonst wüßten wir von poetischen Erzählungen amerikanischer Dichter keine einzige namhaft zu machen, welche einheimische Stoffe mit Glück und Erfolg poetisch verwerthet hätte. Longfellows »Goldne Legende« ist nur eine Umschreibung unserer altbekannten mittelalterlichen Sage vom »Armen Heinrich«, Lowells »Sir Launfal« eine moderne Behandlung der Gralsmythe, I. R. Drake's »Culprit Fay« eine anmuthige Elfengeschichte, und »Die Glocke des Königs« von Stoddard weist schon durch ihren Titel auf die alte Welt zurück.
Bei genügender Berücksichtigung aller hier angedeuteten Verhältnisse wird es dem deutschen Leser kaum mehr auffällig sein, daß und warum sich in Amerika die lyrische Dichtung einer so vorwiegenden Begünstigung erfreut. Aber auch der elegische Ton, welcher den meisten dieser Produktionen vorwaltet, hat nichts Befremdliches mehr, wenn wir uns die Stellung vergegenwärtigen, welche die Poesie in jenem Lande naturgemäß einnimmt. Sie trägt dort in viel höherem Grade, als in den civilisirten Ländern Europas, den Charakter einer Flucht aus der Rohheit und Barbarei des materiellen Lebens in die reinen Gefilde des Ideals und der Schönheit, Als in Deutschland und Italien der gefesselte Zustand des politischen Lebens wie ein Alpdruck auf den Gemüthern lastete, sahen wir jene Weltschmerzpoesie entstehen, die in den Liedern Heine's, Lenau's, Meißners und Leopardi's einen so düsteren Ausdruck fand. Wie der Dichter der »Reisebilder«, wandten auch Shelley und Byron ihrem Vaterlande unmuthsvoll den Rücken zu, um in freiwilliger Verbannung zürnende Anklagen wider die Stagnation des politischen und socialen Lebens in der Heimat zu schleudern. Bei aller Verschiedenheit im Einzelnen läßt sich doch, der Hauptsache nach, eine verwandte Ursache für die melancholische Färbung der modernen amerikanischen Poesie recht wohl entdecken. Der schwarze Fleck des Institutes der Negersklaverei ist zur Ehre der Menschheit und der Vereinigten Staaten endlich durch die Blutströme des vierjährigen Bürgerkrieges ausgelöscht; aber fast alle besseren der amerikanischen Dichter haben die Schmach dieses Schandflecks auf dem Schilde ihrer Heimat lange Jahre hindurch schmerzlich empfunden, und von ihren schönsten Liedern galten viele der trüben Klage über die Fortdauer dieser ruchlosesten und grausamsten Form der Ausbeutung de« Menschen durch den Menschen. Nicht allein die älteren Dichter, wie Longfellow und Whittier, machten die Leiden des schwarzen Bruders zum Gegenstande herzergreifender Balladen, sondern bis auf die jüngste Zeit herab begegnen wir derartigen Schilderungen, Warnungen und Anklagen, wie u. A. das Gedicht »Mirjams Weh« von Thomas Bailey Aldrich beweisen mag. Aber auch abgesehen von der jetzt, zum Mindesten dem Gesetzesbuchstaben nach, aufgehobenen Negersklaverei, bietet das politische und sociale Leben der Vereinigten Staaten in seiner äußeren Form und Erscheinung dem Dichter nicht viel Erfreuliches dar. Die allgemeine Korruption der politischen Parteien, die heillose Aemterjagd, der schwindelhafte Betrieb des Bank- und Eisenbahnwesens, die gemüthsarme Oberflächlichkeit des geselligen Verkehrs, die puritanisch strenge Sonntagsfeier, der durchgängige Mangel an Kunstsinn und humanistischer Bildung selbst bei den begütertsten Klassen, das unruhige Haschen und Rennen nach materiellem Erwerb, welches unsere Zeit überhaupt und ganz besonders die amerikanische Gesellschaft kennzeichnet, alles Dies trägt dazu bei, den versöhnungslosen Zwiespalt zwischen der Lebenswirklichkeit und der Poesie dermaßen zu schärfen, daß letztere, wie gesagt, oftmals geradezu als eine Flucht aus ersterer erscheint, und nicht bloß an unsere Weltschmerzperiode, sondern noch rückwärts über dieselbe hinaus an die Schöpfungen der romantischen Schule gemahnt. Durch manche der herrlichsten Inspirationen zieht sich, wie durch Stoddards Herbstode, eine träumerische Sehnsucht nach Ruhe, nach Rettung aus dem Tumulte der Gegenwart an ein hesperisches Friedensgestade, die fast dem schlummerseligen Verlangen nach dem Nirwana der Inder gleicht. Die ganze Poesie Stoddards ist elegisch gefärbt; ja, in seinem bedeutendsten Werke, der »Glocke des Königs«, spricht sich eine, fast mit Schopenhauer verwandte, pessimistische Weltanschauung aus. In den lyrischen Dichtungen des Dramatikers Boker steigert sich diese trübsinnige Schwermuth zu einer weltverachtenden Bitterkeit; eine ebenso finstere Melancholie haucht uns aus manchem der kleinen Lieder und Balladen von Aldrich, Dorgan und Piatt entgegen. Es ist dabei, nicht an direkte Einflüsse der deutschen Weltschmerzliteratur zu denken; außer Bryant, Longfellow, Bayard Taylor und Dorgan sind bis jetzt wenige amerikanische Schriftsteller der deutschen Sprache mächtig gewesen, und selbst Stoddard, dessen kleine Lieder manchmal auffallend an Heine erinnern, hat, seiner ausdrücklichen Versicherung gemäß, den Dichter des »Buches der Lieder« bis vor Kurzem nur aus der Longfellowschen Uebersetzung zweier kurzen Gedichte gekannt. Man wird sich daher wohl zu der Annahme bequemen müssen, daß ähnliche Verhältnisse und Stimmungen bei verschiedenen Völkern manchmal der Dichterseele wunderbar verwandte Töne entlocken. Oder sollte man nicht glauben, daß Heine genau solch ein Lied wie Stoddards »Vöglein« hätte dichten können? Vermeint man nicht, Geibel zu hören, wenn man Lowells Träumerei: »O Mondlicht, wunderbares«, Aldrichs »Verlobung« oder Piatts »Erstes Liebespfand« liest? Ist es nicht, als ob der Schatten Lenau's in den »Melancholie« überschriebenen Strophen desselben amerikanischen Dichters uns ein herzverzehrendes Klagelied von den stygischen Gewässern emporschickte? Mit Lenau und Heine verwandt ist auch Dorgan, dessen Gedichte sich, bei hoher Formvollendung, durch eine ungewöhnliche Tiefe des philosophischen Gedankengehalts auszeichnen.
