Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

»Der Oberpräsident v. Bassewitz gilt doch als ein so würdiger Mann«, seufzte Frau v. Bismarck auf die Klagen ihres Sohnes.

»Ist er auch, doch der Zopf, der hängt ihm hinten. In Aachen war die Geschäftslast das beschmierte Papier nicht wert. Die Bureaukratie ist oft eine Sinekure für halbgeschäftigen Müßiggang. In Potsdam ist das Arbeitspensum größer, die Beamten sind fleißig und gewissenhaft, aber regieren vom grünen Tisch weltfremd die Landkreise. Die kleinliche Pedanterie bringt mich um.«

»Du hast doch wichtige Geschäfte bearbeitet«, unterbrach ihn Bruder Bernhard. »Den Dammbau bei Wusterhausen –«

»Ja, die Beiträge dazu von den Kommunen einzutreiben! Und so schöne Mahlsteuerprozesse! Das nennst du wichtig? Mir ist alles zum Halse raus.«

»Und doch bist du zum Staatsbeamten bestimmt!« betonte Bernhard eifrig.

»Zum Diplomaten!« bekräftigte die ehrgeizige Mutter. »Es wäre jammerschade –«

Der alte Herr v. Bismarck hatte kein Wort gesagt, jetzt klopfte er seine Pfeife aus und sagte bedächtig: »Des Menschen Wille ist sein Himmelreich und der feinste Diplomat ist der liebe Gott. Der wird schon wissen, was für Otto gut ist. Wenn er die Beamtenhucke nicht mehr auf den geraden Rücken nehmen mag, so weiß ich Rat, was er anfangen soll. Unsere pommerschen Güter – daß ihr's nur wißt! – liegen sehr danieder, ich verstand nie, den Groschen in der Hand umzudrehen.« Er räusperte sich verlegen, seine Familie kannte ja seine geringe Begabung zur Sparsamkeit. »Es fehlt an der nötigen Aufsicht. Ich will mich ganz nach Schönhausen zurückziehen, ihr Söhne sollt in Pommern etwas herauswirtschaften, damit wir den verfahrenen Karren aus dem Dreck ziehen. Übrigens kann Otto zwischendurch sein Freiwilligenjahr abdienen.«

»Herzlich einverstanden, Vater!« Der von Beamtenbürde Erlöste atmete tief auf. »So werde ich doch endlich wieder reine Luft schlucken nach all dem Aktenstaub.« – – –

Unter den Linden 5 und später Bellevuestraße 22, wo der »Rittmeister und Ritter pp. v. Bismarck, Hochwohlgeboren« in Berlin wohnte, regnete es Beileidsbriefe von Verwandten und Bekannten. Besonders die Damen zürnten dem Ungeratenen, der nicht an der Staatskrippe sich atzen und das sanfte Beamtenjoch ertragen wollte. Die Gräfin Bismarck-Bohlen auf Karlsburg und ihre Tochter Linchen, jetzt Frau v. Malortie, setzten dem Kusin Otto persönlich mit Vermahnungsepisteln zu. Dieser antwortete der »gnädigen Kusine« mit einem langen Schreiben, dessen hohe Männlichkeit den Frauen ans Herz griff und das eine Reife des Urteils, eine Klarheit der Weltbeobachtung und eine Beherrschung der sprachlichen Ausdrucksweise vereinte, weit über seine Jahre hinaus, bei einem Jüngling mehr als erstaunlich. »Das traurigste ist«, bemerkte die Gräfin zu ihrer Tochter, »daß ich danach mehr denn je von Ottos Talenten überzeugt bin. Hat Wilhelmine denn gar keinen Einfluß auf ihn? Sie ist doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Doch sie sagt, mit Otto werde sie nicht fertig.«

Frau v. Bismarck verfocht umsonst ihren abweichenden Standpunkt gegen den Sohn, dem sein Vater treulich sekundierte. »Du wirst doch nicht im Ernste behaupten, daß du notwendig Bauer oder sagen wir höflich Landbebauer werden mußt. Hast du nicht Pflichten gegen dein Vaterland?«

»Die erfülle ich geradeso, wenn ich Korn baue, ohne das der gelehrteste Staatsbürger verhungern müßte. Das Vaterland hat meines Wissens noch nie den Wunsch geäußert, daß ich Administrativbeamter sein soll. Es weiß von meiner Existenz überhaupt nichts und hilft sich schon, wenn ich heut noch krepiere. Das Wohlergehen der guten Preußen ändert sich nicht nagelsgroß, ob ich oder ein anderer irgendwo der Regierungsmaschinerie angehöre.«

