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Wollte man alles, was über die Dämonen und ihre Beschwörung seit den ältesten sumerischen Zeiten bis zum Ende der Assyrerherrschaft auf uns gekommen ist, wiedergeben, würde es ein dickes Buch füllen, so reich ist das Material, das wir den verschiedenen Ausgrabungen verdanken. Man sieht daraus, welche außerordentliche Rolle die Dämonen und ihre Bekämpfung im babylonischen Weltbild gespielt haben, und man erfährt auch aus Briefen von Fürsten anderer altorientalischer Reiche, z. B. hethitischen, in denen sie sich babylonische Beschwörungspriester ausbaten, wie die »Chaldäer« nicht erst in Alexandrien und Rom, sondern von jeher als Meister auf diesem Gebiet gegolten haben. Wir tun hier einen Blick in älteste Überlieferung, die niemals völlig ausgerottet werden konnte. Für ihr hohes Alter spricht schon der Umstand, daß der größere Teil der Texte in sumerischer Sprache vorliegt, und für ihre Bedeutung, daß ihnen fast immer semitische Übersetzungen beigegeben sind. Keine Anschauung und keine Lehre saß im Herzen der Babylonier so fest wie die von den Dämonen, und keine hat der Europäer seit den Tagen der Aufklärung so rückständig und lächerlich gefunden wie diese. Das soll uns aber nicht hindern, sie uns trotzdem etwas genauer anzusehen, schon weil wir nur in diesem Reich der Dämonen die babylonische Magie ganz unverhüllt und ohne »wissenschaftliche« Gehversuche kennenlernen können.
Daß unter der höchsten Göttertrias Anu, Enlil und Ea die zwei ersten und namentlich Anu durchaus nicht menschenfreundlich gesinnt waren, haben wir schon erfahren. Deshalb gibt es böse Dämonen, die Kinder Anus sind, also Götter. Unter ihnen ist uns die Dämonin Labartu am besten bekannt. Hier ist die Vorder- und die Rückseite eines sogenannten Hadesreliefs, eine Bronzetafel, jetzt in Paris, über deren Erklärung sich die Gelehrten noch nicht in allen Einzelheiten einig sind.
Die Rückseite zeigt eine geflügelte Gestalt mit löwenähnlichem Kopf, der über die Rückseite hinausragt und seine Vorderpranken in die Vorderseite einschlägt. Die Hinterbeine laufen in Vogelfüße mit vier starken Krallen aus und der Schwanz in einen Schlangenkopf. Das ganze Wesen erinnert an die »Chaosungeheuer«. Die Vorderseite zeigt deutlich fünf Abteilungen. In der obersten uns schon bekannte Göttersymbole (von links nach rechts);
Götterthron und Göttermütze (Anu), Kolben mit Widderkopf (Ea), Blitzbündel (Adad), Speerspitze (Marduk), Doppelgriffel (Nebo), achtstrahliger Stern (Ischtar), geflügelte Sonnenscheibe (Schamasch), Mondscheibe (Sin) und sieben Sterne (Sibitti). In der zweiten Abteilung 7 Dämonen mit Tierköpfen. Die dritte Abteilung zeigt ein Bett mit einem Kranken (andere sagen ein Lager mit einem Toten). Am Kopf- und Fußende zwei Priester in »Fischgewändern« (man denke an Oanes), um die Krankheitsdämonen auszutreiben, also eine Beschwörungsszene. Hinter dem Priester am Kopfende eine Art Kandelaber, den einige für das Symbol des Feuergottes Nusku halten. Rechts ein Dämon, der zwei andere forttreibt oder abwehrt, also ein Schutzdämon. In der vierten Reihe im Mittelpunkt Labartu, auf einem Esel kniend, zwei Schlangen in der Hand und zwei Schweinchen an der Brust. Der Esel steht in einem Schiff, das, wie die Fische darunter beweisen, auf einem Fluß (dem Totenfluß?) treibt. Links von Labartu ein Dämon, rechts vermutlich Opfergaben für Labartu oder dergleichen. So Jastrow. Andere haben andere Erklärungen, die sich nicht auf Labartu, sondern auf einen »Totengeist« oder auf die Totengöttin Erischkigal beziehen, was aber für unsere Betrachtung nicht wesentlich ist.
Außer solchen Dämonen, die Kinder Anus oder auch Enlils sind, kennt der Babylonier solche, die der Unterwelt entstammen, und drittens die Totengeister, das sind Geister Abgeschiedener, die nicht in die Unterwelt gelangen können, weil sie kein Grab gefunden haben, oder weil niemand für sie auf dem Grab regelmäßig einmal im Jahr an ihrem Todestag eine Wasserspende darbringt oder dergleichen. Sie irren ruhelos über die Erde und plagen die Lebendigen. Hier das Amulett gegen einen solchen Totengeist. Aus der Inschrift auf der Rückseite geht hervor, daß es sich um ein Amulett handelt, durch das ein Totengeist, der jemanden in Träumen plagt, unter Zuhilferufung von Ninib, dem Arzt, und Marduk (von Esagel in Babylon) Nedu, dem Oberpförtner der Unterwelt, übergeben werden soll. Natürlich, damit er ihn in die Unterwelt verschließt und nicht wieder auf die Erde läßt.
Das löwenköpfige Wesen, das Schlangen hält oder würgt, an dessen Brüsten ein Schwein und ein Hund saugten, mit vogelkralligen Füßen, die wieder auf einem Esel oder einem Pferd stehen, hat große Ähnlichkeit mit der Labartu auf dem Unterweltrelief, oder wie man es sonst nennen will (siehe Seite 117).
Vergleichen wir nun babylonische Dämonengestalten, zu welchem Zweck auf der folgenden Seite noch eine ganze Anzahl solcher abgebildet wird, etwa mit dämonischen Wesen, wie sie das Mittelalter darstellt. Zum Vergleich seien aus der Fülle hier ganz willkürlich zwei Abbildungen aus dem »Horbas sanitatis« (Garten der Gesundheit) von Peter Schöffer 1445 gegeben.
Zuerst eine »Harpyie« (Bild oben). Ferner sehen wir einen Schlangendämon (Bild unten).
Wir können den grundlegenden Unterschied sozusagen mit den Augen greifen. Das Mittelalter konstruiert aufgrund seiner naturwissenschaftlichen Bildung, wobei der Untergrund der Theologie nicht verleugnet wird, solche dämonischen Wesen. Die Bilder werden aus theoretischen Erwägungen gewonnen und kommen uns Heutigen aufgrund unserer naturwissenschaftlichen Bildung und ohne theologischen Untergrund nur noch sehr naiv und komisch vor.
Mir scheint, von den hier abgebildeten altbabylonischen Dämonen kann man das nicht sagen. Auch nicht vor dem Dämon Pazuzu (Seite 115), ja nicht einmal von der Lubartu (Seite 116) und dem »Totengeist« (Seite 118), trotzdem auch hier offensichtlich babylonische Theologie hineinspielt. Die Anschauung war selbst hier noch stärker als die Lehre, die Theorie, die Theologie. Ich möchte sagen, die babylonischen Dämonen könnten einem auch heute noch im Traum erscheinen, wenn der Alp drückt, was bei den Bildern von Schöffer nicht wahrscheinlich ist. Jene sind gebildet aufgrund einer Wahrnehmung. Einerlei, ob diese Wahrnehmung noch von den babylonischen Kunsthandwerkern selbst gemacht wurde, oder ob die Bilder nach älteren Schablonen aus natursichtigen Zeiten hergestellt wurden. Die mittelalterlichen Bilder sind entstanden aufgrund von Vorstellungen, die aus Volkserzählungen abgezogen wurden oder aus theologischen Begriffen. Auf ähnliche Weise, wie noch heute etwa Illustrationen zu Grimms Märchen entstehen. Nur daß heute die Phantasie (Intuition) des Künstlers unabhängiger von der gerade herrschenden theologischen Weltanschauung ist als im Mittelalter, sofern eine solche überhaupt noch »herrscht«. Auch ein Blinder kann sich noch durch sein Tastvermögen und aufgrund von Beschreibungen anderer die Vorstellung von einem Tisch machen und damit auch einen Begriff von ihm, trotzdem er den Tisch nicht sieht. Aber wenn er dann einen Tisch zeichnet, so wird diese Zeichnung hinter der des Sehenden an Anschaulichkeit und Glaubwürdigkeit für den, der selbst sieht und wahrnimmt, weit zurückstehen. Einen ähnlichen Unterschied empfindet man zwischen altbabylonischen und beispielsweise mittelalterlichen Dämonenbildern.
