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Philologie bedeutete für den Römer etwas ganz anderes als heute; sie bedeutete nicht etwa Sprach- oder Literaturstudien, sondern die höhere Bildung im allgemeinen, die möglichst allseitig sein wollte. Alle gebildeten Römer waren also damals Philologen. Nach der formalen Seite hin war dieser Unterricht vielleicht ausgezeichnet und für uns unerreicht, nach der realen war er ohne Frage mangelhaft und wollte nichts geben als eine allseitige Orientierung, ein kompendiares Wissen im Sinn der Enzyklopädie. Das begründete sich durch die gesellschaftlichen Verhältnisse.
Alle Technik leistet der Unfreie. Technisches Wissen kommt also den Freien nicht zu. Im Sinne des heutigen Realschulwesens war die unfreie Bevölkerung damals zu großen Teilen besser unterrichtet als die freie. Der Freie entlastet sich von Fachkenntnissen und kultiviert seine Person als Herrenmensch in überlegener Weise, vortrefflich geübt in der Redekunst und Gedankenbildung, im übrigen hinlänglich orientiert, um im Bedarfsfall jedem Gegenstand des Wissens näher zu treten und sich die wirtschaftlichen Handlanger auszuwählen. Dies genügt für seine gesellschaftlichen Pflichten. Diese Erziehung stand somit der Gymnasialbildung unserer Gegenwart nahe; die Gymnasialbildung war für die höheren Stände, die Realschulbildung für die Knechte.
Sieben bis acht Jahrhunderte hindurch – vom 3. Jahrhundert v. Chr. bis zum 5. Jahrhundert n. Chr. – hat sich der Römer damit begnügt und war stolz darauf. Die »Philologie« wird schließlich von ihm den Musen gleich zur Göttin erhoben und im Himmel mit Gott Merkur vermählt, und als diese Bildung umgestürzt wurde, geschah es nicht etwa durch ein Realschulwesen, sondern durch das Christentum, das die Realien noch mehr entwertete. Das Altertum endete mit einer Verkalkung des Lerntriebes.
Es fällt auf, wie wenig Sinn der Römer für 343 Naturwissenschaft zeigt. Wenige Autoren finden wir in ihr so bewandert wie Seneca. Der Römer war kein Forscher, der das Wissen um des Wissens willen liebt: großspurig, resolut und genußsüchtig, aber in diesem Punkt ein schmählicher Banause. Heutzutage wird alles, was die Naturforschung ermittelt, sofort dem Volke zugänglich gemacht. Anders in Rom. Derselbe Grieche, dessen Phantasie die Götter schuf, schob alle Götter kühl beiseite, wenn er forschte, löste das All in Atome auf und begründete nüchtern die mechanische Welterklärung. Lukrez suchte diese Lehre Epikurs in Rom einzuführen, aber der Römer der Kaiserzeit hält sich diese Betrachtungsweise vom Leibe und ist zufrieden, wenn er die vier Elemente kennt. Wenn der Grieche fand, daß nicht die Sonne sich um die Erde, sondern die Erde sich um die Sonne dreht, wenn er die Entfernung der Gestirne voneinander, die Größe des Mondes und der Sonne berechnete, für die Erde Kugelform ansetzte, die Entfernungen der Länder maß und sie in ein Gradnetz eintrug, so ließ das den Römer kalt, und er warf sich lieber vor dem Sonnengott auf die Knie, heiligte ihm den Sonntag und baute ihm Tempel. Es war schon viel, daß Cäsar, durch die äußerste Not getrieben, den Kalender nach Eudoxos reformieren ließ. Im Interesse der Verwaltung ließ Augustus Reichsvermessungen vornehmen, und es entstand die Weltkarte Agrippas. Wer aber hat in Rom von ihr Notiz genommen? Es interessierten höchstens die Reiserouten darauf, mit den Entfernungsangaben von Stadt zu Stadt. Die Nähe des Vesuv, der sich schon im Jahre 63 unheimlich zu regen begann, bewirkte, daß man zeitweilig nach der Theorie des Vulkanismus frug, aber solche Fragestellungen – wie auch nach den Quellen des Nil – blieben ganz vereinzelt. Wie bewundernswert und doch wie primitiv und kümmerlich dilettantisch ist das große Naturgeschichtslernbuch des älteren Plinius, etwa aus dem Jahre 75: sklavische Auszüge aus