Der idealistische Zug der amerikanischen Poesie wird noch erhöht durch die lebhafte Betheiligung des schönen Geschlechtes an der literarischen Produktion. Die unverhältnißmäßig große Zahl amerikanischer Dichterinnen steht in engstem Zusammenhange mit der Stellung der Frauen in jenem Lande. Während der männliche Theil der Bevölkerung in der Regel schon mit dem vierzehnten Jahre die große Jagd nach Erwerb beginnt und geringe Zeit auf seine geistige Ausbildung zu verwenden hat, bleibt dem weiblichen Theil, nach der dortigen Lebenssitte, meist hinlängliche Muße, sich auch in späteren Jahren noch durch Unterricht und Lektüre zu bilden. Die angeborne Richtung des weiblichen Sinnes auf das Ideale verleugnet sich auch in der Literatur nicht, und wir könnten als Beleg dafür die Werke fast jeder amerikanischen Dichterin citiren; die edelste Feier hat dieser poetische Idealismus in den Liedern der Mrs. Osgood gefunden. – Bei dem leidenschaftlichen Ungestüm, mit welchem im Norden und Westen der Vereinigten Staaten seit einer Reihe von Jahren der Kampf für die »Frauenrechte« vorwiegend von schriftstellernden Frauen geführt und geleitet wird, sollte man erwarten, daß auch die lyrischen Produktionen der amerikanischen Dichterinnen ein gewisses emancipationslustiges Blaustrumpfgepräge trügen. Dies ist jedoch nur ganz ausnahmsweise der Fall. Man wird vielleicht über die naive Keckheit lächeln, mit welcher diese modern empfindenden Namen hin und wieder den Götter- und Heroengeschichten des klassischen Alterthums eine unerwartet neue Wendung geben, – so z. B., wenn Mrs. Oakes-Smith die epigrammatische Bemerkung macht, daß Psyche nicht vom Lager des Eros, sondern des Unteres, des falschen Scheines der Liebe, geflohen sei, oder wenn Grace Greenwood der von Theseus verlassenen Ariadne den Text darüber liest, daß sie sich nicht mit der Würde ihres weiblichen Stolzes groß und hehr über die Untreue ihres schlechten Liebhabers zu trösten gewußt habe; – an sich aber wird man dieser gesunden Moral seinen Respekt nicht versagen können; ja, man möchte sogar wünschen, daß durch die Lebenspoesie der amerikanischen Dichterinnen im Ganzen ein etwas kräftigerer Hauch als der ätherische Entsagungsduft wehte, der die meisten dieser Produktionen charakterisirt. Besonders gilt dies von den Liedern Stuart Sterne's, der jüngsten transatlantischen Sängerin, deren schwermüthige Muse den Winden und Wellen die Sehnsucht eines heiß nach Liebe verlangenden Herzens klagt, aber vor den Pfeilen des Götterknaben sich mädchenhaft spröde in den Mantel stolzer Verschlossenheit und anspruchsvoller Entsagung hüllt.
Der Leser würde jedoch ein sehr einseitiges und deßhalb unrichtiges Bild von der amerikanischen Poesie der Gegenwart gewinnen, wenn er nun etwa glaubte, daß dieselbe einzig und allein ihre Stoffe dem wehmüthig gefärbten, idealistischen Sehnsuchtshange des Dichtergeistes entnähme. Sie liebt es zwar zumeist, sich in die weichen Träume der Herzenswelt einzuspinnen; aber sie vergißt darüber nicht den Versuch, auch die Formen und Gestalten des äußeren Lebens künstlerisch zu bewältigen, sie schweift wanderlustig in Nähe und Ferne umher, und weiß im eigenen Lande wie in fremden Regionen manchen interessanten Stoff zu entdecken, den sie uns in origineller Behauptung vor Augen stellt. Unter den Dichtern, deren reiches Talent durch weite Reisen stets neue Nahrung empfing und die aufgenommenen Eindrücke in werthvollen poetischen Schöpfungen mit farbenreicher Lebendigkeit zu spiegeln verstand, muß vor Allem Bayard Taylor genannt werden. Seine »Lieder des Orients« tragen den ganzen Zauber morgenländischen Kolorits, mag er nun in wollüstig träumerischen Weisen den zur Liebe lockenden Duft der Rosen Gülistans besingen, oder den Beduinen auf seinem Ritt durch die Wüste begleiten, oder im Sande Nubiens die Räthselschrift der alten Steinkolosse deuten, oder an der Gangesfluth mit zaubervollem Liede die Geburt Kamadewa's, des indischen Liebesgottes, feiern. Aber auch die Scenerien der amerikanischen Heimat, der landschaftliche Reiz des Urwaldes und der Prairie, die großen Seen, Strome und rauschenden Wasserfälle, die unheilvollen Irrlichtssümpfe mit ihren giftigen Dünsten, die gigantischen Felsengebirge des Westens haben der Poesie von jeher einen willkommenen Schilderungsstoff geboten. Flüchtet sich doch stets das trauernde Menschenherz am liebsten an die Brust der Natur, um Balsam für seine Wunden zu finden – wie sollte es in Amerika anders sein? Dennoch zeigt sich uns in der poetischen Auffassung der Natur hier ein gewisser Unterschied von der deutschen Gefühls- und Betrachtungsweise. Durch die deutsche Feld- und Waldlyrik geht ein pantheistischer Zug liebevollen Sichversenkens und Sicheinsfühlens mit der Natur, dem wir in Amerika ziemlich selten begegnen. Dort erfüllt die großartige Erhabenheit der ewigen Wälder, der weiten, spärlich besiedelten Länderstrecken die Seele unwillkürlich mit den Schauern der Unendlichkeit; keine Waldfrau, keine Nixen und Elfen locken mit lieblicher Stimme, um das Herz des einsamen Wanderers zu bethören, und derselbe findet nur Trost und Ruhe, indem er aus dem Donner des Kataraktes die Stimme eines allmächtigen Herrn der Welten zu hören glaubt, und sein Vaterauge von der blauen Decke des Sternengewölbes liebend herabstrahlen sieht. Dieser deistische Charakter der amerikanischen Naturpoesie verleiht derselben – namentlich bei den älteren Dichtern, wie Bryant, Dana, Simms etc. – eine gewisse Einförmigkeit; die breit ausgesponnene Schilderung ermüdet um so leichter, weil als Pointe derselben, mit geringer Variation, fast immer die eine Lehre gepredigt wird: »Klage nicht, fürchte dich nicht, vertraue der Weisheit des Herrn, deines Gottes, er wird Alles zu deinem Besten wenden!