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XX

Das Verhältnis zwischen Korbin, Toni und den Häberlins kam in den nächsten Wochen auf eine ganz eigenartige Formel. Ringsdorf, der gelehrte Hausknecht vom »Posthorn« in Seattle, würde sie mit »Null mal Null gleich Unendlich« mathematisch eindeutig festgelegt haben, in völliger Verkennung der Tatsache, daß sich seelische Tatbestände nur äußerst widerwillig einer mathematischen Fassung einfügen. Nichts geschah – und doch hatte jeder der Beteiligten das sichere Gefühl, daß seine eigene Sache von metaphysischen Kräften irgendwie vorangetragen wurde. Mr. Hood zum Beispiel tat sehr geheimnisvoll. Er gab Korbin lediglich noch die allgemeine Weisung, in möglichst enger Fühlung mit den Häberlins zu bleiben und auf jede ihrer Anregungen einzugehen, wo dies einigermaßen vernünftig erscheine. Diese Anweisung war im Grunde völlig überflüssig, denn Korbin fühlte sich bereits durch eine Freundschaft mit den Zwillingen verbunden, die jeden Verdacht auf Teilnahme an einem Verbrechen gefühlsmäßig ablehnte. Er zitterte förmlich vor dem Gedanken, daß Mr. Hoods Bemühungen um die Aufdeckung der Tatbestände einen Schatten auf die beiden werfen könnte. – Toni hatte es fertiggebracht, ihre anfängliche Befangenheit völlig abzustreifen. Sie traf sich mit den Häberlins am Strand, im französischen Restaurant, wo sie seit einiger Zeit ebenfalls ihr Mittagessen einnahm, und einmal mit Georg Häberlin sogar im Theater, was Korbin schweigend mißbilligte und einigermaßen unbegreiflich fand. – »Was wollen Sie«, sagte Toni ruhig zu ihm, als er eines Abends eine leise Kritik an ihrem Verhalten übte, »ich habe an ihm vorbeigeschossen – ich glaube wenigstens jetzt bestimmt zu wissen, daß es Georg Häberlin war – und ich muß ihm im Grunde dankbar dafür sein, daß er an meiner Statt das Urteil an dem Norweger vollstreckt hat. Für seine Schandtat an meinen Eltern und Geschwistern wird er auf den elektrischen Stuhl kommen, das ist gewiß. Mr. Hood – er sagte es mir neulich – hat sein Material bald beisammen, und dann wird die Polizei zugreifen!«

Korbin sagte wenig zu solchen Reden. Er hatte Toni verschwiegen, daß Richard Häberlin ihm seine Zusammenarbeit mit Mr. Hood in dürren Worten auf den Kopf zugesagt hatte. Mr. Hood war natürlich von dieser Wendung der Dinge unterrichtet – und der war merkwürdigerweise darüber gar nicht besonders erstaunt gewesen.

»Sie konnten natürlich nicht zugeben, in meinem Auftrage zu arbeiten«, hatte er bedächtig gesagt. »Wenn die Häberlins abermals das Gespräch auf diesen Gegenstand bringen sollten, so antworten Sie ihnen der Wahrheit gemäß, daß Sie in keinerlei Beziehung mehr zu Mr. Robin Hoods Investigation Office stehen.«

»Ich soll also unser Verhältnis als gelöst betrachten?« fragte Korbin erstaunt.

»Mein Auftrag ist hinfällig geworden. Besser ausgedrückt: Sie haben Ihre Aufgabe bereits erfüllt. Unser kleiner Vertrag läuft natürlich bis zum Abschluß der Ermittlungen und bis zur Sühne des Verbrechens an Miß Vallers Familie. Bis dahin haben Sie die völlige Freiheit, mit den Häberlins Freundschaft zu pflegen wie bisher – aber vergessen Sie dabei nie, daß Sie an eine heilige Schweigepflicht gebunden sind! Wenn die Häberlins gelegentlich das Gespräch auf Ihren Partner Franz Henne bringen sollten, so erzählen Sie ihnen so ausführlich wie möglich alles, wessen Sie sich erinnern. Kleinigkeiten können von besonderer Wichtigkeit werden. O'Shennan gibt das Rennen nach dieser Seite hin noch nicht auf.«

Korbin lächelte ungläubig.

»Franz Hennes Alibi ist mauerfest«, bemerkte er im Tone des überlegenen Kriminalisten, den er neuerdings Mr. Hood gegenüber zu kopieren pflegte. »Ich habe ihn aufgelesen, als er eben von der Eselstour kam, und für den Mord an den Norweger kommt er schon überhaupt nicht in Frage. Er ist einwandfrei am 19. Juni bereits in Cerdova gewesen.«

Mr. Hood nickte versonnen.