abertausend Büchern der besten und oft auch der schlechtesten Autoren, ohne Wahl und mitunter mit den drolligsten 344 Mißverständnissen! Plinius war Admiral der kaiserlichen Flotte. Man denke sich ihn, wie er Muscheln sammelt, nein, nicht einmal das, wie er als Stubenhocker aus Büchern sich über Fische und Kräuter, Schaltiere und Gestirne unterrichtet. Die unermeßlichen wissenschaftlichen Sammlungen der Griechen erdrückten den Römer; der Römer fuhr mit der Axt in die Fülle; er machte mit grober Hand daraus ein Inventar. Das genügte. Das ist kein Erwerb, das ist Plünderung. Mitten in die wertvollen Beobachtungen eines Aristoteles werden da die kindischsten Merkwürdigkeiten eingeschoben: Völker von Menschen, die nur mit einem Bein geboren sind, oder solche, die sich in ihre Ohren wickeln können; die große Zehe des König Pyrrhus, die Kranke heilte und abgetrennt beigesetzt wurde; Satyrn und Tritone, die man vor kurzem lebendig eingefangen. Auf solche »Mirabilien« machte man Jagd, und nicht das Gesetz in der Natur interessierte, sondern die Ausnahme. Der Römer Mucian war ein Hauptlieferant für solche Albernheiten, Paradoxa, wie man sie nannte. Im übrigen war das Werk des Plinius praktisch angelegt, der Stoff sorglich geschachtelt, so daß der Benutzer, was er sucht, leicht finden kann: der Höhenstand des Konversationslexikons.
Nicht viel günstiger steht es auf technischem Gebiete. Wie erstaunlich entwickelt war nicht das Geschützwesen des römischen Heeres! war nicht der Straßenbau! Trajans großartige Donaubrücke oder die Brücke von Alkantara in Spanien! Aber wer redete davon? Im Grunde niemand. So blieb auch die technische Literatur über diese und andere Dinge im wesentlichen griechisch, d. h. sie gehörte der dienenden Klasse. Es ist auffallend, wie gering entwickelt bei den Römern selbst die militärische Literatur ist, noch auffallender, wahrzunehmen, daß die beiden großen Historiker Livius und Tacitus von militärischen Dingen so wenig verstehen. Tacitus erweckt den Verdacht, daß er seine Germania schrieb, ohne germanischen Boden je betreten zu haben, und Livius fand es nicht einmal der Mühe wert, die nahen Schlachtfelder sich 345 anzusehen, auf denen Hannibal seine berühmten Schlachten schlug. Er blieb in der Stube sitzen, er schrieb im Schatten. Um so schöner ist seine Diktion.
Nur die theoretische Lehre vom Betrieb des Landbaues und des Rechts stand dem Herrenvolk der Römer an. Die Fachschriftstellerei über Recht und Landbau ist daher reich, sachkundig und meisterhaft, und sie zieht sich durch alle Jahrhunderte. Am bewundernswertesten Celsus, der enzyklopädisch eine Folge von Werken über Philosophie, Beredsamkeit usw. schrieb; das Werk über die Medizin ist uns daraus erhalten: es ist mit vollkommener Sachkunde abgefaßt, ein klassisches Lehrbuch, und Celsus war doch nicht Arzt: ein Zeichen für die Lernfähigkeit des Römers.
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Kehren wir an den Anfang der Entwicklung zurück. Seine Weltmachtstellung verdankt Rom keineswegs der humanistischen Bildung, von der ich sprach und in die es sich erst nachträglich einlebte. Dem siegreich sich emporringenden Römervolk des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. fehlte noch jedes Luxuswissen. Die Erziehung war nur Hauserziehung; und wenn schon damals sorgfältige Buchführung und Gesetzeskunde im Dienste der Verwaltung und des Kaufhandels notwendig war,Die Eltern sind es, die docent litteras iura leges, nach Plautus Most. 126; so unterrichtete Cato seine Söhne. so fehlte doch noch jedes Lesebuch, so wie in jener Zeit auffallenderweise mit geringen Ausnahmen auch noch keine Steininschriften als Denkmäler gesetzt wurden; so sehr beherrschten die nächsten praktischen Bedürfnisse die Erziehung und das Leben. Dies bücherlose Rom währte bis zur Einnahme Tarents.