Daß mit dem Tod alles aus sei, der Gedanke ist dem antiken Menschen nie gekommen. Er tauchte erst bei einzelnen griechischen Denkern auf, ohne Einfluß auf das antike Gemeindenken zu gewinnen. Der Gedanke ist durch und durch modern und von allgemeiner Bedeutung erst im Bereich eines rein rationalistischen Weltbildes geworden, wie es im 19. Jahrhundert vorherrschte. Seit mit dem wachsenden Verstand das Ichbewußtsein erwachte, geht die furchtbare Gewißheit durch die Welt: »Von Urzeit her besteht die Abmachung: Du mußt sicherlich sterben« (Sirach), oder wie der Babylonier sagt: »Der Tod ist das unentrinnbare, nächtliche Geschick«. Beim Gilgameschepos haben wir beobachten können, wie fürchterlich diese Gewißheit bei ihrem ersten Auftreten wirkte. Aber auf den Ausweg, daß mit dem Tod eben alles aus sei, ist die Alte Welt nie gekommen; und auch in der Gegenwart, der der Rationalismus diese Rettungsplanke zuwarf, zeigt es sich, daß sie meist nicht trägt, wenn es mit dem Sterben ernst wird. Nebukadnezar bittet, »dauerhaft wie die Backsteine von Ibarra mache meine Jahre, dehne sie aus in Ewigkeit«, aber er weiß, wie jeder Babylonier, daß »der Tag hereinbricht, der nicht freigibt, gleich einem Schilfrohr wird das Leben abgeschnitten«. Und vom Selbstmörder heißt es: »Der Schrecken warf ihn nieder, und er ging in den Tod seiner, nicht der Götter Bestimmung.« Seit dem Erwachen des Ichbewußtseins hat kein Gedanke die Menschheit so beschäftigt wie der an den Tod.
Nach altbabylonischer Anschauung verwest der Leib im Grabe, er heißt schalamtu, der, mit dem es aus ist; aber die Seele lebt in der Unterwelt, dem »Land ohne Heimkehr«, dem »fernen Land«, der »finsteren Wohnung«, und führt ein wesenloses Schattendasein, also dieselbe Anschauung, die wir auch bei den Hebräern und Griechen finden. Der Tote mußte begraben werden, damit die Seele in die Unterwelt kam. Die alten Babylonier kannten keine Verbrennung. Fand der Tote kein Begräbnis, so blieben der Seele die Tore der Unterwelt verschlossen, und der »Totengeist« irrte ruhelos auf der Erde umher. Die fürchterlichste Vorstellung für den Babylonier. Um so fürchterlicher, als diese ruhelosen Geister Kräfte besaßen, welche die Lebenden mit bösen Träumen und Krankheiten plagten, wie wir dieses heute den Bazillen und Bakterien nachsagen. Es gab daher für den Hinterbliebenen keine Pflicht, die sie ernster nahmen als die, den Toten feierlich zu begraben, wobei die Pietät durch die Angst vor »Totengeistern« wirksam unterstützt wurde, und ihm Wasser zu spenden, damit er nicht verdurste. Wir haben vielfach bei babylonischen Grabstätten künstliche Brunnenanlagen gefunden. Es gab keine größere Sorge, als die um ein sicheres Grab; und wollte man einem besiegten Feind eine besondere Schmach antun, so zerstörte man seine Gräber, um die Toten in ihrer Ruhe zu stören. Assurbanipal rühmt sich nach der Unterwerfung Susas: »Die Grabstätten ihrer Könige zerstörte ich, ihre Gebeine nahm ich mit nach Assyrien, ihren Totengeistern legte ich Ruhelosigkeit auf und schloß sie von der Totenfeier der Libation (Wasserspende) aus.« Als König scheint es ihn dabei nicht gestört zu haben, daß er seinem Volk damit neue Dämonen auf den Hals hetzte. Kein Wunder, daß die Totengeister von Ausländern in der babylonischen Dämonologie eine große Rolle spielen.
In der babylonischen Vorstellungswelt wimmelt es von Dämonen (die »bösen Sieben«, die Trias Labartu, Labaschu und Axaxu, eine andere Trias: Lilu, Lilitu und die Magd des Lilu usw.). Ihnen stand eine »gute Sieben« gegenüber und jedem Menschen »sein und seine Göttin« (Schutzgottheiten), aber das genügte dem Babylonier nicht. Sicherer als all dies war ihm die »Beschwörung«, hinter welcher der menschenfreundliche Ea, der »Obermagier« stand und als Vermittler zwischen ihm und den Menschen sein Sohn Marduk. Die Beschwörung handhabte der Beschwörungspriester, der »Maschmaschu«, ein sumerisches Wort, wie auch die Dämonennamen meist sumerisch sind, was wieder für das hohe Alter der ganzen Anschauung spricht. Es gab sogar einen »Rab-Maschmaschu«, einen »Oberbeschwörer«. Ähnlich dem Ritual, wie wir es schon bei der »Leberschau« angeführt haben, gibt es auch ein fast völlig erhaltenes, sehr ausführliches Ritual über das ganze Beschwörungszeremoniell, das bei einem erkrankten König verwendet wurde. Nur seines Umfangs wegen kann es hier nicht abgedruckt werden. Zwischen Reinigungen, Opfern, Gebeten aller Art stehen die eigentlichen Beschwörungsformeln. Ihnen geht eine Schilderung des Dämons und seines Treibens meist voraus, der aber zuweilen schon direkt die Formelsprache der eigentlichen Beschwörung zeigt. So heißt es in einem Beschwörungstext von den » bösen Sieben«:
Sieben sind sie, sieben sind sie! In der Tiefe des Ozeans, sieben sind sie! Lagernd im Himmel, sieben sind sie. In der Tiefe des Ozeans, in einer Behausung wachsen sie heran. Nicht männlich sind sie, nicht weiblich sind sie. Sie, vernichtende Wirbelwinde sind sie. Ein Weib haben sie nicht genommen, Kinder haben sie nicht gezeugt. Schonung und Mitleid kennen sie nicht, Gebet und Flehen hören sie nicht, Rosse, die im Gebirge aufgewachsen sind, sind sie. Sie sind die feindlichen Gewalten des Ea, die Thronträger der Götter sind sie. Den Steig zu zerstören, treten sie auf die Straße. Böse sind sie, böse sind sie! Sieben sind sie, sieben sind sie, zweimal sieben sind sie!
Zuweilen weitet sich die Beschwörung zu einem Hymnus auf den angerufenen Gott, um ihn dadurch besonders willig zu machen. Etwa so, wenn Nusku, der Feuergott, angerufen wird:
Nusku, großer Gott, Fürst der großen Götter,
Hüter der Opferspenden aller Igigi (himmlische Geister),
Begründer der Städte, Erneuerer der Heiligtümer,
Glänzender Tag, dessen Befehl erhaben ist;
Bote Anus, der du Bels Befehle ausführst,
Der du dem Bel (Marduk) gehorchst, Fürst, Berg der Igigi,
Mächtig im Kampf, dessen Angriff gewaltig ist,
Nusku, Verbrenner, Bezwinger der Feinde,
Ohne dich wird kein Festmahl im Tempel gehalten,
Ohne dich weihen die Götter kein Rauchopfer,
Ohne dich richtet Schamasch, der Herr, kein Gericht,
Ich, dein Diener N. N., der Sohn des N. N.,
Dessen Gott X und dessen Göttin Y ist (Schutzgötter),
Ich wende mich zu dir, ich suche dich auf, ich erhebe meine Hände zu dir, ich werfe mich vor dir nieder.
Verbrenne den Zauberer und die Zauberin,
Das Leben meines Zauberers und meiner Zauberin möge vernichtet werden!
Laß mich leben, daß ich dich preise und dir in Ergebenheit huldige!
Die eigentlichen Beschwörungsformeln aber sind meist knapp und in einem straffen Rhythmus gehalten:
Erde, Erde, ja Erde,
Gilgamesch ist der Gebieter eurer Zauberei!
Was ihr getan, das weiß ich,
Was ich tue, das wisset ihr nicht,
Alles Unheil meiner Zauberei ist gebrochen, gelöst, ist fort.