« Als unübertroffenes und unübertreffliches Muster dieser Gattung von Poesie darf Bryants »Thanatopsis« gelten. Neuerdings hat John James Piatt in seinen » Western Windows and Other Poems« originelle Landschaftsbilder aus dem Farmerleben des Westens geliefert, die nicht allein eine kräftige Lokalfarbe tragen, sondern auch recht glücklich in der Einflechtung sinnvoller symbolischer Bezüge sind. Ebenfalls ist Walt Whitman hier mit Auszeichnung zu nennen, wiewohl wir die Ueberschätzung nicht zu theilen vermögen, mit welcher seine Verehrer die reimlosen, oft nur durch einen wilden Rhythmus die dichterische Form wahrenden Streckverse dieses literarischen Sonderlings als unvergleichlich hohe Meisterwerke des Genius preisen. Vieles in seinen rhapsodischen Ergüssen ist roh und geschmacklos; so wenn er in einem Gedichte seiner »Drum Taps« (»Trommelschläge«) erzählt, wie er zur Zeit des Bürgerkrieges als Pfleger der Verwundeten die Hospitäler durchschritt, von Dienern mit Schwämmen und Eimern begleitet, die bestimmt waren, Blut und Eiter und abgeschnittene Gliedmaßen aufzunehmen. Andererseits aber läßt sich nicht leugnen, daß dieser kecke Realismus der Schilderung sich oftmals zu einer großartigen Kraft der Bilder erhebt, und daß der enthusiastische Flug seiner Seele den Verfasser in den meisten Fällen vor allzu bedenklichen Ausschreitungen der naturalistischen Detailmalerei behütet. Walt Whitman ist von seinem Dichterberufe ehrlich durchdrungen; er glaubt neue Wege zu wandeln, weil er die altgewohnten Bahnen verläßt; er glaubt neue Gedanken zu denken, weil er seine Weisheit nicht aus Büchern lernt, sondern einzig der Stimme des eigenen Herzens lauscht. Er ist ausschließlich der Dichter seiner amerikanischen Heimat, und seine Kriegs- und Schlachthymnen haben den Muth der Unionsheere mit Erfolg angefeuert. Wenn der deutsche Leser an den mitgetheilten kurzen Proben dieser schwungvollen Gelegenheitspoesie Gefallen finden sollte (und wir hoffen in der That, daß ihn die begeisterte, blitzgleich herabwetternde Sprache dieser Feuerseele nicht kalt lassen wird), so fürchten wir doch sehr, daß bei der Lektüre einer größeren Zahl solcher Gedichte das Interesse an denselben bald erlahmen würde. Der Trank der Begeisterung gleicht jenen süßen und kräftigen Weinen des Südens, die, in kleinen Zügen herabgeschlürft, uns die Adern mit heißer Gluth durchflammen; trinken wir aber zu unmäßig davon, so folgt dem bacchantischen Rausche das Erwachen mit abgestumpften Sinnen in einer doppelt öden, aschgrauen Wirklichkeit. Wer vor der nüchternen Menge beständig in ekstatischer Verzückung, mit rollenden Augen und geheimnisvoll murmelnder Prophetenstimme einherwandelt, erscheint dem Publikum leicht wie ein Irrsinniger oder ein Trunkener, und Walt Whitman ist oft in diesem Falle. Nur in seinen kürzeren Gedichten vermag er uns hinzureißen und bis ans Ende zu fesseln; selbst den vielgerühmten, an Schönheiten reichen Trauerhymnus auf Lincolns Tod haben wir nicht übersetzt, weil der Poet an mehr als einer Stelle des über 200 Verszeilen umfassenden Gedichtes allzu matt von der Höhe seines langathmig dahinfluthenden Pathos herabsinkt.
Ein Theil der in diesem Bande zusammengestellten Uebersetzungen ist vor längerer Zeit schon an anderer Stelle (in meinem »Lieder« und Balladenbuche amerikanischer und englischer Dichter der Gegenwart«) abgedruckt worden. Die meisten der hier mitgeteilten Gedichte entstammen jedoch erst dem letzten Decennium, und erscheinen jetzt zum ersten Mal in deutschem Gewande. Wenn man von den älteren Dichtern, außer Poe, fast nur Bryant und Longfellow – und auch diese meist nur mit einigen ihrer neuesten Produktionen – vertreten findet, so wolle man im Auge behalten, daß es mein Wunsch war, zunächst eben von der jüngsten Phase der amerikanischen Poesie ein anschauliches Bild zu geben.
Zum Schlusse mögen dem Leser ein paar kurze biographische Notizen über die Dichter, aus deren Weilen hier Proben mitgetheilt worden, willkommen sein.
James Russell Lowell, geboren am 22. Februar 1819 zu Boston, 1838 zum Doktor promovirt, seit 1855 Nachfolger Longfellows in der Professur der neueren Sprachen am Harvard-College zu Cambridge, veröffentlichte eine sorgfältige Auswahl seiner Gedichte in zwei Bänden, welche zahlreiche Auflagen erlebte. An Gedankenfülle und klassischer Schönheit der Form nehmen seine Poesien einen hohen Rang unter den amerikanischen Dichtungen der Gegenwart ein.