Die Wendung kam mit einem Schlage. Um das Jahr 240 v. Chr. entstand Schulwesen und Literatur gleichzeitig, und der Römer wurde und blieb fortan der unselbständige Schüler und doch der nützlichste Schüler des Griechentums. Der Grieche selbst hatte es gut; denn er brauchte nur seine eigene 346 Muttersprache zu lernen, die ihm alles Schönste bot. Der römische Knabe dagegen lernte jetzt zwei Sprachen; denn einigermaßen fließend griechisch zu sprechen, war notwendig: während der heutige Gymnasiast sich mit vier Sprachen plagt und dabei froh ist, wenn er nur leidlich deutsch sprechen lernt. Der Grieche brachte nun damals dem Römer all seine schönen Bücher, aber er lehrte ihn auch die grammatische Behandlung des Latein. Der Römer lernte jetzt seine eigene Sprache verstehen: Wortgeschlecht, Wortbeugung, Wortklassen. Und die Sprachregel, die Grammatik begann. Nun waren für den Schulbetrieb auch lateinische Buchtexte nötig, und so wurde zunächst die Odyssee für Schulzwecke lateinisch übersetzt. Es ist bedeutsam, daß der erste Dichter Roms, Livius Andronicus, zugleich der erste Schulmeister war. Was er tat, war entscheidend: Dichterlektüre blieb die Grundlage des höheren Unterrichts.
Und eine römische Buchliteratur begann. Es war die höchste Zeit, daß dies geschah. Hätten sich damals nicht geniale Leute wie Nävius und Ennius gefunden, die ihr Talent in den Dienst der lateinischen Sprache stellten, hätte man nur noch hundert Jahre auf sie zu warten gehabt, eine römische Literatur wäre gar nicht zustande gekommen; es wäre alles griechisch geworden. Ist doch die römische Literatur, auch wie sie jetzt vorliegt, größtenteils so griechischen und zwar hellenistischen Geistes, daß, wer sie griechisch übersetzt läse, glauben könnte, das Original zu lesen. Und dabei stammten die Dichter, die sich auftaten, nicht etwa aus Rom selbst; kein einziger. Es waren lauter Sprößlinge der umliegenden Landschaften; erzwungene Kompatrioten. Die römische Poesie war das dichtende Italien außer Rom.
Wir hören, daß um das Jahr 40 v. Chr. Varros Rinderhirten in Büchern lesen. Das ist symptomatisch. Fast nie wird uns von Analphabeten gesprochen; in keinem Lustspiel wurden sie als komische Figur verwendet; es gab kaum solche,Von ignorantia scripturae redet gleichwohl einmal Sueton Calig. 41, in früherer Zeit Kratinos fr. 122 u. Aristophanes Equit. 188. und im heutigen Italien steht es damit viel schlechter, trotz seines 347 Staatsschulwesens; denn Süditalien soll heute 40% Analphabeten haben.
Damals kannte man nur Privatschulen. Die Inhaber nannten sich Professoren der Grammatik (lateinisch: grammaticus professor) und unterrichteten anfangs auf eigenes Risiko. Später gaben ihnen die Gemeinden Geldhilfe und Sicherung.Vgl. z. B. Plinius Epist. IV, 13. Schon Julius Cäsar erkannte den Ausländern unter ihnen das römische Bürgerrecht zu. Einige dieser Schulmänner kennen wir.
Antonius Gnipho, ein Gallier aus Norditalien, wurde als Kind von seinen Eltern ausgesetzt und verfiel dem Sklavenhandel. Der Besitzer aber, der ihn erworben, unterrichtete ihn sorglich und ließ ihn frei. So wurde er erst Hauslehrer des großen Julius Cäsar, als dieser Knabe war; danach tat er eine Privatschule auf: ein großes Licht und dabei genial und bequem im Geschäftlichen; er forderte kein bestimmtes Schulgeld. Um so mehr nahm er ein. Man denke, daß große Männer und Senatoren wie Cicero, 40 Jahre alt, sich noch entschlossen, die Schule und Unterricht des genialen Mannes aufzusuchen.