O du, die du mich gebannt hast,
O du, die du mich behext hast,
O du, die du mich bezaubert hast usw.
Oder:
Das Drangsal, ja das Drangsal,
Das gewaltige Drangsal der Menschheit,
Das wie der Löwe den Menschen packt,
Das wie das Netz den Helden bedeckt usw.
Oder:
Koche, koche, brenne, brenne!
Schlechter und Böser, gehe hinein (ins Feuer) mache dich fort!
Wer bist du: Wessen Sohn? Wer bist du: Wessen Tochter? usw.
Wer je auf dem Lande gelebt hat, den werden solche Formeln an »Besprechungen« erinnern, wie sie heute noch, namentlich in katholischen Ländern, bei kranken Menschen und krankem Vieh geübt werden.
Babylonisch lautet ein Zauberspruch z. B. so:
ki
rischti, libiki,
rischti la libiki
la libi
pisch
pischti scha anzischti
scha anzisch
schu anzisch
anzisch
Der Gelehrte sagt dazu, die Kraft eines solchen Zauberspruchs liege offenbar in der Aufzählung gewisser geheimnisvoller, aber unverständlicher Worte. Ob sie dem babylonischen Priester wirklich so unverständlich waren wie einem heutigen Assyriologen, mag dahingestellt bleiben, uns fällt dabei unwillkürlich der Couéismus ein. Coués Zauberformel heißt bekanntlich ça passe, es geht vorüber. Coué sagt, die ça passe soll schnell »heruntergebetet« werden wie ein katholischer Rosenkranz. Es gäbe dann einen »insektenartigen Ton«. Seit den Erfolgen Coués bemüht sich jedes europäische Volk, das ça passe in seine Sprache zu übersetzen.
Der Deutsche z. B. übersetzt: »Es geht vorüber, es geht immer besser und besser.«
Ein »insektenartiger Ton« läßt sich so jedenfalls nicht erzeugen. Es ist eben ein französischer »Zauberspruch«, der sich nicht ohne weiteres übersetzen läßt. Aber selbst wenn jemand Französisch beherrscht, kann er nicht dieselbe Wirkung haben, denn was für jeden geborenen Franzosen bei dem ça passe mitklingt, z. B. passion als Leid und Leidenschaft, klingt bei einem anderen eben nicht mit.
Um einen babylonischen Zauberspruch voll zu werten, müßte man Sumerisch sprechen können, wie ein Altbabylonier aus dem 3. Jahrtausend vor Christus. Das kann aber auch der gelehrteste Assyriologe von heute nicht. Die Wissenschaft kombiniert zwar die Aussprache nach der Art anderer Völker des Altertums, babylonische Namen auszusprechen, aber das ist keine sehr zuverlässige Grundlage. Gerade die Aussprache ist bei einer magischen Formel von besonderer Bedeutung. Ferner müßten all die sprachlichen Assoziationen mitklingen, die dem Babylonier dabei so selbstverständlich waren, wie dem Franzosen sein ça passe. Ferner müßte man den Rhythmus, die Lautstärke, die Körperhaltung, die dazu gehörenden Gesten kennen und schließlich auch die dazugehörige Musik. Wir haben Beschwörungstafeln für den »Sänger«; und das »starke Kupfer«, vermutlich eine Pauke, spielt dabei ebenfalls seine Rolle. Die aufgeschriebenen Vokabeln sind also gewiß nicht das allein Entscheidende. Deshalb trug die babylonische Priesterschaft auch keinerlei Bedenken, solche Rituale und Zaubersprüche aufzuschreiben. Es kam ja nicht nur auf den Wortlaut, sondern auf mancherlei Begleitumstände an. So mußten z. B: manche Worte »nachts bei Fackelbeleuchtung aufgezählt«, rhythmisch hergesagt oder »mit flüsternden Stimmen« ins Ohr geraunt oder auf den erkrankten Körperteil hingesprochen werden. Aber in welchem Rhythmus, in welcher Tonstärke, unter welcher Musikbegleitung, das wurde verschwiegen. Es wird auch gesagt, daß der eine Spruch dreimal, ein anderer siebenmal »aufgezählt« werden muß, um wirksam zu sein. Aber in welchem Rhythmus und ob bei jeder Wiederholung in demselben oder einem anderen Rhythmus und dergleichen, das bleibt das Geheimnis des Beschwörungspriesters, das offenbar nur mündlich vom Lehrer an den Schüler weitergegeben wird, aber nicht schriftlich. Wenigstens besitzen wir darüber klare und eindeutige schriftliche Mitteilungen bis jetzt nicht. Auf solchen Nebenumständen aber lag bei aller Magie stets ein Hauptgewicht, auf ihnen beruhte, wie wir heute sagen würden, die suggestive Kraft des Zauberspruchs. Wie Hans Blüher, von Beruf Nervenarzt, in seinem ausgezeichneten »Traktat über die Heilkunde« sagt, als er auf Coué zu sprechen kommt: »Zaubersprüche sind allogisch gebaut, das heißt, sie haben nur im Nebenberuf einen rationalen Sinn, wirken aber durch ihre eigentümliche Wort- und Silben Stellung sowie durch ihren musikalischen Gehalt ... Solche Formeln wollen gefunden sein, und man kann sie nicht erdenken. Coué, der Glückspilz, hat eine solche Formel gefunden, die ein Heilungszauberspruch ist.«
In diesen Zusammenhang gehört meines Erachtens auch ein medizinisches Buch von Dr. Eduard Weiß, Arzt in Pistyan, dem kein geringerer als Geheimrat Krauß in Berlin das Vorwort geschrieben hat. Es heißt »Diagnostik mit freiem Auge« und handelt in der Hauptsache von einer, wie wir sonst sagen würden, durchaus sinnlosen Silbe, nämlich von der Silbe »Kit«. Spricht man diese sinnlose Silbe einige Male langsam hintereinander, so wölbt sich beim Sprechansatz die Lunge zwischen den Rippen ein wenig vor, die Brustwand hebt sich und senkt sich, und die Weichteile in den Zwischenrippenwänden flattern für ein gut beobachtendes Auge auf und nieder. Diese Erscheinung hört natürlich da auf, wo die Lunge aufhört. So kann man mit bloßem Auge »sehen«, wie weit die Lungen reichen und die Organe über und unter dem Zwerchfell abgrenzen. Aber auch Veränderungen an der Lunge kann man dabei »sehen«, weil Eiteransammlungen die Bewegung mitmachen, feste Schwarten aber nicht. Man vermag also mit Hilfe der Silbe »Kit« die Größe und Konsistenz eines Exsudats festzustellen, sein Wachstum und die Stelle, an der sich Eiter befindet. Aber auch am Bauch und am Rücken gibt es beim Sprechen des »Kit« Rumpfmuskelbewegungen, durch die sich manche Erkrankungen der Bauchhöhle früh erkennen und lokalisieren lassen. Dem Arzt in Pistyan ist das 1902 einmal aufgefallen. Seitdem hat er mit unendlicher Geduld ein Vierteljahrhundert lang Tausende von Menschen die Silbe »Kit« sprechen lassen, sie dabei genau beobachtet und dann die Resultate dieser Beobachtung in seinem Buch zusammengestellt. Dr. Weiß erzählt z. B. aus der Praxis mit dem »Kit« von einer jungen Dame, die erfolglos von Arzt zu Arzt und Klinik zu Klinik rannte. »Ich lasse die Dame in nicht zu raschem Nacheinander das Wort »Kit« sprechen, nachdem die Untersuchung an einer Stelle zwischen Wirbelsäule und Schulterblatt eine kleine Dämpfung ergeben hat. Die Dämpfung wird bei der Silbe »Kit« nicht bewegt, rührt sich nicht. Endlich merke ich, wie sich mitten im ruhenden Felde eine Stelle, nicht ganz so groß wie ein Fingernagel, beim Sprechen kaum merklich bewegt. An dieser Stelle wird eingestochen, durch die Nadel entleert sich Eiter. Jetzt ist die Diagnose klar: eine Wirbelkaries mit Senkungsabszeß. Die Patientin bekommt einen Gipsverband und wird gesund.« Lesen wir die Silbe »Kit« irgendwo sonst, so wird der eine dazu sagen: sinnlos, ein anderer mit überlegenem Achselzucken: vielleicht eine Zaubersilbe, also ein Humbug. Jetzt aber ist gerade ein Arzt hinter den diagnostischen Wert dieser Silbe gekommen, mag sie sonst auch sinnlos erscheinen, oder in einem alten Text als Zauberhumbug gedeutet werden. Am Ende hatte aber manche Silbe in Zaubersprüchen alter Zeiten, an denen wir achtlos vorübergehen, für die Priestermedizin ebenfalls diagnostischen Wert? Der Arzt war ja damals sicherlich noch nicht so stumpf durch allzu reichliche Buchweisheit geworden wie heute, wo auch der Ungebildete unendlich naturfern ist Weshalb bedeutet dem Inder sein » mantram« etwas? Nur deshalb, weil er noch nicht hinreichend »aufgeklärt« ist? Weshalb waren für die alten Germanen die Runen so etwas Geheimnisvolles? Nur deshalb, weil sie noch nicht das Glück kannten, unsere Schulbänke drücken zu dürfen? Nach der Couéschen Methode wird heute übrigens in der Hydrotherapeutischen Anstalt der Berliner Universität mit Erfolg geheilt.
