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Einst war es Mode geworden, daß alle Männer auf den nordfriesischen Inseln an Sonn- und Festtagen rote Jacken trugen. Nur Paul Modders hatte keine rote Jacke. Ihn, der sonst selbst jedermann zum besten hatte, neckte man deshalb und fragte ihn, warum er denn keine rote Jacke habe.
»Ich will keine haben«, antwortete er.
»Ach hört«, hieß es dann, »Paul Modders will keine rote Jacke haben, weil er keine bekommen kann!«
Die Sache ärgerte den Schalk. Weil er nämlich nicht richtig arbeiten wollte, hatte er nie Geld in der Hand oder in der Tasche. Er war und blieb ein armer Schlucker, der keine rote Jacke bezahlen konnte. Man hatte ihm also nur die Wahrheit gesagt. Es war aber das erste Mal in seinem Leben, daß er sich recht getroffen und beschämt fühlte. Daher beschloß er, sein Glück anderwärts zu suchen. Er reiste jedoch nicht südwärts wie die übrigen Sylter, wenn sie solches im Sinne hatten, sondern nordwärts und kam so nach der Insel Römöe.
Hier fand er indes leider dieselbe Mode, derentwegen er von Sylt geflohen war. Überdies sah er dort das ganze Inselvölkchen in großer Bewegung. Die Römöer stritten sich nämlich – wie eine Sage erzählt – über ihre Kirche, und zwar nicht etwa über einen Neubau oder eine Reparatur, sondern über eine Versetzung derselben um einige Ellen nach Süden. Das ganze Römöer Volk war versammelt, damit ein jeder seine Meinung und seine Vorschläge in dieser Sache aussprechen könnte. Allein je mehr Leute zusammenkamen und je mehr Meinungen geäußert wurden, desto weniger konnte man sich einig werden.
Da trat gerade zur rechten Zeit, als der Streit am hitzigsten war und in eine Prügelei ausarten wollte, ein Fremdling in einer blauen Jacke auf. Es war Paul Modders von Sylt, der unmöglich länger schweigen konnte. Er sprach: »Ihr wollt eure Kirche südwärts rücken. Wohlan, tretet alle an die Nordseite, stoßt und drückt mit ganzer Kraft gegen die Kirche, so muß sie, die von wenigen Menschen gebaut ist, der vereinigten Macht so vieler weichen! Damit wir aber merken, wann die Kirche auf den gewünschten Platz gekommen ist, lege einer von euch seine rote Jacke an die Südseite der Kirche, zwei Ellen von der Mauer entfernt. Wenn die Jacke nicht mehr zu sehen ist, wird die Kirche stehen, wo sie stehen soll.«
Dieser Rat fand bei dem Römöer Volk ungeteilten Beifall, besonders deshalb, weil er von einem Fremdling kam und weil die Römöer soeben die Erfahrung gemacht hatten, daß sie sich nicht selber zu raten vermochten. Die ganze Inselbevölkerung lief nun nach der Nordseite der Kirche, schob und stieß unter Vergießung vielen Schweißes mit unerhörter Kraftanstrengung gegen die Kirche, und der kluge Ratgeber Paul Modders ging ab und zu nach der Südseite, um nachzusehen, ob die hingelegte Jacke noch sichtbar wäre. Nach einigen Stunden, währenddes sich die Römöer Kopf und Rücken, Hände und Füße wund gestoßen hatten, kehrte Paul Modders wieder zu ihnen zurück. Er erklärte, daß die Jacke nicht mehr sichtbar sei und die Kirche stehe, wo sie stehen solle.
Da stürmten alle, der schweren Arbeit müde, nach der südlichen Seite der Kirche. Die Jacke war wirklich nicht mehr zu sehen. Also stand die Kirche, wo sie stehen sollte.
Paul Modders hatte jedoch den Römöern zu viel Dummheit zugetraut. Als er frech genug war, am folgenden Sonntag die gestohlene Jacke anzuziehen, sagten alle: »Er hat uns betrogen!« Und der Schalk mußte die Jacke schnell wieder ausziehen und nach seiner Heimatinsel Sylt entfliehen.