Edgar Allan Poe, der originellste Geist der amerikanischen Literatur, zeigt uns das Bild eines unsteten und traurigen Schriftstellerlebens, doppelt traurig, weil minder die Ungunst der Verhältnisse, als der schwankende Leichtsinn des Poeten die Schuld seiner Leiden trug. Er war das Kind einer nach gewöhnlichem Ausdruck romantischen Ehe. Sein Vater, David Poe, hatte sich mehre Jahre in Baltimore des Rechtsstudiums beflissen, und verliebte sich dann in eine englische Schauspielerin, Elizabeth Arnold, deren Schönheit und Lebhaftigkeit mehr als ein hervorragendes Genie sie zum Liebling des Publikums machte. David Poe entführte und heirathete diese Frau, und widmete sich bald darauf selber der Bühne. Nachdem Beide sechs oder sieben Jahre lang auf den Theatern der Hauptstädte Amerikas gespielt, starben sie kurz nach einander und hinterließen drei Kinder, Henry, Edgar und Rosalie, in hülflosester Lage. Edgar Allan Poe, im Januar 1811 zu Baltimore geboren, war zu dieser Zeit ein auffallend schöner und geistvoller Knabe. John Allan, ein reicher Kaufmann in Baltimore, welcher mit seinen Eltern befreundet gewesen war und selbst keine Kinder besaß, nahm den kleinen Edgar an Sohnes Statt an, und man glaubte allgemein, er werde ihn zu seinem Erben ernennen. Die Erziehung des eigenwilligen und trotzigen Knaben scheint durch übelangebrachte Nachsicht mit seinen Schwächen bedenklich verfehlt worden zu sein. Im Jahre 1816 begleitete Edgar den Herrn Allan und dessen Gattin nach Großbritannien, besuchte mit ihnen die interessantesten Gegenden der drei Königreiche, und verbrachte später vier oder fünf Jahre in einer Schule in der Nähe von London, deren Charakter er in seiner Erzählung »William Wilson« anziehend beschrieben hat. Im Jahre 1822 kehrte er nach den Vereinigten Staaten zurück, wurde auf einige Monate in eine Akademie zu Richmond in Virginien gesandt, und bezog hierauf die Universität zu Charlottesville, wo er sich einem zügellosen Leben ergab und trotz seiner überraschenden Anlagen und schnellen Auffassungskraft bald wegen Spiels, Trunkenheit und anderer Laster relegirt ward. Damals besaß er eine seltene Körperkraft und Gewandtheit; er schwamm z. B. eines Tages sieben und eine halbe englische Meile gegen einen reißenden Strom, ohne nach dieser Anstrengung im Mindesten ermüdet zu sein. – Bisher hatte ihn Herr Allan aufs Freigebigste mit Geldmitteln versorgt, weigerte sich aber jetzt, eine Reihe von Spielschulden seines leichtsinnigen Pfleglings zu bezahlen. Der vierzehn- oder fünfzehnjährige Poe ward hierüber aufs Aeußerste erzürnt und segelte nach Europa, in der Don-Quixotischen Absicht, sich an dem Kampf um die Freiheit Griechenlands zu betheiligen. Er erreichte indeß nie seinen Bestimmungsort, trieb sich ein Jahr lang auf dem Kontinente umher, und ward endlich in St. Petersburg wegen verschiedener bei einem Trinkgelage verübter Excesse verhaftet. Der amerikanische Konsul befreite ihn aus den Händen der Polizei und sandte ihn nach seinem Vaterlande zurück. Das Zusammentreffen zwischen Herrn Allan und Poe war begreiflicherweise nicht von der herzlichsten Natur; indeß erklärte sich Ersterer bereit, dem jungen Brausekopf jede nothwendige Unterstützung zu gewähren, und Poe bezog bald darauf die Kadettenakademie in Westpoint. Allein auch hier ward er nach zehn Monaten wegen Liederlichkeit, Ungehorsam und Pflichtversäumniß kassirt. Er kehrte jetzt nach Richmond zurück, wo Herr Allan sich nach dem Tode seiner ersten Frau zum zweiten Mal vermählt hatte. Dieser nahm ihn wieder in seine Wohnung auf; aber Poe erlaubte sich gegen die junge Frau das unstatthafteste Betragen und verscherzte für immer die Gunst seines Beschützers. Als Herr Allan im Frühling 1834 starb, hinterließ er seinem einstigen Pflegesohn nicht einen Heller. Kurze Zeit, nachdem Poe die Kadettenakademie verlassen, hatte er in Baltimore einen Band Gedichte veröffentlicht, und die freundliche Art, mit welcher das Publikum diese jugendlichen Produktionen empfing, bestätigte ihn in seiner Absicht, sich der Schriftstellerlaufbahn zu widmen. Seine Arbeiten in verschiedenen Journalen erregten indeß wenig Aufmerksamkeit. Während er in Baltimore lebte, schrieb der Eigenthümer des dortigen »Saturday Visiter« Preise für die beste Erzählung und das beste Gedicht aus. Poe sandte ein Gedicht und sechs Erzählungen ein, und gewann im Oktober 1833 den Preis für die beste Erzählung durch »Ein Manuskript, das in einer Flasche gefunden ward«. Herr Kennedy, einer der Preisrichter und Verfasser des »Horse-Shoe Robinson«, wußte den Eigenthümer des »Saturday Visiter« für den jungen Schriftsteller zu interessiren, welcher so arm war, daß er kein Hemd auf dem Leibe trug. Poe wurde mit Kleidungsstücken versorgt, und von seinen neugewonnenen Freunden auf das Zuvorkommendste unterstützt. Gegen Ende des Jahres 1834 gründete ein gewisser I.[*eigentlich "T." für Thomas] W. White in Richmond den »Southern Literary Messenger«. Durch Empfehlung des Herrn Kennedy wurde Poe im folgenden Jahre zum Redakteur dieser Zeitschrift ernannt, vernachlässigte indeß bald seine Pflichten, und Herr White sah sich genöthigt, ihn zu entlassen. In Richmond hatte sich Poe mit seiner Cousine Virginia Klemm, einem begabten und liebenswürdigen, aber sehr armen Mädchen, verheirathet. Er lebte jetzt eine Zeitlang in Newyork und Philadelphia als Redakteur verschiedener Zeitschriften, mit deren Eigenthümern er sich jedoch bei dem Leichtsinne und der Unverträglichkeit seines Charakters immer sehr bald wieder überwarf. In diese Zeit fallen die berühmtesten seiner Erzählungen und das Gedicht »Der Rabe«, unzweifelhaft das bedeutendste Produkt amerikanischer Poesie, und wohl schwerlich das Werk einer so kühlen Berechnung, wie Poe uns in der später geschriebenen rückerschaffenden Analyse des Gedichts einreden möchte. Im Herbst 1844 trat er als Recensent und Hilfsredakteur bei dem von dem Dichter N. P. Willis