Ein altbabylonischer Zauberspruch bleibt uns also in seinem Wesentlichsten verschlossen. Ihn sinnlos oder unverständlich zu finden, ist das gute Recht jedes Rationalisten. Ein moderner Nervenarzt sieht vielleicht das Wesentlichste in der suggestiven Kraft und Wirkung einer solchen Formel und der Begleitumstände, die mit ihr verbunden sind. Dabei ist zu bemerken, daß hier wieder einmal ein lateinischer Name für eine nicht erklärte Sache als scheinbare Erklärung steht nach dem humoristischen Musterbeispiel von Fritz Reuter, daß die Armut von der Pauvreté kommt. Was Suggestion ist, hat noch niemand definiert. Ebensowenig, was Hysterie ist. Aber es gibt nicht viele Menschen von heute, die sich nicht trotz allem Rationalismus an fremdsprachigem Namenszauber vollauf genügen lassen.
Was ich wahrnehme, kann ich beschreiben und umschreiben, aber nicht definieren. Erst wenn ich aus vielen Wahrnehmungen eine Vorstellung gewonnen habe, ziehe ich von ihr einen Begriff ab, abstrahiere, und erst diesen Begriff vermag ich zu definieren nach den Gesetzen der Logik. Nicht einmal einen Tisch, der vor mir steht, kann ich ohne weiteres definieren. Ich kann ihn zunächst nur beschreiben. Erst wenn ich viele Wahrnehmungen von Tischen gemacht habe, gewinne ich eine Vorstellung von dem, was Tisch ist, und so einen Begriff von ihm, den ich jetzt endlich definieren kann. Unter diesen Begriff muß alles fallen, was irgend Tisch gerannt werden darf. Nehme ich einen Tisch wahr, der sich nicht unter dem abgezogenen, abstrahierten Begriff von allen Tischen, die je wahrgenommen wurden, einordnen läßt, so ist entweder der Begriff falsch, oder das, was ich wahrnehme, ist nur scheinbar ein Tisch und in Wirklichkeit etwas anderes. Definiere ich jetzt einmal einen Tisch, der gerade vor mir steht, nach dem Begriff vom Tisch, wie ich ihn aufgrund vieler Wahrnehmungen oder, was meist der Fall sein wird, aus der Vorstellung vieler Bücher über ihn gewonnen habe, so wird jeder beobachten können, wieviel bei diesem Verstandesprozeß für den Tisch, der vor mir steht, verlorengeht, was doch unbedingt zu ihm gehört, z. B. seine braune Farbe, seine besondere Politur, seine geschwungenen Beine, das Holz, aus dem er gemacht ist, die Beleuchtung, in der er gerade steht, kurz alles das, was mir diesen Tisch, wie er gerade vor mir steht, erst so recht anschaulich, wirklich, ich möchte fast sagen: lebendig macht. Gilt das von einem unbelebten Ding wie einem Tisch, so gilt es natürlich erst recht von allem, was lebt. Die Logik tötet das Leben. Das ist eine so selbstverständliche Nebenwirkung ihrer Tätigkeit, daß wir es gar nicht mehr merken. Ein rationalistisches Zeitalter konnte diese vergessen, weil es sich an Vorstellungen genügen läßt, die zu Buche gebracht sind; und so kann es geschehen, daß eine Zeit Vorstellungen auf Kosten der Wahrnehmung für Wirklichkeit hält, die doch nur Abstraktionen von Vorstellungen sind, und daß der geniale Schopenhauer mit seiner »Welt als Vorstellung« direkt ins Nichts hineinspringt, das es auch nur für den Verstand gibt. Sollte der Rationalist von heute wirklich einmal etwas wahrnehmen, was nicht zu seinen Vorstellungen und Begriffen paßt, so wird er nicht seine Vorstellungen und Begriffe an der Wahrnehmung berichtigen, sondern er wird die Wahrnehmungen so lange in das Prokrustesbett seiner Vorstellungen und Begriffe pressen, bis daraus z. B. eine Halluzination, eine Vision, eine Nervenüberreizung, eine Autosuggestion oder dergleichen geworden ist und er wieder getrost in seinem Prokrustesbett neben ihr weiterschlafen kann, denn Halluzinationen, Visionen, Suggestionen, Nervenüberreizungen sind keine Wirklichkeiten wie Vorstellungen und Begriffe, sagt der echte Rationalist, sondern »Einbildungen«, krankhafte Zustände, Verdauungserscheinungen oder dergleichen. Es soll damit beileibe nicht behauptet werden, daß sie das nicht auch sein können. Es soll nur darauf hingewiesen werden, daß eine Wahrnehmung nicht unter allen Umständen damit »erklärt«, definiert ist, daß man ihr ein fremdsprachiges Etikett aufklebt. Wir müssen gerade heute mehr denn je von altgewohnten, rationalistischen Vorstellungen und Begriffen wieder zu den Wahrnehmungen selbst zurückfinden, und zwar möglichst mit Hilfe der Naturwissenschaften. Deshalb wird in diesem Buch viel beschrieben und wenig definiert.
Jahrtausende babylonischer Geschichte sind voll von Dämonen, bösen Geistern, Krankheiten, die ihnen zugeschrieben werden, und gegen welche Zaubersprüche mannigfachster Art vom Maschmaschupriester als Medizin angewendet werden. Daß der heutige Mensch mehr von chemischen Präparaten hält, kann auch nur ein Aberglaube sein, der jedenfalls industriell nicht weniger hervorragend ausgebeutet wird, als in alexandrinischer Zeit z. B. der Orakelglaube durch Alexander von Abonuteichos ausgebeutet wurde, der damit römische Kaiser in blutige Kriege trieb, reichen, aber dummen Senatoren das Gold aus der Tasche zog und schließlich das ganze Orakelwesen im Imperium zu einem Trust vereinte, der ihm tributpflichtig war, wenn wir dem Lucian, der dem Mann eine eigene Monographie gewidmet hat, glauben dürfen. Aber weil jener Alexander von Abonuteichos eine Art recht schwindelhafter Cagliostro der alexandrinischen Zeit war, deshalb muß doch nicht alles, was altbabylonische Priester trieben, auch Schwindel gewesen sein. Das ça passe von Coué läßt uns das ahnen. Was das Wesentliche dabei ist, kann bei Blüher nachgelesen werden.