Ein Grobian dagegen der berühmte Orbilius aus Benevent. Gottlob sind seine Rutenprügel dem Horaz gut bekommen. Orbilius war früh Waise geworden, da seine Eltern ein gewaltsames Ende fanden. Erst wurde er Schreibergehilfe beim Magistrat, dann Militärmusiker, dann Kavallerist. Aber die Liebe zum Studium hatte ihn erfaßt: 50jährig erschien er als Professor in der Hauptstadt, und seine Schule kam rasch in Aufnahme. Leider hatte er jedoch seine Unteroffiziersmanieren beibehalten; bissig und barsch gegen Jung und Alt, kam er nicht zu Gelde und starb fast hundertjährig in Dürftigkeit. Benevent aber rühmte sich des Orbilius und setzte ihm eine Statue. Er war sitzend im Pallium (dem Philosophenmantel) dargestellt, von zwei Bücherkästen umgeben; darin waren die griechischen und die lateinischen Bücher.
Das sind antike Lebensläufe. Anders Crassitius aus Tarent. Er führte anfangs als Kulissenschieber auf dem Theater 348 ein gewiß höchst leichtfertiges Leben; dann fing er aber in einer Pergula zu unterrichten an und erwies sich als der Gelehrtesten einer, so daß er bei den vornehmsten Familien in Aufnahme kam. Da traf ihn die stoische Predigt von der sittlichen Vertiefung des Lebens, und er zog sich in ein beschauliches Leben strenger Selbstprüfung zurück.
Der größte Modeschulmann aber, von dem wir wissen, war Palämon zur Zeit des Kaisers Claudius, der als Sklave geboren war; seine Schule brachte ihm jährlich 400 000 Sesterzen (82 000 Mark), aber er verschlemmte das Geld in Üppigkeit. Palämon war ein Blender. Zweifellos war das Brot des Philologen sonst ein hartes Brot. »Nur nicht Rhetor, nur nicht Philologe, Konzertsänger muß werden, wer zu Gelde kommen will«, rät Martial und fügt hinzu: »Hast du jedoch einen zu harten Schädel, so werde Architekt oder Ausrufer bei den Auktionen.«
Die Architekten können sich durch dies Urteil geschmeichelt fühlen.
Das Latein ist schwer; der Römer selbst hatte Angst vor falschen Formen und schlechter Aussprache. Man duldete nur Kinderwärterinnen, die das reinste Latein sprachen. Auch die Spielkameraden des Kindes wurden danach ausgesucht. Und nun gar erst der Pädagog! Es war der Hausdiener mit dem berüchtigten grämlichen Gesicht,Sueton, Nero 37. der des Knaben gutes Betragen beaufsichtigte und ihn über die Straße führte. Jeder Knabe, auch jedes Mädchen hatte einen solchen. Das Wort ist erst in neueren Zeiten zu hohen Ehren gelangt. Eigentlich sind unsere Schulmänner nur dann wirkliche »Pädagogen«, wenn sie die so beliebten Schulausflüge leiten.
Man bedenke, daß das Latein von lauter lateinfremden Menschen gesprochen wurde: in Italien von Oskern, Etruskern und Griechen, in den Provinzen von Galliern und Spaniern. Wie wird daher in den Wandkritzeleien Pompejis das Latein verhunzt! und welchen Galimathias reden die Bauern 349 im Roman des Petron zusammen! Die Verwechslung von mir und mich, cum mit dem Akkusativ, diibus »den Göttern«, sibi et suibus »für sich und die Seinen« war das geringste. Fehlerverzeichnisse, schreckliche Warnungslisten gingen um, und eine enorme Menge von Grammatiken entstand, deren alleiniger Zweck die Korrektheit ist; die Grammatiker hießen die »Hüter«, die »Custoden« des Latein. Der Erfolg aber war staunenswert; denn dies Schulwesen hat in der Tat bewirkt, daß die lateinische Literatursprache bis Justinian so straff einheitlich und ganz dialektlos blieb, in dem Grade, daß wir bei Werken der Spätzeit an der Sprache nicht zu erkennen vermögen, ob sie in Afrika, Spanien oder Frankreich entstanden sind (man denke an den Querolus).