geleiteten »New-York Mirror« ein. Sechs Monate später übernahm er die Redaktion des »Broadway Journal«, das im Oktober 1845 in seinen alleinigen Besitz überging. Er hatte jetzt seinen bedeutendsten Wunsch, die unumschränkte Leitung eines eigenen Journales, erreicht; allein er erwies sich gänzlich unfähig für solch eine Stellung. Durch die unerquicklichsten Personalfehden mit sämmtlichen hervorragenden Schriftstellern Amerikas und die maßlos unbegründetsten Angriffe edler Charaktere verscherzte er die Gunst seines Publikums und sah sich bald wieder auf Beiträge für fremde Zeitschriften beschränkt. Seine »Literaten der Stadt New-York«, welche in sechs Nummern von »Godey's Ladies Book« erschienen, beschworen einen Sturm von Unwillen gegen den Verfasser, und Poe ergab sich aufs Neue seiner alten Gewohnheit des Trunkes. Um diese Zeit war seine Gattin gefährlich an der Schwindsucht erkrankt, und Poe litt mit seiner Familie die bitterste Armuth. Ein Aufruf zur Unterstützung des Dichters erschien in verschiedenen Zeitungen; aber der Stolz des Mannes empörte sich gegen diese öffentliche Bloßstellung seiner hilflosen Lage und veranlaßte ihn zu der unwahren Erklärung, daß er keiner Unterstützung bedürftig sei. Bald nachher starb seine Frau, und Poe schrieb den philosophischen Aufsatz: »Heureka; ein Gedicht in Prosa«, in welchem er die tiefsten Räthsel des Weltalls durch intuitive Einsicht seiner Phantasie gelöst zu haben wähnt. Diese seltsame Arbeit trug der Verfasser unter dem lebhaften Beifall eines gewählten Auditoriums zuerst am 9. Februar 1848 im Lokale der Society Library zu Newyork vor, und hat später nicht viel mehr geschrieben. Er hatte sich mit den Redakteuren fast aller gelesenen Journale gründlich verfeindet und sah sich oft genöthigt, seine Artikel an kleine Winkelblätter für wenige Dollars zu verkaufen. Es hieß damals, er werde sich mit einer der bekanntesten und geistvollsten Frauen Neuenglands vermählen. Nach einem seiner besten Gedichte zu urtheilen, scheint es gewiß, daß ihn eine mächtige Leidenschaft zu ihr hinzog. Aus unbekannten Gründen wünschte er dennoch das Verhältniß abzubrechen, ehe die Hochzeit stattfand. In dieser ausgesprochenen Absicht fuhr er nach dem Wohnorte seiner Braut, taumelte am folgenden Tage in völliger Trunkenheit durch die Gassen und beging in diesem Zustande vor dem Hause der Geliebten so tumultuarische Excesse, daß ein Herbeirufen der Polizei nöthig ward. So wurde die Verbindung, noch ehe sie geschlossen war, durch Poe's unverantwortliches Benehmen gelöst. – Im August 1849 reiste er nach Virginien ab. In Philadelphia traf er einige seiner alten Zechbrüder und gab sich mehrere Tage lang seiner unverbesserlichen Gewohnheit hin. Als sein Geld verschwendet war, mußte er die Mittel zur Fortsetzung seiner Reise vom Wohlthätigkeitssinn seiner Freunde erbitten. In Richmond trat er sofort einer Mäßigkeitsgesellschaft bei, und suchte ernstlich ein neues Leben zu beginnen. Er hielt eine Reihe stark besuchter Vorlesungen, und verlobte sich mit einer Dame, welche er dort in seiner Jugend kennen gelernt hatte. Am 4. Oktober verließ er Richmond, um in Newyork eine dort eingegangene literarische Verpflichtung zu erfüllen und Vorbereitungen zu seiner Hochzeit zu treffen. In Baltimore angelangt, übergab er seinen Koffer einem Gepäckträger mit der Weisung, denselben auf einen Bahnzug zu schaffen, welcher in einer oder zwei Stunden abgehen sollte. Poe trat in eine Taverne, begegnete hier verschiedenen Bekannten, die ihn zum Trinken aufforderten, und bald waren alle guten Vorsätze vergessen. Nach wenigen Stunden war er bis zum Wahnsinn berauscht, verbrachte die Nacht unter den heftigsten Anfällen des Delirium tremens, und starb am 7. Oktober 1849 im Hospitale. Eine wohlgeordnete Sammlung seiner Werke wurde nach seinem Tode von R. W. Griswold herausgegeben. Seine mysteriösen Erzählungen erinnern häufig an E. T. A. Hoffmanns Manier, mit dem Unterschiede jedoch, daß Poe seine geheimnißvollen Wunder in der Regel am Schlusse mit nüchternem Verstande erklärt und dieselben auf optische oder mechanische Täuschungen zurückführt. Unter seinen nicht eben zahlreichen Gedichten gehören viele zu den kostbarsten Perlen der amerikanischen Literatur.
William Cullen Bryant, am 3. November 1794 zu Cummington in Massachusetts geboren, veröffentlichte schon in seinem vierzehnten Jahre eine erste Gedichtsammlung. Eine Zeitlang Advokat, war er seit 1826 einer der Hauptredakteure der »New-York Evening-Post«, eines geachteten, freisinnigen Journales, und starb am 12. Juni 1878. Bei aller hohen Formvollendung seiner gefeierten Dichtungen gebricht es denselben doch häufig an origineller Kraft und hinreißender Gluth der Empfindung. Ein Meister in Naturschilderungen und erhabenen Reflexionen, wird er kaum einen Tadler seiner poetischen Leistungen finden; aber es ist ermüdend, eine größere Anzahl dieser still-friedlichen, frommen Betrachtungen ohne Unterbrechung zu lesen.
Henry Wadsworth Longfellow, der berühmteste, auch in Europa allgemein bekannte Dichter Amerikas, ist am 27. Februar 1807 zu Portland in Maine geboren. Er war seit 1835 Professor der neueren Sprachen am Harvard-College zu Cambridge, legte jedoch 1855 dies Amt nieder, um sich ausschließlich der Literatur zu widmen. In technischer Hinsicht unzweifelhaft der gewandteste Schriftsteller unter seinen Landsleuten und vertraut mit den Literaturen aller europäischen Völker, ist er vielleicht der talentvollste Nachahmer und genialste Uebersetzer, den die englische Literatur gegenwärtig aufzuweisen hat; aber, mit Ausnahme des »Hiawatha«, vermissen wir an den meisten seiner selbständigen Produktionen das Gepräge jener Originalität, welche den epochemachenden Genius kennzeichnet. Manche seiner besten Schöpfungen nehmen sich wie gelungene Nachbildungen fremder, besonders Heinescher, Uhlandscher, Freiligrathscher und Victor Hugoscher Gedichte aus.