Fiel bei der Betrachtung babylonischer Dämonengestalten auf, wie anschaulich sie im Vergleich zu mittelalterlichen wirken, als seien sie einmal wirklich wahrgenommen und nicht erst nachträglich aus einer babylonischen Theologie konstruiert worden, so wird auch diese Möglichkeit durch neueste wissenschaftliche Experimente gestützt. Ein Hochschullehrer für experimentelle Chemie hat jahrelang mit sich selbst experimentiert, um hinter das Wesen magischer (parapsychologischer) Phänomene zu kommen. Medien traute er nicht, auf sich selbst aber glaubte er sich als experimenteller Naturwissenschaftler verlassen zu können. Der Entschluß war um so heroischer, als er ohne besondere Schulung und Anleitung sich zu den Experimenten mit sich selbst entschloß und mit äußerster Zähigkeit auch dabeiblieb, als er in schwerste Nervenstörungen geriet und dem Irrsinn nahekam. Er hat darüber ein wertvolles Buch veröffentlicht, das alle an ihm von sich selbst erlebten magischen Phänomene rein rationalistisch zu erklären versucht. Weil das Buch zahlreiche Anleitungen zu solchen Experimenten gibt, sei es hier nicht genannt, um unerfahrene Leser nicht zu für sie gefährlichen Versuchen zu ermuntern. Dieser Chemieprofessor berichtet in seinem Buch unter anderem folgendes:
»Wenn ich mit dem Gewehr auf dem Rücken herumstreifte, kam ich nur allzuhäufig wieder ins Grübeln und Studieren über meine Geister, Teufel und magische Phänomene überhaupt, besonders, wenn sich keine Jagdbeute zeigen wollte, so daß die Erholung oft nur eine sehr zweifelhafte war und sich immer wieder Illusionen und Halluzinationen einstellten. Statt der Elstern (auf die er jagte) sah ich häufig da und dort auf Bäumen und Sträuchern in schattenhaften, aber ganz deutlichen Umrissen Spottgestalten sitzen, dickbäuchige Kerle mit dünnen, krummen Beinen, langen, dicken Nasen, oder langrüsselige Elefanten, die mich anglotzten. Auf dem Boden schien es manchmal von Eidechsen, Fröschen und Kröten zu wimmeln. Bisweilen waren sie phantastisch groß. Alle möglichen Tierformen und Teufelsgestalten umgaben mich. Jeder Strauch, jeder Zweig nahm abenteuerliche, mich ärgernde Formen an. Ein andermal schien auf jedem Baum, auf jedem Strauch eine Mädchengestalt zu sitzen, jedes Schilfrohr sich mit einer solchen umgeben zu wollen ... Sehr häufig entstand bei der Elsternjagd eine eigenartige Mischwirkung. Ich sah vielfach auf den Bäumen Phantasieelstern sitzen, am hellen Tag, selbst wenn ich mit dem Fernglas scharf zusah, besonders aber am Abend. Namentlich abends schoß ich öfters auf dieselben, und wenn dann natürlich nur ein paar dürre Blätter herunterfielen, wurde ich innerlich aufs ärgste verspottet. Hatte ich tatsächlich eine Elster geschossen, dann sah ich zeitweilig im Gebüsch bald da, bald dort eine Phantasieelster, so daß mir das Auffinden der wirklichen abends bedeutend erschwert wurde.«
Das erlebte ein moderner Chemiker, der für sein Fach auf Wilhelm Ostwald schwört, der nicht nur ein bedeutender Gelehrter, sondern seit Haeckels Tod bekanntlich auch der Führer der Monistenbewegung ist. Wenn ein solcher Mann »Illusionen und Halluzinationen« hatte, die sogar auf der Jagd seinem Fernrohr standhielten, wenn ein solcher Mann aufgrund magischer Experimente mit sich selbst in der Natur »Spottgestalten, dickbäuchige Kerle, Elefanten usw.« sieht, ein Mann mit dem geschärften, zugespitzten Verstand eines experimentellen Naturwissenschaftlers von heute, weshalb sollte in Babylonier von vor fünftausend Jahren, dem die magischen Kräfte noch nicht so sehr vom Verstand eingeengt oder unterdrückt waren wie einem heutigen Gelehrten, nicht dasselbe und noch einiges mehr haben wahrnehmen können? Wenn wir ein Mikroskop nötig haben, um im menschlichen Mund oder im Wassertropfen tausend lebendige Wesen wahrzunehmen, weshalb soll der natursichtige Mensch nicht ein natürliches Makroskop im Stirnauge besessen haben, um im Weltraum mehr wahrzunehmen als wir, die wir nur noch eine durch das Gehirn zurückgedrängte Zirbeldrüse besitzen? Da aber der Verstand noch nicht bei dem Babylonier vorherrscht, konnte er sich darüber auch nicht in der Begriffssprache verständigen, sondern nur in der Symbolsprache der Mythen. Aber unser Chemieprofessor bezeichnet derlei als Sinnestäuschung, unfreiwillige Sinnesempfindung oder, gelehrt ausgedrückt, als »Halluzination« und beruhigt sich dabei. weil er das Erlebnis damit in das Prokrustesbett seines modernen Weltbildes glücklich hineingepreßt hat. Das ist um so merkwürdiger, als er daneben von Erlebnissen aufgrund magischer Experimente erzählt, die auch nach seiner Beobachtung nicht durch besagtes Fremdwort erklärt sind. So nahm z. B. seine Mutter, ohne von dem magischen Experiment ihres Sohnes zu wissen, als sie ganz unbefangen in sein Zimmer trat, in bestimmten Fällen dasselbe wahr, wie der mit sich selbst experimentierende Sohn, was bei ihr weder eine subjektive Sinnestäuschung noch eine unfreiwillige Sinnesempfindung sein konnte. Ja, unser Experimentator berichtet sogar, daß es ihm nach besonderem Training gelang, aus sich heraus in einer Dunkelkammer einen Lichtschein zu erzeugen, den auch ein anderer sah, was ihm beweist, daß es sich hier nicht mehr um eine »Halluzination« gehandelt haben kann, sondern um eine Wirklichkeit, da sie auch eine zweite, gänzlich unbeteiligte Person wahrnahm. Die natürlich rein rationalistische Erklärung solcher »Tatsachen« interessiert uns hier weniger als die Tatsache selbst, denn wir haben uns noch kein alleinseligmachendes Prokrustesbett zurechtgelegt, bei dem unser Wissensdrang jederzeit mit einem lateinischen Wort auf den Lippen zur Ruhe kommen kann. Aber selbst wenn dieser Professor einen Kollegen von der naturwissenschaftlichen Fakultät mit auf die Elsternjagd genommen und auch dieser plötzlich dickbäuchige Kerle oder Mädchengestalten in den Bäumen wahrgenommen hätte, würde ein heutiger Rationalist von reinstem Wasser schon wieder ein lateinisches Wort zur Beruhigung des Verstandes bei der Hand haben: Suggestion, was von einreden herkommt. Aber selbst, wenn ein Dutzend wissenschaftlicher Zeugen dafür einträte, daß dem Kollegen nichts »eingeredet« worden sei, käme der eingefleischte Rationalist immer noch keinen Augenblick aus der überlegenen Ruhe seines Verstandes, der für diesen Fall wieder ein Wort zur Verfügung hat, diesmal ein deutsches, das ein besonders glückliches wissenschaftliches Schlafpulver darstellt und Unterbewußtsein heißt, womit jedermann machen kann, was jedermann will. Wir halten uns, wie gesagt, lieber an die Wahrnehmungen, die noch heute durch magische Experimente hervorgerufen werden können, und vergleichen sie mit dem Dämonenglauben der Babylonier, der sich um dieselben Wahrnehmungen gruppiert, wobei uns die babylonischen Erklärungsversuche für den Augenblick nicht mehr interessieren als die allermodernsten von heute. Ist uns doch, wie schon das Motto dieses Buches sagt, Magie zunächst einmal »praktische« Metaphysik, nicht theoretische.
War das Reich der Dämonen dem Babylonier eine Wirklichkeit und sein Hauptmittel im Kampf gegen die bösen Dämonen die Beschwörung, sei es durch ein langes Zeremoniell, sei es durch eine knappe Formel, die schon zu Gudeas Zeiten durch Schüler, die den Priestern aus der Schule liefen, schwer mißbraucht wurden, oder durch andere Leute, die magische Formeln und Riten zum eigenen Vorteil und zum Schaden Dritter anwandten, so steht ganz folgerichtig neben dem offiziellen Beschwörungspriester, dem guten Helfer gegen die Dämonen, als sein erbittertster Feind der Zauberer, der Hexer und die Hexe. Wo es weiße Magie gibt, ist die schwarze niemals fern. Der mittelalterliche Mensch würde sagen: Wo Gott wahrgenommen wird, ist auch der Teufel in der Nähe. Freilich werden in rationalistischen Zeiten beide geringgeachtet, und sicherlich sind beide noch nie so wenig sichtbar geworden wie im 19. Jahrhundert. Aber was beweist ein Jahrhundert unter Jahrtausenden, wenn man nicht dem äußerst primitiven Gedanken huldigt, daß das 19. Jahrhundert als das bis jetzt späteste schon deshalb das wertvollste sein müsse.