»Das alles ist goldrichtig. Aber – die Häberlins scheinen eine Theorie zu haben.«

»So nehmen Sie also an, daß die Brüder – gewissermaßen in der gleichen Richtung arbeiten wie wir?«

Er blickte den Alten dabei gespannt an. Aber in dessen Gesicht war nichts zu lesen, als er antwortete:

»Jeder Verbrecher sucht Verdachtsmomente auf andere zu häufen. Warum sollten die Häberlins in diesem Punkte gerade eine Ausnahme machen?«

»Und Sie sind nach wie vor der Meinung, daß einer von ihnen, Richard oder Georg, die Morde im Dezember begangen hat?« fragte er geradezu.

Mr. Hood schwieg lange. Dann huschte über sein Gesicht ein versonnenes Lächeln:

»Seit wann ist es Sitte, daß Angestellte ihren Chef in einer so holzhackermäßigen Art und Weise ausfragen?«

Korbin war beleidigt.

»Eben haben Sie unser Dienstverhältnis aufgekündigt, und nun …«

»Keine Aufregung, Mr. Holzer«, lachte der Alte gemütlich. »Im übrigen: solange Sie Ihre sechs Dollar am Tage beziehen, sind Sie eben doch noch mein Angestellter. Ich finde, Ihre Spesenrechnungen sind recht bescheiden geworden. Sie werden demnächst etwas mehr Geld ausgeben müssen. Tun Sie es ohne Sorge. Meine Auftraggeberin hat mich ausdrücklich ermächtigt, großzügig zu sein.« Er streckte ihm die Hand zum Abschied hin. »Treffen Sie die Häberlins heute?«

»Wir sind zu einem Spaziergang an den Strand verabredet.«

»Dann bringen Sie doch das Gespräch einmal auf Ihren Partner und berichten Sie mir, was die beiden von ihm halten. Ich hab's bisher noch immer nicht aus ihnen herausgekriegt. Franz Henne ist einer kleinen Unterschlagung wegen aus Europa geflüchtet. Soviel weiß ich – aber ich glaube eben nicht recht an dieses Motiv. Es handelt sich dabei um den ganz unwahrscheinlich lächerlichen Betrag von vierzig Franken. Deshalb kauft man sich doch noch keine Schiffskarte nach Neuyork!«

Die Häberlins gingen merkwürdigerweise auf eine Unterhaltung über Korbins Partner nicht ein. Sie waren vielmehr von einer anderen Angelegenheit völlig erfüllt.

»Haben Sie Lust, sich ein wenig in die Gesellschaft einführen zu lassen?« fragte Richard Häberlin lebhaft.

»Was für eine Gesellschaft meinen Sie?« fragte Korbin erstaunt.

»Nun, beste Gesellschaft – – natürlich. Ich würde Sie bei Monsieur Poncelle, dem französischen Konsul, einführen. Der Mann ist hier sozusagen tonangebend. In seinem Hause verkehren die Schwergewichtler des Geldes und des Geistes von Frisco.«

»Und wie soll sich der in Oberprima durchgebrannte Korbin Holzer aus Brixen in solch einer erlauchten Gesellschaft bewegen?«

Richard Häberlin lachte herzlich.

»Haben Sie eine Ahnung von der Bildung des Goldenen Westens! Mit einem Zitat aus Tacitus avancieren Sie hier zum Heros des Geistes. Sie brauchen bloß über Dinge zu reden, die nicht Mode sind – und klassische Sprachen sind hier schon gar nicht Mode!«

»Leider läßt sich der Mangel des Geldes nicht in so einfacher Weise beheben.«

Georg schaltete sich ein:

