Theodor Birt
Das Kulturleben der Griechen und Römer in seiner Entwicklung
Theodor Birt

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8. Die Naturforschung

Anziehend ist es, von der Kunst, beschwerlicher, von dem Betrieb der Wissenschaften mit Anschaulichkeit zu reden. Es geht auch da um die höchsten Werte; doch darf ich vieles als bekannt voraussetzen.Ausführlicheres über den hier in Kürze behandelten Gegenstand habe ich »Alexander d. Gr.«² S. 296–340 vorgetragen. Die Leistungen, um die es sich handelt, betrafen zum Teil den abschließenden, lehrbuchartigen Vortrag, wie ihn Euklid für die Mathematik in 209 klassischer Weise gab, sie betrafen vor allem die Forschung und das Aufwerfen neuer Probleme. Die Könige aber waren auch hier die Förderer und Patrone, nicht nur in Alexandrien und Pergamum, sondern auch in Syrakus, wo der geniale Archimedes im Dienst seines Landesherrn Hieron experimentierte und forschte.

Alexander der Große hatte das Beispiel gegeben, indem er Aristoteles und seine Schule schon mit großen Summen unterstützte. Der Schulbetrieb wurde damit verstaatlicht. Eine Verstaatlichung des Kinderschulwesens gab es nicht, wohl aber jetzt eine der wissenschaftlichen Institute. Denn nicht nur einzelne Forscher erhielten für ihre Unternehmungen gelegentlich Subvention;Die Peripatetiker Theophrast und Dikäarch sind dafür ein Beispiel. epochemachend war, daß die Ptolemäer in ihrer Hauptstadt Alexandrien das für jene Zeiten großartige und vorbildliche Institut, das sich Museum (Museion) nannte, dazu aus Staatsmitteln die erste öffentliche Bibliothek gründeten, diese mit dem Anspruch auf Vollständigkeit. Erst später folgten die Pergamener in rühmlicher Weise diesem Beispiel; die pergamenische Bibliothek erbte Rom.

Wir brauchen nicht erst zu sagen, daß dies für die Geisteskultur, für die Geschichte des Gedankenlebens, von unermeßlichem Werte war. Es war eine Rettung; denn das Buch allein ist der Träger der zusammenhängenden Rede derer, die sind und gewesen sind.

Prominente Leute wurden berufen; sie gaben ihre Heimat preis und kamen von allen Seiten. Unterrichtsräume wurden geschaffen, Gehälter gezahlt, für Zoologen, Ärzte, Philologen das nötige Beobachtungsmaterial splendide beschafft, die Sektion der Menschenleichen, vor der die ganze Antike sich scheute, endlich freigegeben, seltene Tiere lebendig eingefangen, den Philologen die große Büchersammlung anvertraut. Kunstmaler mußten im Dienst der Botanik und Medizin Pflanzen abbilden, womit man Bücher füllte.

Aber man hielt auch darauf, daß die gelehrten Herren sich gut kleideten; sie mußten hoffähig sein. An einem der 210 Bibliothekare – es war sogar der berühmteste Philologe jener Zeiten – wurde leider tadelnd das Gegenteil bemerkt.Es betrifft dies den Aristarch: s. Athenäus p. 21 C.

So wuchs nun die Naturforschung über das, was ein Aristoteles mit so großem Fleiß gegeben hatte, bald hinaus. Physik, Mathematik, Mechanik wirkten dabei zusammen; für Metaphysik war dagegen kein Raum, und alle Dogmatik wurde abgelehnt. Man beobachtet Tatsachen, man ordnet sie, und dazu tritt die Hypothese, die den Befund erklären soll, aber auch das Experiment im Dienst der Mechanik.

Die experimentierende Mechanik in der Hand eines Ktesibios und Archimedes förderte begreiflicherweise die Naturkunde; sie gründete sich auf die Lehre vom leeren Raum; zugleich aber stand sie im Dienst der Praxis, da sie den Schiffsbau, das Geschützwesen wunderbar steigerte.S. oben S. 106. Aber auch die Selbstbewegung der Körper, das Lokomobil, ist da in wunderhübschen Proben schon erzielt worden; allerlei Automaten wurden geistreich hergestellt, ohne freilich das Kulturleben wesentlich zu beeinflussen. Sie wurden bewundert, aber nur zum geringsten Teil praktisch verwendet.Über Marionetten und anderes, was dazu eine Ausnahme bildet, s. »Alexander d. Gr.« S. 329. Schon viel, daß der Selbstkocher, der »Samowar«, allgemein in Benutzung kam.Vgl. A. Mau, »Pompeji«² S. 398. Man wußte noch wenig von der Ausnutzung des konzentrierten Dampfes, nichts von der der elektrischen Kräfte oder gar von Benzin und Benzol; sogar die Magnetnadel schlummerte noch in Verborgenheit; sonst hätte die Welt unser gehetztes 20. Jahrhundert vielleicht schon vor Christi Geburt vorweggenommen. Der Süden sonnte sich noch immer im holden Müßiggang nach kurzer Arbeit, und die Forschung war noch Musendienst.