Übrigens herrschte Langenscheidtsche Methode: Übungssätze, zugleich griechisch und lateinisch, zum Auswendiglernen: »Woher kommst du? Ich gehe von Gaius zum Lucius. Bringst du auch die Bücher mit? Ja, auch den Schwamm.« Dabei kamen natürlich haarsträubende Fehler vor: »Der, der etwas gemeint hat« wird von den argen Buben mit putatus übersetzt, zu fero ein Partizip tultus gebildet. Ebenso lernten die Kinder die äsopischen Tierfabeln, ebenso all die schwierigen Götter, Halbgötter und Götterchen gleich in beiden Sprachen auswendig, wobei noch Bilderbücher halfen, in denen man Achill und Hektor oder den Fuchs und den Raben hübsch in Farben sehen konnte.Vgl. »Die Buchrolle in der Kunst« S. 313.
Das war beim Elementarlehrer, der der abecedarius hieß.Über die Schreibschulen der Knaben vgl. Seneca Epist. 94, 51; für die der Griechen haben wir jetzt durch Papyrusfunde die reichste Anschauung. Der höhere Unterrichtsgang dagegen, wie ihn Palämon betrieb, brachte die sorglichste Dichtererklärung. Das betraf nicht nur Homer und Vergil, sondern eine Fülle von Dichtern, wozu gelegentliche Lernpensa aus dem Gebiet der sogenannten sieben »freien Künste« kamen. Diese sieben Lernfächer für die »Freigeborenen«, die man zusammenfassend Philologie nannte, sind: Grammatik, Stillehre, Logik, Rechenkunst, Geometrie oder Mathematik, Astronomie, endlich sogar Musiktheorie. Wie wenig die Römer in der Musik 350 vorankamen, glauben wir zu wissen. Hoffentlich stand es auf den andern Gebieten anders! »Nur kein mechanischer Gedächtniskram!« wird uns gesagt; »sondern, so wie der Leib die Speisen verdaut, deren Zuführung ihm sonst nutzlos wäre, so soll es auch der Geist mit dem, was er lernt, machen. Es muß zu seinem Wesen werden«.Seneca Epist. 84. Das sind gesunde Grundsätze.
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Inzwischen ist der Schüler 16jährig und hat schon die langen Knabenhaare und das purpurn bordierte Knabenkleid abgelegt, als er sich noch für mehrere Jahre in den Betrieb der Rhetorik stürzt. Dies war der Unterricht in der Prosa: Durchnehmen von Musterreden, vor allem Aufsatzschreiben und freier Vortrag unter Anleitung eines Speziallehrers. Die Eltern strömten, wenn die jungen Herren Söhne öffentlich ihren Probevortrag hielten, voll Ehrgeiz herzu, und wenn es schlecht ging, hatte natürlich der Lehrer schuld. Die Vortragsthemen aber waren Monologe, die man irgendeinem Geschichtshelden wie dem Hannibal in den Mund legte, sinnige Fragen wie z. B., warum Gott Amor Flügel hat, vor allem Streitreden über abenteuerlich fingierte Familienhändel oder Rechtsfälle, das meiste mit stark moralistischem Anstrich. Die Lehrer selbst verfaßten Musterbeispiele dieser Art, die dann auch in den Buchhandel kamen und noch nach Jahrhunderten den naiven Lesern im Mittelalter sehr gefallen haben. Von wirklichen Rechtsfällen und von juristischer Behandlung wurde dabei planvoll abgesehen; denn es handelte sich um junge Köpfe im Alter des Unterprimaners und Sekundaners, die man noch mit halb kindlich phantastischen Erfindungen ihr Spiel treiben ließ. Übrigens ist es auch heute noch schwer, passende Schulaufsatzthemen zu finden. Das großartige Resultat aber war wiederum, daß auch alle Nichtrömer in den Provinzen, die sich diesem Unterricht unterzogen – und die Rhetorenschulen waren dort überlaufen – 351 frei lateinisch sprechen, daß sie vollkommen lateinisch denken lernten.Es war natürlich, daß der Wortgebrauch des Latein in vielen Punkten Veränderungen, daß der Wortschatz Bereicherung erfuhr. Daß das jedoch einen Verfall bedeute, kann ich nicht zugestehn. Das Latein Tertullians ist um vieles ausdrucksfähiger als das ciceronische geworden. Selbstverständlich ist, daß in den niederen Volksschichten in den Provinzen inzwischen schon der Barbarismus sich verbreitete als Vorbereitung der romanischen Sprachen. Nur so sind Primagrößen der Weltliteratur, Virtuosen im Latein wie Claudian (aus Ägypten), Hieronymus (aus Dalmatien), Augustinus (aus Numidien), möglich geworden. Jeder aber muß erkennen, daß dieser ganze Erziehungsgang eine Vorbereitung auf das praktische Leben ebensowenig hat sein wollen wie unser Gymnasialunterricht.Daher Senecas tadelndes Wort: non vitae, sed scolae discimus, Epist. 106 fin. Das Prinzip ist ganz dasselbe, heute wie damals.