»Als ob du dann nicht für deine Mitbürger ganz anders wirken könntest, als du je als Privatier es vermagst! Deine Fähigkeiten –«

»Und wenn ich noch so unbescheiden darüber dächte, und wenn ich wirklich so edel wäre, fremde Interessen meinen eigenen voranzustellen, so leugne ich, daß ein einzelner Beamter irgendwelche Bedeutung hat. Man schiebt da nur nach unten, wie man von oben geschoben wird.«

»Dann sorge dafür, daß du selbst an eine obere Stelle trittst!«

»Welche? Premierminister? Darüber wird man eisgrau, man kommt dazu als Mummelgreis, wenn die Zähne ausfallen. In der Jugend hat man nichts zu beißen und im Alter keine Zähne. Und was wäre das Großes? Selbst wer im Orchester die erste Violine spielt, tut doch nur, was der Kapellmeister ihm vorschreibt. Er spielt die Noten vom Blatt wie die andern Spieler auch, und ob er das ganze Musikstück für schlecht oder gut hält, darf ihn nich kümmern, bei Verlust seiner Gage. Bei uns regiert der König allein, niemand darf ihm dreinreden und raten. Nun, ich bin solch ein drolliger Kauz, daß ich selber Musik machen möchte, gute Musik nach meinem Geschmack oder gar keine. Da will ich lieber stille sitzen und schweigen.« Der alte Bismarck grunzte förmlich vor Vergnügen und stieß ein vernehmliches Bravo aus.

»Du sprichst wie ein heimlicher Demokrat, der du ja leider bist, wie ich schon lange argwöhne. Und wenn du nur an dein eigenes Behagen denkst, hast du denn gar keine noble Ambition? Als Minister hat man doch immerhin eine gebietende Stellung, ein hohes Ansehen.«

»Ich höre immer Minister, als ob jeder, der in der Lotterie setzt, das große Los im Sack hätte. Aber diese Höhe reizt mich gar nicht, ich halte für ersprießlicher, Schafe zu züchten als am grünen Tisch Verfügungen zu Papier zu bringen, die oft die Tinte nicht wert sind.«

»Das ist deine beschränkte demagogische Auffassung.« Die gnädig Frau v. Bismarck, geborene Mencken, rauschte zornig in ihrem Seidenkleide. Dies traf sie, die Tochter des Kabinettsrats, am wundesten Punkte.

Otto zuckte gleichmütig die Achseln. »Indessen, es ist so. Kurz und gut, ich bin so geartet, daß mir vor allem am Herzen liegt, nicht zu gehorchen. Das Befehlen überlasse ich anderen, wenn sie nur mir nichts zu befehlen haben.«

»Das soll wohl heißen, Söhnchen: lieber der Erste in einem Dorfe, als der Zweite in Rom?« lachte der Alte.

»Nee, ich bin nicht Cäsar, habe gar keinen Bedarf für so was. Der Erste sein, wäre mir überhaupt schnuppe, ich will bloß für mich der Eine sein, der allein für sich selber lebt.«

» Ni dieu ni maître! Also der ausgesprochenste Egoist?« Die Mutter sah ihn mit ihren kalten Augen prüfend an, die einen stählernen Glanz hatten. Das Ewigweibliche sah wieder einmal tiefer, intuitiv, aber sah nicht alles, das Ewigmännliche, das an einer bestimmten Gemütsstelle dem weiblichen Verständnis entschlüpft, nach dem Refrain: was schert mich Weib, was schert mich Kind, ich trage weit besseres Verlangen. »Rede mir nichts vor! Ich traue dir diabolischen Ehrgeiz zu, einen richtigen Machthunger, wenn du nur allein und ungestört deinen Willen durchsetzen könntest. Nun, ich sehe, mit dir ist nichts anzufangen, vorläufig. Keine schmeichelhafte Vorhaltung, daß du besonders für Staatsmannschaft ausgerüstet seist, wird dich bekehren, sondern nur die Probe, daß Leute von Geist nicht zum Landwirt taugen.«

»Erlaube mal,« mischte der Alte sich pikiert ein, »Klugheit ist gut für jedes honette Geschäft, und eine große Landwirtschaft leiten ist keine Sinekure, wie so mancher Beamtenposten. Jeder Esel kann Geheimrat werden, aber ein Esel, der Disteln frißt, schnuppert umsonst am Getreideboden. Dazu gehört mehr Grips, als in muffigen Akten herumzuschnüffeln.«