Nach altbabylonischer Anschauung waren die bösen Dämonen die Urheber aller Krankheiten wie nach der Anschauung des 19. Jahrhunderts Bazillen und Bakterien. Der Babylonier sprach von Besessenen wie wir von Infizierten; und wie man heute desinfiziert, so exorzierte man damals. Nur daß der Maschmaschu beim Exorzismus auch noch desinfizierte, wie die Ritualtafeln zeigen (Waschen, Räuchern), während wir nur noch desinfizieren, ohne auch magische Formeln anzuwenden. Kein Wunder, daß damals der Maschmaschu ein ebenso wichtiger Mann war, wie heute der Arzt. Sowenig man aber heute den guten Arzt verachtet, weil sich die Pfuscher noch breiter machen, sowenig sollte man den Maschmaschu und seine Medizin schon deshalb geringschätzen, weil sich Zauberer und Betrüger auch im alten Babel breitmachten. So kodifiziert schon Hammurabi in seinem berühmten Gesetzbuch einen Brauch gegen die Zauberer, der genau der mittelalterlichen »Wasserprobe« entspricht. Wer nämlich der Zauberei bezichtigt wurde, »soll in den Strom eingetaucht werden«. Geht er dabei zugrunde, »so wird der, der ihn bezichtigt hat, sein Haus davontragen. Bleibt er aber unversehrt, so wird der, der ihn in den Verdacht der Zauberei gebracht hat, getötet, und der, der in den Strom eingetaucht ist, wird das Haus dessen, der ihn bezichtigt hat, davontragen«.
Aus der riesigen babylonischen Beschwörungsliteratur erfahren wir ferner ganz genau, vor allem durch die sogenannte Maklu-sammlung (Maklu heißt Verbrennung), die Praktiken der Zauberer und Hexen, hören von ihrem »bösen Blick«, ihrem »bösen Wort«, und von der geknoteten Schnur, die »den Mund des Menschen füllt«. In ihrem Innern wird das unheilvolle Wort ersonnen, auf ihrer Zunge ist Zauber, auf ihren Lippen Hexerei, auf ihrer Fußspur tritt der Tod einher. In so undämonischen Zeiten wie heute können wir uns allerdings kaum noch eine Vorstellung von jenen dämonischen Jahrtausenden und ihren Nöten und Schrecken machen. Eines ist für uns besonders interessant und besitzt am Ende doch nicht nur den Kuriositätswert, den es auch für heutige Gelehrte noch haben mag, nämlich die magischen Manipulationen, die sowohl von den Beschwörungspriestern wie von ihren Feinden, den Zauberern und Hexen, mit Bildern vorgenommen wurden, der sogenannte Bildzauber. Das bis jetzt älteste Beispiel dafür, das bekannt wurde und in die älteste Dynastie von Babel datiert wird, ist eine Beschwörung der Labartu, die besonders erpicht auf das Blut von Menschen, Tieren und vor allem kleiner Kinder ist. Bei dieser ältesten Labartubeschwörung wird eine Terrakottafigur der Labartu gemacht, in die man die Unholdin aus dem Körper des Kranken in das Bild hinüberlockt. Zu diesem Zweck setzt man neben die Figur Brot, Wasser, Speisen und Salbbüchsen und zieht ihr jeden Tag ein neues Kleid an. Vor allen Dingen aber steckt man der Figur das Herz eines Ferkels in den Mund, ein Leckerbissen, dem die Dämonin nicht widerstehen kann. Drei Tage dauert es, bis Labartu aus dem Kranken in das Bild hinübergelockt ist. Dann wird die Figur mit dem Schwert getötet und bei der Mauer vergraben oder in die Wüste gebracht und an Dornen und Disteln aufgehängt oder aber zusammen mit zwei weißen und zwei schwarzen Hunden (entsprechende Figürchen) in ein Schiffchen gesetzt, das mit Hilfe eines Zaubers übers Meer fortfährt. So ungefähr erzählt ein bekannter Assyriologe mit einem etwas ironischen Unterton den auf der Tafel geschilderten Vorgang. Um ihn noch etwas mehr ins Kindlich-Kindische zu ziehen und damit seinen Lesern verständlicher zu machen, spricht er nicht von einer Figur, sondern von einer Puppe. So wird das Ganze für den klugen Erwachsenen von heute zu einem kindlichen babylonischen Puppenspiel, womit es zwar echt rationalistisch gedeutet, aber auf einen ganz falschen Ton gestimmt wird, der zwar lachen macht, aber das Wesentliche mehr verdunkelt als erhellt. Mit diesem Ton könnte man nicht nur die Welt babylonischer Dämonen, sondern die ganze babylonische Weltanschauung zu einer Puppenkomödie machen, womit es nicht mehr allzuweit ist bis zu jenem jungen Gelehrten, der die Sintflut aus dem Urindrang schlafender Kinder erklärt. Unser Assyriologe weiß natürlich, daß nicht nur die böse Dämonin Labartu, sondern auch die höchsten Götter nach babylonischem Ritus regelmäßig Speis und Trank, eben Opfer erhalten, und daß ihre Figuren ebenso wie die Labartu-»Puppe« bei allen möglichen festlichen Gelegenheiten mit neuen Gewändern gekleidet werden, worüber er an anderen Stellen so tiefsinnig zu reden weiß wie andere Assyriologen auch. Da ihm aber der Bildhauer ganz wider den Strich geht, muß er das im Falle der Labartu, einer Art Vampir, wenigstens durch Ironie und eine ungewöhnliche Ausdeutung des Opferritus bekanntgeben. Das Besondere ist in diesem Fall natürlich die Zauberhandlung, durch welche der böse Dämon in ein Bild gebannt und durch Vernichtung des Bildes unschädlich gemacht wird. Dabei kommt es in erster Linie selbstverständlich weder auf Speis und Trank noch auf neue Puppenkleider an, sondern wie immer auf die magische Formel und auf ihre eigenartige Anwendung. Diese Verwendung von Formel und Bild findet sich aber nicht nur bei Labartu und vielen anderen bösen Dämonen, sondern auch bei großen Göttern. Aus einem Sühneritual für den König geht hervor, daß man im Hause des Priesters ein Götterbild herstellte, ihm opferte, räucherte, die Zeremonie der »Mundöffnung« und »Mundwaschung« an ihm vornahm wie bei jeder Weihung von Götterbildern, es in geweihtem Wasser wusch und dann die Formel zu dem Bild sprach: »Von dieser Stunde an sollst du zu Ea, deinem Vater, gehn (als Fürsprecher für den kranken Menschen), dein Herz sei fröhlich, dein Sinn sei freudig, Ea, dein Vater, sei angesichts deiner voll Jauchzens!« Dreimal hat der Beschwörungspriester das zu sprechen, worein sich dann eine ganze Anzahl weiterer Zeremonien anschließt
Aus einem anderen Beschwörungstext erfahren wir, daß Götterbilder auch an Krankenbetten zu Häupten, rechts und links, zu Füßen, am Hauseingang aufgestellt werden, »damit nichts Böses naht«, ja daß z. B. ein Mardukbild selbst als Beschwörer funktioniert. Aus wieder einem anderen Text scheint hervorzugehen, daß ein vornehmer Kranker sich auch durch sein Bild bei der Zeremonie vertreten lassen konnte. Nach dem leider unvollständig erhaltenen Text sind in der Nähe der Bilder von Ea, Schamasch und Marduk im Tempel noch das Bild eines Mannes und eines Weibes aufgestellt worden. Der Beschwörer sagt zu den ihm unbekannten Dämonen, die den Kranken peinigen: »Ihr da, alles Böse, alles Ungute, das den N. N., Sohn des N. N., ergreift und verfolgt: wenn du männlich bist, so sei dies dein Weib, wenn du weiblich bist, so sei dies dein Mann.« Der Dämon soll also offenbar je nach seinem Geschlecht durch die magische Formel in eines der beiden Bilder gebannt werden, die man dann vernichtet. Wir erinnern uns dabei an die Teufelsaustreibung Jesu, Markus 4, wo die Teufel (Dämonen) aus den Kranken in eine Herde Säue (unreine Tiere) fuhren.