Hiernach trat der Römer ins praktische Leben ein, und die Wirklichkeit fing an, ihn zu erziehen. Doch konnte er auch noch gleichsam die Universität beziehen und neben oder auch nach der Rhetorik Rechtswissenschaft studieren oder Philosophie. Beides hörte man in Rom; Philosophie auch in Athen. So hat einst Cicero, so hat auch späterhin Kaiser Julian in Athen studiert, und da gab es dann ein regelrechtes akademisches flottes Leben, in das wir seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. Einblick erhalten. Die hohen Philosophen saßen auf Kathedern, die Throne hießen, und lasen ihre Publika und Privatissima gegen Honorar. Privatdozenten oder Lektoren gaben Nachhilfestunden; die Studenten schrieben nach, trampelten oder zischten, brachten Fackelzüge oder Katzenmusiken, ritten den Trinkkomment, lebten in Korporationen, die sich am Landungsplatz im Hafen gegenseitig die Füchse abfingen, hatten auch eine Art Fuchstaufe oder Fuchsprellen (Fuchsbrennen). Wer studiert, darf kein Philister sein: das wußte auch schon die Jugend von damals.
Dasselbe zweite Jahrhundert n. Chr. aber brachte noch etwas Wichtiges: das Unterrichtswesen verfiel endlich der staatlichen Aufsicht. Die Zentralstelle des kaiserlichen Fiskus zahlte jetzt feste Gehälter, erst an die Philosophen, dann auch an eine Anzahl von Schulmännern, und zwar an letztere in allen Städten des weiten Reiches. Dieser Systemwechsel knüpft sich an die Namen Hadrians und der Antonine. Es ist aber ein Irrtum, wenn man glaubt, daß das Schulwesen etwa seitdem gesunken sei. Der Kunstgeschmack ging der Welt 352 allerdings verloren. Das hatte andere Gründe. Das Schulwissen dagegen ist nachweislich im Durchschnitt vielmehr dasselbe geblieben; man braucht, um das zu sehen, nur Apollinaris Sidonius mit Statius, Claudian mit Martial zu vergleichen. Ja, der Buchvertrieb selbst steigerte sich gerade seitdem, und das Lesefieber drang in alle Schichten.Man denke auch an die hohe Bildung der Königin Zenobia, die doch nur ein Geschöpf ihrer Zeit war, vergleiche übrigens »Die Buchrolle in der Kunst« S. 62 f., auch M. Roger, L'enseignement des lettres classiques, 1905.
Wie schön und feierlich war es, in einer antiken Bibliothek zu sitzen! Es war wie in einem reich geschmückten Heiligtum. Wie viel köstliche Statuen, die heute die Museen Italiens zieren, stammen nicht aus solchen antiken Bibliotheken! Buchhandel und Bibliothekswesen hatten sich rasch über alle Provinzen verbreitet; Rom war gleichsam die Telephonzentrale dieses Verkehrs geworden, und seit der Zeit Ciceros und Varros gab es nicht nur griechische, es gab jetzt wirklich auch lateinische Bücher. Die römische Literatur hatte sich ausgeweitet, und für ihre planmäßige Vervielfältigung wurde nunmehr gesorgt.