Aber man wußte: auch das Weltall ist der große Automat, da es sich vor unsren Augen selbst bewegt. Auf seine Erforschung warf sich darum der Physiker mit gespanntestem Eifer.

Zunächst unser Erdball. Man wurde mit ihm immer vertrauter; denn die Enge war endlich gesprengt; man kannte jetzt den Indischen, den Atlantischen Ozean; man kannte von England und der Nordsee bis zu den Grenzen Chinas und 211 zum Ganges die drei Weltteile, die das kleine Mittelmeer umlagern, und dachte schon an die Möglichkeit, das Erdenrund zu umsegeln und über den atlantischen Ozean westwärts fahrend die Ostküste Ostindiens zu erreichen. Man maß ferner die Länge der Landstraßen, mit Hilfe davon aber auch die Größe der Länder, durch die sie führen, und zog daraus rechnerisch die Folgerungen, übertrug die Pole des Himmels und den Himmelsäquator auf die Erdkugel und berechnete schon annähernd richtig die Länge des Erdäquators, erhob den Blick und taxierte danach auch schon die Größe des Mondes, der Sonne. Neue Landkarten wurden entworfen, in die man schon die Erdmeridiane eintrug.

Die Erde, auf der man stand, war für die Frommen nur ein Schemel zu Gottes Füßen, für den Forscher gleichsam nur ein Observatorium, das zwischen den Himmelssphären hing. Wie stand nun diese Erde zur Sonne?

Archimedes baute sein sich selbst bewegendes Planetarium noch im Glauben an die Lehre von der geozentrischen Welt: die Erde das Zentrum; um sie schwingen sich die Sphären. Auf Grund der Sternkunde, die Eudoxus zu Plato's Zeit den Ägyptern und Babyloniern abgelernt hatte, war das Weltsystem oder der Kosmos in diesem Sinn von Plato und Aristoteles, wie es schien, endgültig aufgebaut worden. Aber das Problem war nicht restlos gelöst, und es blieb zuviel Unerklärliches. Ein Kopernikus war nötig, um an dem Zentrum der Welt zu rütteln, und er fand sich eben zu des Archimedes Lebzeiten; Aristarch ist sein Name. Die runde Welt des Aristoteles brach ein; die Erde wurde jetzt an den Himmel versetzt; sie wurde, wie schon die alten Pythagoräer es wollten, zum Planeten entwertet, zugleich aber die Sonne selbst, anders als die Pythagoräer es gewollt, der ruhende Mittelpunkt des kosmischen Systems, die Sonne die Nabe im Rad, um die alles Planetenhafte sich dreht. So weitet die Welt sich ins Unberechenbare; denn die Fixsterne stehen nunmehr weltenfern, die Sonne als Fixstern mitten unter ihnen.

212 Diese Gedankengroßtat – ein Blitzlicht, durch das All geworfen – gehört noch dem 3. Jahrhundert v. Chr. an. Aber das Licht erlosch, und die Lehre des Aristoteles blieb trotzdem in Herrschaft. Keine Zeile aus der Feder jenes Aristarch ist uns erhalten. Warum? Man kann sich schon die naiven Fragen seiner Gegner denken: sollte die Erde und mit ihr der Erdenmensch zur Nichtigkeit werden? und die Götter selbst disloziert? Von welcher Stelle aus sollte Jupiter den Kosmos hinfort noch hüten?

Vorzüglich deshalb aber hat sich die neue Lehre nicht durchsetzen können, weil eben damals aus Babylon die abergläubische Sterndeutung, die Astrologie der Magier eindrang, die den Einfluß der Gestirne und ihrer Konstellationen auf die Erdendinge lehrte, die also die Erde als Mittelpunkt, den Menschen als Zweck des Ganzen unbedingt voraussetzte. Die Stoa, die auch sonst die Vorherbestimmung aller Schicksale predigte (oben S. 185), machte sich die Astrologie als höchste aller Wissenschaften sofort zu eigen. Der Einfluß der Stoa ist es gewesen, der das aristotelische Weltbild sicherte, das auch das Weltbild der Bibel ist.

So mußte die Sonne noch fernerhin anderthalb Jahrtausende um die Erde laufen, bis endlich die große Wahrheit wieder frei wurde. Was der päpstlichen Kirche zum Trotz Kopernikus und Galilei durchsetzten, ist nur Renaissance, nur die Wiedergeburt dessen gewesen, was einst schon der freisinnige Hellenismus divinatorisch begriffen hatte.

 


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