Park Benjamin, geboren 1809 von englischen Eltern zu Demerara in Britisch-Guyana, kam in seinem dritten Lebensjahre nach Neuengland, prakticirte nach vollendeten akademischen Studien eine Zeitlang als Advokat in Boston, und lebt seit 1836 als Schriftsteller in Newyork. Unter seinen meist kurzen Gedichten zeichnen sich besonders die humoristischen und satirischen durch glückliche Einfälle aus; doch tragen wenige derselben den Stempel künstlerischer Vollendung.
Charles P. Shiras, geboren zu Pittsburgh in Pennsylvanien, hat sich besonders durch eine Sammlung socialistischer Gedichte bekannt gemacht, von welchen die meisten der Bekämpfung der Negersklaverei und den Arbeiterverhältnissen gewidmet sind.
William W. Lord, geboren 1818 im westlichen Theile des Staates Newyork, ist gegenwärtig Prediger an einer Episkopalkirche zu Vicksburg in Mississippi.
Richard Henry Stoddard, der begabteste unter den jüngeren Dichtern Amerikas, ist zu Hingham in Massachusetts am 2. Juli 1825 geboren. Sein Vater war Kapitän eines Schiffes, das, während seiner Kindheit, von dort nach Schweden absegelte und spurlos verschollen ist. Der junge Stoddard, dessen Mutter sich nachher wieder verheirathete, lebte bis zu seinem zehnten Jahre in Massachusetts; 1835 siedelte er mit seiner Familie nach Newyork über. Unter dürftigen Verhältnissen heranwachsend, konnte er nur eine gewöhnliche public school besuchen und mußte schon früh als Advotatenschreiber seinen Unterhalt verdienen. Zu jener Zeit fielen die Gedichte von Robert Burns in seine Hände und veranlaßten ihn zuerst, sich im Verseschreiben zu versuchen; doch wagte er sich mit diesen Erstlingsliedern noch nicht an die Oeffentlichkeit. Von seinem achtzehnten bis dreiundzwanzigsten Jahre arbeitete er als Formengießer in einer Eisengießerei; 1848 mußte er diese Beschäftigung aufgeben, da seine Gesundheit den harten Anstrengungen zu erliegen drohte. Während all dieser Zeit hatte er Verse geschrieben, die bald hie, bald da in Journalen gedruckt und zum Theil recht günstig aufgenommen wurden. Eine Auswahl derselben erschien zuerst 1848 unter dem Titel: »Footprints«, denen er 1851 eine zweite Sammlung »Poems« folgen ließ. Am 6. December des folgenden Jahres verheirathete er sich mit Elizabeth Barstow, einer jungen Dame aus Massachusetts, die sich, durch das Beispiel ihres Mannes und seiner literarischen Freunde angespornt, später gleichfalls mit Glück der Schriftstellern zuwandte. Unter ihren Erzählungen nimmt der Roman »The Morgesons«, ein Bild echten Yankeelebens, die erste Stelle ein. Im Jahre 1856 gab Stoddard eine dritte Sammlung lyrischer Gedichte, »Songs of Summer«, heraus. Im Jahre 1852 hatte er schon einen Band Kindermärchen unter dem Titel »Adventures in Fairy Land« veröffentlicht, dem sich später zwei andere Jugendschriften, »Town and Country« und »The Voices in the Shells«, anschlossen. Nach dem Tode Alexanders von Humboldt schrieb Stoddard eine Biographie des großen deutschen Gelehrten, die mit einer Einleitung von Bayard Taylor erschien und in Amerika wie in England rühmliche Anerkennung fand. Auch gab er unter dem Titel »Loves and Heroines of the Poets« eine geistvoll geordnete Sammlung englischer Liebesgedichte heraus. Seit 1853 war er als Clerk im Newyorker Zollhause angestellt, ein Amt, das er, auf Empfehlung des Schriftstellers Nathaniel Hawthorne, vom damaligen Präsidenten Pierce erhielt und unter mehreren der nachfolgenden Präsidenten behauptete. Sein jüngstes Wert, »Die Glocke des Königs«, erschien 1863. Mit besonderem Erfolge hat er das Gebiet kürzerer, sangbarer Lieder kultivirt, welche durch Wohllaut der Form und Präcision der Gedanken nicht selten in glücklichster Weise an den Ton deutscher Volkslieder erinnern.
John Greenleaf Whittier, geboren 1807 zu Haverhill in Massachusetts, wo er den größten Theil seines Lebens verbrachte und auch jetzt noch seinen Wohnsitz hat, war seit 1836 einer der eifrigsten Führer der Abolitionistenpartei und verwandte auch sein Lied häufig mit seltener Kraft als Waffe in dem Kampfe gegen das Sklavenhaltersystem. Obschon eine energische, oft leidenschaftliche Sprache seine Dichtungen charakterisirt, begegnen wir in ihnen doch nicht minder den zartesten und anmuthigsten Bildern und Klängen voll melodischer Weichheit.