Das Altertum kannte, wie Japan, keine gehefteten Bücher. Der Text stand, wie schon früher erwähnt wurde, in Rollen. Man stelle sich aber vor, wie beschwerlich es für den Lesenden ist, eine Rolle lange Zeit aufgeschlagen sich vor Augen zu halten, wie beschwerlich gar, den Text in sie einzutragen. Beim Lesen mußten immer beide Hände rechts und links anfassen, und jede Nebenbeschäftigung der Hände war unmöglich. Daher traf der Dolch den Kaiser Domitian beim Lesen; der Mord gelang; er hatte zur Abwehr keine Hand frei. Je dicker aber die Rolle, desto unbequemer. Ein Autor von Geschmack verteilte seinen Stoff deshalb gern zur Erleichterung des Lesens auf viele möglichst kleine Röllchen oder Büchlein, jedes Buch oft nur zu 25 Seiten, das ist aufgerollt 3½ m Länge, so daß wir heut zehn solcher antiken Bücher bequem in einem modernen Bande abdrucken. Danach aber bemesse man nun den Umfang der römischen Literatur. Horazens ganzes Lebenswerk sind 10 Büchlein; das ist an Textumfang nur ebensoviel wie Schillers Wallenstein. Auch das Lesen war 353 damals etwas anderes als heute. Man schlang nicht; man genoß in kleinen Rationen, an jedem Tag von Vergils Aeneis nur ein Buch. Wer mehr zu sich nimmt, handelt gegen die Absicht des Dichters.
Wir begreifen, daß man die faulen Ignoranten verhöhnte, die, um gelehrt zu scheinen, sich einen Hausphilologen hielten, der sie täglich mit Dichterzitaten versah. Dagegen war es doch vernünftig, daß, wer ernstlich solchen Interessen lebte, sich besondere Vorleser, Lesediener hielt, um so mehr, da die antike Literatur überhaupt auf Wohlklang, d. h. auf das Lautlesen berechnet war. Und nun gar erst, wenn der Büchermarkt Neues brachte! Da war das öffentliche Vorlesen vor großem Publikum die beste Art der Veröffentlichung und der Reklame. Das wurde immer beliebter und geradezu zum Laster, als die großen Klassiker Vergil und Ovid gestorben, und wir erhalten von spottlustigen Zeitgenossen die ergötzlichsten Schilderungen.
Es war die Zeit der Überkultur, wo alles dichtete, die Zeit der Wunderkinder, die da schon elfjährig in Konkurrenzen Dichterpreise davontrugen, aber dann früh ins Grab sanken. Der jüngere Plinius berichtet einmal, daß der Monat April, wo die Saison zu Ende ging, fast täglich in Rom solche Dichtervorlesungen brachte. Natürlich trug der Autor sich selber vor. Glücklich, wenn er reich genug war, um die nötigen Unkosten zu bezahlen! Wer arm, mußte einen Gönner zu Hilfe rufen. Denn es galt, einen großen Saal zu mieten, darin Bühne und erhöhte Sitze zu errichten, dann eine Claque zu bestellen, dann Einladungen und Programme herumzuschicken. Denn Eintrittsgeld wurde nicht gezahlt. Doppelt glücklich der Vorleser, der vorher nicht heiser wurde! Er tat gut, tagelang vorher sich den Hals in Wolle zu wickeln oder Hustenpastillen zu essen. Denn sein Organ mußte aller Töne fähig sein. Elegant in Weiß steht er da und grollt und donnert; dann haucht er schmelzend mit brechendem Auge und lispelt schleimig (so lautet eine Schilderung), macht plötzlich 354 eine Pause, leckt sich die Lippen und fragt, ob er fortfahren soll, und der Protest bricht los: »Nein, nein, nicht aufhören, du Glücklicher!« Das war es eben, was er gewollt. Aber viele Geladene kamen zu spät und gingen zu früh: Orest tötete seine Mutter zum tausendstenmal! Es war nicht auszuhalten.
Lassen wir uns indes in unserem Gesamturteil durch diese Dilettantenwirtschaft nicht irre machen. Denn wir glauben ja auch an die Güte unserer deutschen Literatur trotz so mancher Dichterlinge, die ihre Eintagsromane heute öffentlich vorlesen, trotz aller Sprach- und Geschmacksverderber, die bei uns grassiert haben und noch grassieren. Roms Literatur ist schon darum von unvergänglichem Wert, weil sie ein Erzeugnis und ein Abbild der griechisch-römischen Hochkultur ist, die sich in ihr und durch sie der Nachwelt offenbart. Welch ein Glück für Rom, daß es jene Dichter fand, die der Welt bewiesen, wie warm und menschlich tief doch auch ein Römerherz empfinden kann und zugleich, wie wundervoll feinfühlig die lateinische Sprache selbst sich jeder Kunstform anbequemt!