Aus der schon erwähnten Maklu-Sammlung erfahren wir nun auch, daß sich der Zauberer und die Hexe für ihre unheilvollen Zwecke ebenfalls der Bilder bedienen. Die Hexe sitzt im Schatten der Mauer und fertigt ein Bild dessen an, den sie behexen will. Als Material benutzt sie Wachs, Honig, Ton, Asphalt, Sesam, Mehl, Binu- und Zedernholz, Bronze, kurz lauter Stoffe, die auch von Priestern für Götter- und Dämonenbilder verwendet werden. Verwendet der Priester sie zum Heil, so der Zauberer, die Hexe zum Verderben der Menschen. Material, das nicht auch der Priester verwendet, kommt nicht in Betracht, da es offenbar unwirksam oder weniger wirksam zum bösen Zweck ist. Hier stoßen wir auf den Gedanken, der überall und jederzeit aller schwarzen Magie wesentlich ist. Zur heidnischen Zeit besonders deutlich bei den Etruskern, zur christlichen Zeit bei allen »Satanisten«, die z. B. ohne geweihte Hostie nicht auskommen können. Hat die babylonische Hexe das Bild gefertigt und ihm durch ihre Formeln magische Kraft verliehen, so begräbt sie das Bild bei den Toten, versteckt es in Särgen, legt es auf die Türschwelle, in Torwege oder auf Brücken, damit es die Leute zertreten und so den, welchen das Bild darstellt, dasselbe Schicksal ereilt wie sein Bild. Gegen die Hexen bedient sich dann wieder der Maschmaschu auch der Bilder, die verbrannt wurden, auf daß die Hexe dasselbe Schicksal erreiche wie ihr Bild.
Derselbe Bildzauber führt zu den schützenden Amuletten, die namentlich Kindern gegen die böse Labartu umgehängt wurden. So wurde der Mensch, um es ein wenig moderner und verständlicher auszudrücken, durch geweihte Amulette und Bilder gegen die bösen Einflüsse der Dämonen gefeit. Die Könige stellten vor ihre Paläste und die Priester vor ihre Tempel geflügelte Stier- und Löwenkolosse, die als Schutzgötter des Hauses Wache hielten (s. S. 41).
Wir haben in ihnen wahrscheinlich Vorläufer der Sphinxe zu sehen. Wer sich das nicht leisten konnte, begnügte sich zum Schutz des Hauses mit sogenannten »Papsukkalmännchen«, wie links eins abgebildet wird, und anderen »Bildern« aus Ton und anderem Material. Sehr beliebt für diese Zwecke müssen auch Tonmodelle von Hunden gewesen sein. Von alters her war bei den Babyloniern der Hund, der Begleiter der Göttin Gula, als Schutztier (besonders der Jagd) hoch angesehen. Noch aus altbabylonischer Zeit haben wir einen ausgezeichnet modellierten Hund aus schwarzbläulichem Steatit, der laut Inschrift ein Weihgeschenk des Königs von Ur, Sumu-ilu (um 2050 v. Chr.) an die Göttin Nin-Isin (Herrin von Isin) darstellte (unten).
Im Palast Assurbanipals (668-626 v. Chr.) wurden fünf solche Tonhunde gefunden, von denen jeder eine Aufschrift trägt, die ihre feindliche Dämonen vertreibende Bedeutung deutlich ausspricht. Bei dem hier abgebildeten heißt die Aufschrift: Besieger des Feindes (Seite 140).
Die anderen vier tragen die Inschrift: »Heraustreiber der Bösen«, »den Weg absperrend, Befehle ausführend«, »der seinen Feind beißt« und »sein Helfer richtet«.
Mit dem »Bildzauber«, der sich nicht nur bei Babyloniern, Ägyptern, Griechen, Römern, bei allen »Naturvölkern«, sondern auch noch hier und da unter naturnahen Schichten heutiger »Kulturvölker« findet, begeben wir uns nach Ansicht der Gegenwart auf ein Gebiet allerfinstersten Aberglaubens. Betreten wir es trotzdem möglichst ohne zeitgebundene Vorurteile, so müssen wir zunächst feststellen, daß alle antiken Völker, wie auch alle »Naturvölker«, an den Bildzauber fest geglaubt haben, wie auch weite Bevölkerungsschichten im ganzen europäischen Mittelalter, und daß ein solcher Glaube nicht Jahrtausende überdauern konnte, wenn er nicht auf Wahrnehmungen beruhte, die bestimmte Vorstellungen zur Folge hatten, woraus sich dann ein entsprechendes Weltbild mit der dazugehörigen Weltanschauung ergab. Erst die Aufklärung schuf den Grundsatz, daß »Glauben« unter keinen Umständen mehr auf Wahrnehmung beruhe, sondern nur noch auf einem Für-wahr-halten dessen, was der Aufgeklärte nicht wahrnimmt, also auf Selbsttäuschung oder bewußtem Schwindel. Erst seitdem wird dem Glauben im Gegensatz zum Wissen auch noch der Stempel des geistig und moralisch Minderwertigen aufgedrückt. Im Taumel der jung heraufkommenden Naturwissenschaften degradierte die Aufklärung alles, was die Naturwissenschaften nicht wahrnehmen, weil sie es nicht experimentell wiederholen kann, zu einem bloßen Für-wahr-halten, zum Aberglauben, im Gegensatz zu dem einzig zulässigen Wissen, welches nur das Experiment sichern kann. Alles Wissen aus anderen Quellen (Wahrnehmungen, Beobachtungen, Erfahrungen) verstößt gegen die Naturgesetze, welche die Aufklärung in Erbpacht genommen hat. Diese Anschauung beherrscht auch heute noch so tyrannisch alle Wissenschaft und Bildung, daß niemand, der ein wissenschaftliches Renomme zu verlieren hat, es ungestraft wagen darf, Wahrnehmungen aus Beobachtungen bekanntzugeben oder solche gar öffentlich zu vertreten, die den alleinseligmachenden, vom Rationalismus dekretierten »Naturgesetzen« zuwider sind oder ihnen auch nur zu widerstreben scheinen. Stände die Parapsychologie nicht, vor allem in Deutschland, ständig unter dieser Fuchtel, brauchte sie nicht all ihre Geisteskräfte nur darauf zu verwenden, ihre Wahrnehmungen und Beobachtungen an Sensitiven in Einklang zu bringen mit den »Naturgesetzen« des tyrannisch herrschenden Rationalismus, sondern behielte auch noch einige Geisteskräfte für die Sache selbst übrig, was nichts schaden könnte, weil sie damit zur Überwindung des herrschenden Rationalismus mehr leisten könnte, als sie tut.
Kehren wir nach diesem Versuch, wenigstens für den Leser dieses Buches die stickige Luft ein wenig zu reinigen, zum »Bildzauber« zurück, so beruht der antike »Glaube« an seine Wirksamkeit offenbar auf Wahrnehmungen des Einbildungsvermögens und seiner Kräfte, was Paracelsus Imagination nannte, was von Imago = Bild herkommt. Das Wort Einbildung hat der Rationalist um seinen ursprünglichen Sinn gebracht. So denken wir zunächst nur an das Sich-etwas-einbilden, also sich täuschen. So wird einer ein eingebildeter Mensch, und wenn wir Einbildung als gebildete Menschen, die von der »Wirklichkeit der Bilder« längst nichts mehr wissen, mit Phantasie wiedergeben, so steckt auch darin der Gedanke an Täuschung, schönen Trug oder dergleichen. Das ist aber nicht der eigentliche Sinn des Wortes Einbildung. Wie wir auch den ursprünglichen Sinn des Wortes »Bildung« nicht mehr beachten. Ein-bildung ist, um einen Ausdruck Goethes zu verwenden, geprägte Form.
»So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen und Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.«
Diese Einbildung, diese »geprägte Form« ist ein Werk der Natur, der ursprüngliche Charakter eines Menschen. Die natura naturans (Schöpfung) drückt der natura naturata (dem Geschöpf) eine Form ein. Aber wir sagten schon früher mit Schopenhauer, daß dies Geschöpf, Mensch genannt, sich dadurch von allen anderen Geschöpfen unterscheidet, daß es zugleich auch natura naturans, Schöpfer ist. Als solcher kann es seit dem Erwachen des Selbstbewußtseins seine »Einbildungskraft« zum Guten wie zum Bösen schöpferisch gebrauchen. Wie es letzteres in naturnahen Zeiten getan hat, beobachteten wir schon an dem Übermut, der »Hybris« mancher alten magischen Texte. Hier sehen wir Zauberer und Hexen bei demselben Werk, zu dessen besserem Gelingen die schöpferische Einbildungskraft noch ein Bild formt, denn dadurch wird das Vorstellungsvermögen stärker, ausschließlicher, angespannter auf ein sichtbar gemachtes Ziel gerichtet. Der heutige Verstandesmensch unterschätzt die Einbildungskraft in ihrem Gestaltungsvermögen (als prägende Form), wie schon Coués Methode zeigt. Was sie auch heute noch vermag, wenn der Verstand durch Erschütterungen in seiner Alleinherrschaft gehemmt wird, davon wüßten gerade Ärzte viel zu erzählen, wenn sie aus der Schule plaudern wollten, was sie nur selten tun.