George Henry Boker, geboren 1823 zu Philadelphia, lebt als Schriftsteller in seiner Vaterstadt. Wie er in seinen Tragödien mit Vorliebe das dämonische Walten zerstörender Leidenschaft schildert, so tragen auch seine Lieder, Balladen und Sonette zumeist eine düstere Färbung,
Bayard Taylor, der Abkömmling eines Quäkergeschlechtes, dessen Urahn 1681 als Begleiter William Penns nach Pennsylvanien kam, wurde daselbst in dem Landstädtchen Kennet Square am 11. Januar 1825 geboren. Ein reger Bildungsdrang, dem er in der Heimat nicht zu genügen vermochte, und ein abenteuerlustiger Wandersinn trieben ihn schon mit neunzehn Jahren über den atlantischen Ocean. Als Korrespondent zweier Philadelphier Zeitungen, welche ihm seine Reisebriefe mit einer sehr mäßigen Geldsumme honorirten durchpilgerte er zwei Jahre lang zu Fuße Schottland und den Norden von England, Belgien und den größten Theil von Deutschland, die Schweiz und Italien. Der große Erfolg seiner Reisebeschreibung ( »Views a-Foot«) veranlaßte die Eigenthümer des »Daily Tribunes« in Newyork, ihm im Januar 1848 die Stelle eines Mitredakteurs anzutragen. Als Korrespondent dieses renommirten Journales bereiste Taylor in der Folge Kalifornien, Aegypten, Nubien und einen Theil von Centralafrika, Indien, China und Japan, Norwegen und Schweden, Griechenland und Rußland. Seine Reisewerke fanden eine ebenso glänzende Aufnahme wie die zahlreichen öffentlichen Vorlesungen, welche er über die von ihm besuchten fremden Länder hielt. Nachdem er sich im Jahre 1858 mit einer Tochter des berühmten Astronomen P. A. Hansen, Direktors der Sternwarte Seeberg bei Gotha, vermählt hatte, erbaute sich Taylor ein hübsches Haus auf dem Landgute Cedarcroft in Pennsylvanien, wo er fortan seinen nur durch kürzere Reisen nach Deutschland und Italien unterbrochenen Wohnsitz aufschlug. Von seinen poetischen Werken sind, außer den »Liedern des Orients« (1854), noch »Des Dichters Tagebuch« (1862) und die älteren »Rhymes of Travel« (1848) zu nennen, eine Sammlung lyrischer Gedichte, in welcher sich der Verfasser freilich noch oftmals abhängig von fremden Mustern, insbesondere von den Einwirkungen der Freiligrathschen Muse, zeigt. 1871 und 1876 erschien seine meisterhafte Übertragung des Goetheschen »Faust«. Im Februar 1878 kam er als Gesandter der Vereinigten Staaten nach Berlin und starb daselbst am 19. December desselben Jahres,
Walt Whitman, dessen vorhin bereits ausführlicher gedacht wurde, ist am 31. Mai 1819 im Dorfe West-Hills auf Long-Island im Staate Newyork geboren. Ueber seine Lebensumstände theilte Ferdinand Freiligrath, aus einer authentischen Quelle, in der Augsburger »Allgemeinen Zeitung« Folgendes mit: Walt Whitmans Vater, nacheinander Landwirth, Zimmermann und Baumeister, war ein Nachkomme englischer Ansiedler; seine Mutter, Louise van Velsor, war holländischer Abstammung. Den ersten Schulunterricht erhielt der Knabe zu Brooklyn, einer Vorstadt von Newyork, hatte sich aber schon mit dreizehn Jahren auf sich selbst zu stellen, zuerst als Drucker, später als Lehrer und Mitarbeiter an verschiedenen Newyorker Blättern. Im Jahre 1849 finden wir ihn als Zeitungsredakteur zu Neworleans, zwei Jahre später wieder als Drucker zu Brooklyn. Darnach war er eine Zeitlang, wie sein Vater, Zimmermann und Baumeister. Im Jahre 1862, nach dem Ausbruche des großen Bürgerkrieges (als enthusiastischer Unionist und Anti-Slavery-Man stand er unerschütterlich auf der Seite des Nordens), unterzog er sich, durch Emersons Vermittlung von Lincoln dazu ermächtigt, der Pflege der Verwundeten im Felde, und zwar – das hatte er vorher ausdrücklich bedungen – ohne alle und jede Remuneration. Vom Frühjahr 1863 an wurde diese Pflege im Felde und mehr noch im Hospitale zu Washington seine einzige Beschäftigung bei Tag und Nacht. Ueber die maßlose Selbstaufopferung, über die Freundlichkeit und Güte, die er bei dem schweren Werke bewies, herrscht nur eine Stimme. Jeder Verwundete, gleichviel ob aus dem Norden oder dem Süden, hatte sich derselben liebevollen Wartung von den Händen des Dichters zu erfreuen. Sechs Monate hindurch lag er selbst schwer darnieder; ein Hospitalfieber, die erste Krankheit seines Lebens, hatte ihn ergriffen. Nach dem Kriege erhielt er eine kleine Bedienstung im Ministerium des Innern zu Washington, verlor dieselbe jedoch im Juni 1865, als der Minister Harlan in Erfahrung gebracht hatte, daß Whitman der Verfasser des Buches »Leaves of Grass« (»Grashalme«) sei, dessen Derbheit oder, wie Harlan es ansah, Immoralität die ministerielle Brust mit heiligem Schauder erfüllte. Der Dichter fand indeß bald einen andern bescheidenen Posten auf dem Bureau des Attorney-General zu Washington.
Edmund Clarence Stedman, geboren den 8. Oktober 1833 zu Hartford in Connecticut, verlor seinen Vater, einen Kaufmann, schon als Knabe. Die Mutter, eine nicht unbekannte Schriftstellerin, verheirathete sich später mit Herrn Kinney, dem Gesandten der Vereinigten Staaten am Wiener Hofe, und ließ ihren Sohn erster Ehe außer dem Hause erziehen. Derselbe absolvirte seine vorwiegend der Literatur gewidmeten Studien auf dem Yale-College in Newhaven, übernahm 1853 die Leitung einer Zeitung in New-England, und verheirathete sich in demselben Jahre. In der Folge kam er nach Newyork, wo er ständiger Mitarbeiter des »Tribune« und der »World« wurde, für welches letztgenannte Blatt er auch Korrespondenzen vom Kriegsschauplatze schrieb. Er hielt sich stets aufs Entschiedenste zur republikanischen Partei, und seine Gedichte, von welchen bis jetzt drei Sammlungen erschienen sind ( »Lyrics and Idylls«, 1860; »Alice of Monmouth and other Poems«, 1864; »The blameless Prince«, 1869), athmen einen minder originellen, als verständigen, freien und vorurtheilslosen Geist.
Thomas Bailey Aldrich, geboren den 11. November 1835 zu Portsmouth in New-Hampshire, verbrachte seine früheste Kindheit in Louisiana und wurde in seinem zehnten Jahre nach New-England geschickt, um dort erzogen zu werden. Nach dem Tode seines Vaters (1852) placirte ein alter Onkel ihn in seinem Bankgeschäfte zu Newyork. Die literarischen Neigungen des jungen Mannes bewogen ihn jedoch, die kaufmännische Carriere nach drei Jahren wieder aufzugeben, und er trat 1856 in die Redaktion des von dem Dichter N. P. Willis geleiteten »Home Journal« ein, in welcher Stellung er vier Jahre lang verblieb. Eine vollständige Ausgabe seiner ungewöhnlich warmen und melodischen, meist schwermüthigen, oft aber auch heiter scherzenden Gedichte, die sich durch eine außerordentlich glückliche Nachahmung des volksliedmäßigen Balladentones auszeichnen, ist 1865 bei Ticknor & Fields in Boston erschienen. Später lebte Aldrich als Mitredakteur des »Atlantic Monthly« in Boston.