»Sie überschätzen das, Mr. Holzer. Man lebt hier einen großen demokratischen Lebensstil. Seine Gesetze sind noch nicht endgültig durchforscht, aber die große Linie liegt fest. Man muß anständig gekleidet sein, gewiß, aber man erwartet von niemandem, daß er sich für genossene Gastfreundschaft ›revanchiert‹, wie man bei uns daheim sagt. ›Trinke meine Weine, verzehre meine Hummern ohne Verdauungsbeschwerden, und ich weiß dir Dank für deine Gesellschaft!‹ Das ist das Grundgesetz der Beziehungen zwischen diesen Leuten. Richard und ich sind ja im Grunde auch arme Teufel, gemessen am Reichtum der Männer und Frauen, die bei Poncelle verkehren, und doch fühlen wir uns in dieser Gesellschaft völlig gleichberechtigt und werden als gleichberechtigt anerkannt. Vor allem« – er wendete sich an Toni – »möchte ich Sie dort einführen, Miß Valler. Man hat sich damals, als das Schicksal Sie so schwer mitnahm, wirklich ehrlich mitfühlend mit Ihnen beschäftigt, und da Sie hier sind, möchte man Sie kennenlernen. Die Geschichte des Verkaufs Ihrer Schürfrechte an die C.M.C. spukt natürlich auch ein wenig in den Köpfen der Leute. Mag ein wenig Sensationslüsternheit hinter diesem Wunsche stehen – sehen Sie das Menschliche in ihm und tun Sie den Leuten den Gefallen, ihre Gesellschaft zu besuchen.«

Toni war von diesem Anerbieten so überrascht, daß sie sich nicht gleich entscheiden konnte.

»Sie vergessen, daß ich in der Einsamkeit der Berge am Cooper-River aufgewachsen bin, Mr. Häberlin. Ich würde mir in der rauschenden Gesellschaft dieser Stadt vorkommen wie eine blasse Anemone in einem Strauß vollerblühter Tuberosen.«

Aber Korbin war eifrig bemüht, ihre Bedenken zu zerstreuen.

»Was reden Sie, Miß Valler – ein schlagfertiges Mädel wie Sie, das sich in drei Sprachen ebenso gewandt wie sachlich-orientiert bewegen kann – – Sie werden doch unter Millionärstöchtern keine Minderwertigkeitsgefühle aufkommen lassen! Man weiß nie, wozu es gut ist, wenn man Beziehungen anknüpft. Ich habe jedenfalls keine Lust dazu, in diesem gottgesegneten Lande noch einmal als Tellerwäscher in einer Matrosenkneipe anzufangen, und wenn man einmal mit einem Mr. Cattering oder Mr. Knox soupiert hat, droht einem dieses Schicksal kaum noch!«

»Sie haben's erfaßt, Mr. Holzer!« bemerkte Georg Häberlin anerkennend mit einem wohlwollenden Lächeln. »Ein paar Worte aus dem Munde eines solchen Mannes genügen, Sie an jeder beliebigen Stelle in den Sattel zu heben, die Ihren Fähigkeiten erreichbar ist; und was Miß Valler angeht – sie hat ja eine Förderung dieser Art nicht nötig, aber eine Einladung in diesen Kreisen – und ich glaube schon, sie wird sich nachher vor Einladungen nicht retten können – gibt ihrem Vermögen eine Folie, die nicht zu unterschätzen ist. Wie denken Sie darüber, Miß Valler? Monsieur Poncelle bittet mich, der Vermittler einer Einladung für den nächsten Gesellschaftsabend im französischen Konsulat zu sein – darf ich Ihre Zusage überbringen?«

Toni blieb zurückhaltend. Natürlich schmeichelte ihr der Gedanke, in jene Kreise eingeführt zu werden, die sich selbst für die besten des Goldenen Westens hielten. Anderseits aber schreckte sie davor zurück, der Gegenstand sensationeller Neugier oder gar eines billigen Mitleids von Menschen zu werden, deren Lebensstil dem ihren gänzlich fremd war.

»Gehe ich damit nicht die Verpflichtung ein, fernerhin in diesem Kreise – zu leben? Mir graut – vor dem Mitleid dieser Leute!«

Aber die Häberlins waren nicht leicht zu schlagen, wenn sie zum Angriff auf eine Festung ansetzten, und so schmolzen Tonis Bedenken unter der warmherzigen Beredsamkeit der Brüder und Korbins lebhafter, fast leidenschaftlicher Anteilnahme an diesem Vorschlage dahin wie wirbelnde Flocken vor der Aprilsonne. Sie erklärte sich einverstanden, wenn … und als nach und nach alle Wenns gewissermaßen vertraglich festgelegt waren, gelang es ihr sogar, sich ein wenig über diese Wendung ihres einsamen Daseins zu freuen …

Mr. Hood? Natürlich war er damit einverstanden, daß Korbin und Toni bei Monsieur Poncelle ihre Karten abwarfen, um so die Voraussetzung für eine Einführung in seine Abendgesellschaft zu schaffen. »Man muß den Häberlins nicht in den Weg treten«, sagte er vieldeutig; »sie laufen so lange, bis sie irgendwo stolpern und hinfallen. Dann ist Zeit, sie vom Boden aufzuheben …«


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