Die Literatur ist das Selbstgespräch der Völker; jedes Volk kann es nur in seiner eigenen Sprache führen. Wie begabt erwies sich das Latein! welche Mannigfaltigkeit der Töne! im Kraftwort (fortes fortuna! vae victis! oderint dum metuant), im Sinnspruch (carpe diem; non omnia possumus omnes), im Depeschenstil (veni, vidi, vici), im blendenden Witz, in strenger Formulierungsfähigkeit, wie der Jurist sie braucht, in jener klangvoll rauschenden Fülle, mit der Cicero gegen Sulla oder Marc Anton sich bewaffnet; dazu des Ovid prickelnde Munterkeit, die Süßigkeit der vergilischen Hirtenverse, der apokalyptische Dämmer der 4. Ekloge, der pompös feierliche Ton im Traum Scipio's, die herbe Wucht und Glut des Properz. Überall trägt die Sprache die strengen Kunstgesetze, die ihr auferlegt werden, willig und leicht, wie das Musenroß den Zaum der Muse; noch köstlicher aber, wenn sie sich einmal daraus übermütig löst und genial frisch sprudelt 355 wie im Catull oder gar, wenn sie sich unbeobachtet glaubt und ganz frei ergeht, wie in Cicero's Briefen. So souverän, wie diese Briefe es zeigen, schaltet nur ein Weltmann, der auf dem Gipfel des großen Lebens steht, mit seiner Sprache. Das hat kein Grieche je gekonnt.
In einigen Dichtern Roms herrscht freilich eine stark eintönige Wortfülle, die der Deutsche (nicht so der Franzose) lästig empfindet. So ist Lukan mehr beredt als poetisch. Im ganzen aber ist die Unterscheidung, wonach die griechische Poesie unrhetorisch, die römische dagegen rhetorisch sei, töricht und abgestanden. Denn Rhetorik heißt Redekunst, und die Kunstrede ist ihr Erzeugnis. Von Kunstrede aber sind auch die Griechen, ist auch Euripides, ist schon Homer erfüllt. Vergil ist nicht rhetorischer als diese; seine Redekunst ist nur eine andere. Sie ist nie geschwätzig (wie ab und zu doch Homer), aber sie ist einförmiger.
Daß in nationaler Frömmigkeit und Tugend Vergil der Erzieher der römischen Welt geworden, legt uns im 4. Jahrhundert sein Erklärer Donat ausführlich dar. Wir können bei ihm und anderen Größen nicht verweilen. Trotz aller Bewunderung stehen wir vor der römischen Literatur doch nicht ganz ohne Enttäuschung. Denn ihr fehlt eins: das Hinreißende, das Herzbefreiende, das uns voll beglückt. Ist es doch nicht die heldenhafte Werdezeit Roms, die sich in ihr darstellt, sondern nur die Rücksehnsucht der Spätgeborenen nach der einstigen Vollkraft und Größe. Ihr Grundzug ist rückschauend elegisch, dabei oft pessimistisch, oft grell satirisch, wenn sie nicht gar vor den Cäsaren in niedrige Schmeichelei versinkt. Wie düster Sallust! wie grollend Tacitus! wie ätzend der schmähsüchtige Juvenal! Nur die augusteischen Dichter geben uns in vielen Teilen wirkliche Gegenwartspoesie, die sich erlabt an ihrer eigenen Schönheit, froh und festlich, wie in hellschimmernden Marmor gemeißelt und übergoldet von seligem Triumphgefühl: die Poesie des gewonnenen Weltfriedens. Aber diese beglückte Stimmung wirkt 356 dennoch stagnierend, und so wie der Römer kein einziges Wanderlied besaß, das abenteuernd »hinaus in die Ferne« ruft, so fehlt auch dieser Literatur die Zukunft, der Glaube, das Problem, das Stürmen und Drängen in Entwürfen, das Wagen und Jagen nach ungreifbar hohen, fernen Zielen; ihr fehlt jeder Trieb, mächtig über sich selbst hinaus. Sie ist männlich, aber nicht jugendlich.
Und sie arbeitete nur für die oberen Zehntausend: ihre Sprache war Kunstlatein, nicht Volkslatein. Für die breite Masse ist, was sie bot, doch wohl großenteils verloren gewesen. Erst die Kirchenlieder des Bischofs Ambrosius fanden Worte, die auch dem Schlichtesten eingehen, ohne trivial zu werden.