John A. Dorgan, der jüngste, aber vielleicht geistig tiefste unter dieser Sängerschaar, starb in seiner Vaterstadt Philadelphia am Neujahrstage 1867 im Alter von nur einunddreißig Jahren an der Schwindsucht. Er war von irischer Abstammung, von kleiner, zarter Gestalt, und widmete sich dem Notariatsgeschäfte, das er niemals über seinen poetischen Arbeiten und seinen äußerst gründlichen literarischen und philosophischen Studien vernachlässigte. Er war der deutschen Sprache hinlänglich mächtig, um gelungene Uebersetzungen Goethescher, Heinescher und Wilhelm Müllerscher Gedichte anfertigen zu können, meist in Verbindung mit der Schubertschen Musik, die er leidenschaftlich liebte. Außer der von ihm selbst unter dem Titel »Studies« (1862) veröffentlichten Gedichtsammlung erschien ein Band Nachlaßgedichte, der, nach dem Urtheil seiner Freunde, die frühere Sammlung an lyrischer Schönheit und edlem Schwung der Gedanken noch übertreffen soll. Einzelne der hier mitgetheilten Uebersetzungen Dorganscher Lieder (»Verhängniß«, »O warum sahn wir uns?« und die ersten beiden Strophen des Gedichtes »Die wilden Wogen«) entstammen großenteils der gewandten Feder des Dr. Gustav Bloede in Newyork.
John James Piatt, 1835 in Milton geboren, trat mit seiner ersten Gedichtsammlung im Jahre 1866 vor die Oeffentlichkeit und lebt, so viel uns bekannt ist, in der Bundeshauptstadt Washington.
Anne Bradstreet, die älteste uns bekannt gewordene amerikanische Dichterin, 1613 geboren und am 16, September 1672 zu Boston verstorben, ward von ihren Zeitgenossen aufs Ueberschwänglichste gefeiert. Der gelehrte John Norton sagt in einem poetischen Nachrufe, daß »Virgil, wenn er ihre Werke gehört, seine eigenen verbrannt haben würde«. Die mitgetheilten bescheidenen Strophen sind der ersten, 1640 zu Boston gedruckten Sammlung ihrer Gedichte entnommen.
Mary Elizabeth Hewitt, geborene Moore, aus Malden in Massachusetts, lebt seit 1829 in Newyork, wo sie nach dem Tode ihres ersten Mannes sich 1856 mit Herrn Stebbins verheirathete.
Emma C. Embury, Tochter des Newyorker Arztes Dr. J. R. Manley, ist seit Anfang der dreißiger Jahre eine der fruchtbarsten Schriftstellerinnen ihres Landes.
Caroline M. Sawyer, geboren 1812 zu Newton in Massachusetts, zog 1832 nach ihrer Vermählung mit dem Universalistenprediger T. J. Sawyer nach Newyork, woselbst sie ihren Wohnsitz hatte, bis ihr Gatte 1847 einem Rufe als Direktor des Universalistenseminars zu Clinton im selben Staate folgte. Sie hat mit Glück eine Reihe von Übersetzungen aus dem Deutschen in Prosa wie in Versen geliefert.
Grace Greenwood, mit ihrem Mädchennamen Sara Jane Clarke, aber besser unter vorstehendem Nom de plume bekannt, ist zu Onondaga im Staate Newyork geboren und seit 1855 mit Herrn Lippincott in Philadelphia vermählt. Gleich ihren Gedichten zeichnet auch ihre Prosa sich durch eine ungewöhnliche Kraft des Ausdrucks und des Gedankens aus.
Elizabeth Oakes-Smith, die bekannte Vertreterin der Frauenrechte, geborene Prince, aus Portland in Maine, wurde in ihrem sechzehnten Jahre die Gemahlin des Romanschriftstellers und berühmten Verfassers der »Jack Downing Letters«, Seba Smith, dem sie nach Newyork folgte, wo sie heute noch lebt. Außer zwei Tragödien und mehreren in Prosa verfaßten Werken hat sie verschiedene Sammlungen ihrer Gedichte veröffentlicht, welche sich großen Beifalls erfreuten, obschon die Form ihrer meisten Produktionen an einer unkünstlerischen Weitschweifigkeit leidet.
Frances Sargent Osgood, die mit Recht gefeiertste aller amerikanischen Dichterinnen, eine Tochter des Kaufmanns Joseph Locke in Boston, ward im Jahre 1816 in dieser Stadt geboren und vermählte sich 1835 mit dem Maler S. S. Osgood, welcher vier Jahre mit ihr in London verlebte. Seit 1840 wohnte sie in Newyork und starb daselbst an der Schwindsucht den 12. Mai 1850. Eine Prachtausgabe ihrer poetischen Werke ist in Philadelphia in mehreren Auflagen erschienen. Durch Idealität und Innigkeit der Gefühle erinnern manche ihrer zarten Lieder an Shelley's Weise.
Stuart Sterne – unter diesem selbstgewählten Phantasienamen schrieb Gertrud Bloede, eine Tochter des Dr. Gustav Bloede und der zu Brooklyn bei Newyork verstorbenen Halbschwester des Dichters Friedrich von Sallet, Maria Bloede, geb. Jungnitz – ließ eine Anzahl in englischer Sprache verfaßter Gedichte und politischer Aufsätze in der Bostoner Zeitschrift »Commonwealth« und anderen amerikanischen Journalen abdrucken. Im Jahre 1848 zu Dresden geboren, folgte sie ihren Eltern, als der Vater wegen hervorragender Betheiligung an der Mairevolution flüchtig ward, im Frühjahre 1850 nach Amerika. Abwechselnd in Philadelphia, Norristown, Trenton und Richmond lebend, ließ die Familie sich nach langen Irrfahrten 1860 dauernd in Brooklyn nieder, wo der Vater als Mitredakteur einer deutsch-amerikanischen Zeitung, des »Newyorker Demokraten«, eine ihm zusagende Stellung fand. Die Einflüsse deutscher Abkunft und Bildung paarten sich in den Liedern der jungen Dichterin auf originelle Weise mit den aufgenommenen Elementen amerikanischer Denk- und Gesinnungsart. Sie starb am 12. März 1870.