Hierzu seien zwei Beispiele wiedergegeben, die der bekannte Berliner Chirurg Professor Schleich berichtet. Das erste aus seinen Lazaretterfahrungen im Weltkrieg: »Ein Unteroffizier, schwarz wie ein Italiener, mit dunklen brennenden Augen und schwer zähmbarem, wildem Temperament, kam zu uns mit beiderseits durchschossenen Oberarmkugeln und schweren Gelenkeiterungen rechts und links. Es gelang, ihn der Heilung nahezuführen, d. h., das Fieber war fort, an den Oberarmknochenstümpfen schon so weit Beweglichkeit, daß er wieder Mundharmonika spielen konnte. Da wurde ein Soldat ihm gegenüber ins Bett gebracht, mit Hirnschuß, fiebernd, halb bewußtlos, mit zeitweisen Krämpfen. Bei der Besprechung der Indikation zur Operation fiel in demselben Saal das unvorsichtige Wort: »Vielleicht ist es auch Tetanus!« Nun, es war nicht Tetanus, ein Stück Schädelknochen wurde entfernt, und der Patient genas, aber inzwischen, am dritten Tag nach Einlieferung des Kopfschusses, bekam unser Unteroffizier mit den fast verheilten Oberarmschüssen den ersten tetanischen Anfall. Und das vier Monate nach seiner Einlieferung! Alle Symptome waren vorhanden, nur Fieber fehlte. Wir spritzten ihm Antitoxin ins Rückenmark, ohne Erfolg. Mich machte der Anblick des Patienten stutzig. Wir machten die übliche, absolut zuverlässige Probe am Kaninchen mit dem Blutwasser des Rückenmarkkanals. Die Probe verlief negativ. Es waren auch keine Tetanusbazillen zu finden. Nach einigen Tagen dann Heilung durch kategorische Erklärung: »Es ist ja gar kein Wundstarrkrampf! Also: Der Fall war ein hysterischer Tetanus.«
Ein zweites Beispiel berichtet Professor Schleich aus seiner Assistentenzeit: »Bei einem mir bekannten Gynäkologen wurde während meiner Abwesenheit ein siebzehnjähriges Mädchen in die Anstalt gebracht, welches behauptete, guter Hoffnung zu sein, von wem, wollte sie nicht sagen. Obwohl das unentwickelte Kind virgo intacta (unberührte Jungfrau) war, sollte eine Möglichkeit der Schwängerung wegen des schweren seelischen Leids der Kleinen nicht ganz von der Hand gewiesen werden. Und siehe da! Im dritten Monat war wirklich Gravidität zu konstatieren. Im fünften fühlten wir unter wachsender Gebärmuttervergrößerung kleine Teile, hörten die Herztöne des Kindes, wie stets in der Schwangerschaft abweichend vom Puls der jungen Mutter. Im sechster Monat subjektive Bewegungsstöße des Kindes, im neunten normaler Stand der Gebärmutter. Wir glaubten Schädellage feststellen zu können. Im zehnten, im elften Monat Stillstand, aber keine Geburt! Im zwölften Erklärung des Professors: »Meine Herren, wir müssen uns geirrt haben, es ist keine Schwangerschaft, sondern eine Geschwulst. Operieren wir also.« Der Leib wurde geöffnet, und es ergab sich – nichts. »Normale Gebärmutter, normale Eingeweide, keine Geschwulst im Leibe. Also Hysterie!« sagte kopfschüttelnd der Professor.«
Ein Unteroffizier produziert plötzlich alle Symptome (das Bild) des Tetanus so vollständig und richtig, daß die Ärzte darauf hineinfallen. Nur weil das Wort Tetanus in einem Augenblick gefallen ist, wo der Unteroffizier, der das Wort vielleicht gar nicht kannte, besonders »angegriffen« und sein Einbildungsvermögen besonders rege war. Im anderen Fall eines jungen Mädchens in den Pubertätsjahren, wo viele: junge Mädchen besonders »sensibel« (einbildungsfähig) sind, sogar medial werden, was später wieder vergeht. In beiden Fällen erklärt der Arzt: Also Hysterie.
In einer Berliner Tageszeitung, also gewiß an keiner Stelle, die zur Magie neigt, erzählte im Herbst 1926 ein bekannter Schriftsteller von seinem Besuch bei der italienischen Nonne Elena Aielle. Sie reicht ihm die Hand. »Da sehe ich in der Mitte der Fläche ein rotes Wundmal, das durchzugehen scheint, denn auf dem Handrücken findet es sich noch einmal.« Die Nonne erzählt dem Schriftsteller ihre Geschichte, wie sie sich »intensiv mit dem Neuen Testament befaßte«, so daß sie Visionen bekam und an einem Karfreitag in tiefe Ohnmacht fiel. Am Ostersonntag erwachte sie »und an ihrem Körper fand sie frisch getrocknete Wunden, zwei an den Füßen, groß, wie von einem durchgeschlagenen Nagel herrührend, und zwei ähnliche an den Händen, die ich wohl sähe (o ja, ich sah sie genügsam und erschauerte davor) und einen Stich in der Brust und um die Stirn die Spuren einer Dornenkrone. (Sie verschiebt den Nonnenschleier ein wenig. Auch das sehe ich mit meinen Augen und muß verstummen.)« Hysterie! sagt natürlich auch der bekannte Schriftsteller und glaubt damit mehr als ein aus dem Griechischen stammendes Wort zur Sache gesagt zu haben. Bezeichnenderweise stieß er übrigens in Montalto bei der Nonne auf noch einen interessanten Mann, einem amerikanischen Filmoperateur, der auf neue »Wunder« wartete, um sie kurbeln zu können!
Die Geschichte der Heiligen aller Völker und Zeiten ist voll von solchen »Wundern«. In ihrer Jugend Maienblüte lachte die »Aufklärung« darüber, erklärte alles für Humbug und sah in den Heiligen bestenfalls betrogene Betrüger. Seitdem die Wissenschaft den »Wundern« aber einen fremdklingenden Namen zur Erklärung mit auf den Weg gegeben hat, ist auch der Rationalist vollauf befriedigt. Mit diesem Namen ist die Sache plötzlich aus dem Reich der Dämonen in das Reich der Wissenschaft versetzt, zwischen zwei Buchdeckel gepreßt wie eine Pflanze in ein Herbarium, und die Naturgesetze sind gerettet. Als ob es außerhalb rationalistischer Wahrnehmungsmöglichkeiten keine Naturgesetze gäbe!
In unserem Zusammenhang handelt es sich bei diesen Beispielen aus jüngster Zeit, einerlei, ob uns der Name Hysterie zur Erklärung genügt oder nicht, vor allem darum, daß wir auch an ihnen deutlich wahrnehmen können, welche schöpferische Macht selbst heute noch unter für sie günstigen Umständen die Einbildungskraft haben kann. Weshalb soll sie nicht leichter und stärker wirksam gewesen sein in Zeiten, wo der Mensch noch nicht ausschließlich unter der Tyrannei des Verstandes lebte und wahrnahm? Daß der Durchschnittsrationalist das unnormal und krankhaft findet, soll uns nicht anfechten, denn unnormal und krankhaft ist für ihn mehr oder weniger alles, was über Essen, Trinken, Zeugen, Schlafen, Geldverdienen, Geborenwerden, Sterben und Verwesen hinausgeht, also ungefähr alles, was den Menschen vom Tier und von der Maschine zu seinem Vorteil oder Nachteil unterscheidet. Auf die hierhergehörenden Experimente zweier französischer Naturwissenschaftler mit in Tiefschlaf versetzten Somnambulen können wir aus Raumgründen leider nicht eingehen.