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Zwanzig Jahre sind bald vergangen, seit ich zuerst meine Skizzen »Zur Kulturgeschichte Roms« vorlegte. Sie werden jetzt endlich zu einer größeren Darstellung erweitert, die nun auch das Wichtigere, das Kulturleben der alten Griechen, mit umfaßt. Erst so wird das Römertum voll und ganz verständlich werden. Die Seelen beider antiken Völker gilt es, die unter sich so verschieden geartet waren, zu erfassen, und es ist gleichsam ihre innere Biographie, die ich darstelle. Die Literatur, in der sie sich auslebten, erstreckt sich über ein Jahrtausend, und sie ist wie ein ständiges Selbstbekenntnis. Man fürchte indessen nicht, daß ich Vollständigkeit in meinen Berichten anstrebe; denn wer den Gegenstand erschöpft, erschöpft auch den Leser. Dienlicher schien mir die übersichtliche Zusammenfassung, und mein Zweck ist nur, die schöne Linie der Aufwärtsentwicklung deutlich zu zeigen und das Menschentum selbst mit seinem Dichten und Trachten in rasch geschobenen Bildern zu veranschaulichen.
Auch ist, was ich gebe, nur ein Bild des Aufstiegs, nicht des Verfalls und Niedergangs. Was von Griechen und Römern dereinst an kulturellen Werten geschaffen wurde, haben schließlich Mächte fremden Bluts oder umstürzender Tendenz zerstört oder im Dienst neuer Ideale umgestaltet. Dafür sei auf mein Buch, das ich »Charakterbilder Spätroms« betitelte, verwiesen.
Viele sind heute jenen abgelebten Vergangenheiten und dem leidigen Humanismus, der sich auf sie gründet, völlig abgewandt. Sollen wir sie feierlich an das »Erbe der Alten« gemahnen? Es wäre umsonst; denn Dankbarkeit der Völker gibt es nicht. Man halte den Polen und Russen vor, wieviel ihnen die deutsche Kultur gegeben hat; sie werden sich nicht zur Dankbarkeit bekehren; denn der Schuldner haßt seinen Gläubiger. Darum genügt es nicht, daß uns das Altertum sein Schuldkonto mit den Worten hinhält: »Seht, wieviel ich euch vorgestreckt habe.« Es spreche vielmehr so: »Ich bin immer noch jung und verwegen und reich und klug und schön, und das ewig Menschliche ist zeitlos. Man gebe mir eine neue Gegenwart, und man wird nicht aufhören, mich umgänglich und liebenswert zu finden.«
Eine neue Gegenwart: wer gibt sie? Viele haben es versucht. Man müßte Zeitalter wie Berge versetzen können, um ihre Schätze recht zu heben. Aber man versteht, weshalb der Titel dieses Buches nicht nur von »Kultur«, sondern von »Kulturleben« spricht. Es ist das Leben selbst, das wir mitzuleben versuchen wollen.
Marburg a. L., im Mai 1928
Th. Birt