»Sehr richtig, Vater«, bekräftigte Otto. »Besonders Kniephof fordert einen gescheiten Gutsherrn voll Arbeitskraft, wenn ein so großer Komplex den richtigen Ertrag geben soll. Bernhard eignet sich ja trefflich zum Landrat, schickt sich in alle Launen seines Vorgesetzten, vertritt entschieden die Grundsätze der Regierung, die mir mißfallen, aber für Bewirtschaftung seiner Güter nimmt ihm das schon zu viel Zeit weg. Sollte ich nun auch noch durch Amtstätigkeit nicht abkömmlich sein, so werden unsere großen Güter vor den Hund gehen und unser Vermögen sehr ernstlich beeinträchtigt werden. Das Vermögen aber ist unerläßlich für jede Lebensführung, und ich stehe mich auch materiell viel besser, wenn ich ein wohlhabender Gutsbesitzer bin statt eines hungrigen Regierungsrats mit 1000 Taler Gehalt, der auf großem Fuße mit Weib und Kind in der Stadt leben muß. Der bezahlt bar Wohnung, Kost, Heizung, Licht und diensttuende Geister, was wir alles auf dem Lande umsonst haben.«

»Gesprochen wie ein Salomo!« Der alte Rittmeister klopfte sich auf die Schenkel und sah seine Frau stillschweigend und schadenfroh an. »Ist das ein toller Schwärmer, he? Das ist der gesunde Menschenverstand eines märkischen Edelmanns. Mach' nur so fort, Otto! Um dich ist mir keine Bange! Wir ordnen die Sache so, daß ich mich nach Schönhausen aufs Altenteil setze, du Kniephof bekommst und an Bernhard Külz und Jelichau abtrittst. Den Kontrakt darüber können wir später bei Bohlens auf Karlsburg aufsetzen, zu denen ich im Herbst reisen muß. Verwahre dich nur gegen Bernhards Irrtum, man könne zugleich Landökonom und Stadtbeamter sein, wobei man sich nur zwischen zwei Stühle setzt! Also man druf! Hast du dein Militärjahr abgedient, geht der Rummel los, und du wirst schon zeigen, was eine Harke is. Du bist der richtige Landmann, kein Stadtkind.«

»Und wenn Bernhard erst Landrat ist, dann will ich ihm als Kreisdeputierter über den Hals kommen, damit er die Vertretung bequem und billig hat, wenn er mal Urlaub nimmt. Das wird dich doch trösten, Mutter«, suchte er die Haustyrannin zu beschwichtigen.

»Macht, was ihr wollt!« hauchte diese mit leidender Miene. »Ihr Männer hört ja doch nicht auf Frauenrat. Ich aber werde sterben in dem Glauben, daß Otto doch noch dem Staate dient.« – –

*

Der einjährige Gardejäger Bismarck, Ende März 1838 eingetreten, schritt als Schildwache im Mondschein die Terrasse von Sanssouci ab. Zwei Walnußbäume warfen einen breiten Schatten über den Kies, auf das vergoldete Kupferdach der Orangerie trommelte ein schwacher Regen. Der Geist Friedrichs des Großen und seiner Tafelrunde scheint hier im Garten umzugehen, poetische Einbildungskraft kann sich leicht in jenes Licht zurückversetzen, das die blauen Diamantenaugen des großen Königs ausstrahlten. Doch dieser königlich preußische Gardejäger hatte nicht soviel Poesie, sondern ganz andere Dinge im Leibe, und als er mit geschultertem Gewehr die Runde machte, bewegten ihn nicht romantische, sondern nüchtern historische Gedanken. Daß des Korsen Weltreich sofort zusammenbrach und Friedrichs Schöpfung für immerdar bestehen bleibe, hält man uns auf Gymnasium, Universität, in Büchern, Zeitungen vor. Doch heißt das richtig messen, haben wir Grund zu prahlender Überhebung? Der Vergleich hinkt zu sehr. Napoleon wollte an der Spitze eines Staates, der schon seit 100 Jahren die erste Geige spielte, ganz Europa unter sein Joch zwingen. Das hieß den Bogen überspannen, und doch wäre sein Unternehmen nicht eigentlich gescheitert, wenn seine Ungeduld nicht den Angriff gegen Rußland verfrüht hätte und besonderes Unglück ihn dabei heimsuchte. Denn Rußland seinerseits konnte nie einen Angriffskrieg gegen Napoleon wagen, der so als Herr Europas gestorben wäre. Jedenfalls hinterließ er Frankreich so mächtig, daß es auch heut noch erheblich mitredet. Friedrich hingegen wollte nur einen Kleinstaat zu einer Großmacht erheben, und wenn ihm dies bei Lebzeiten glückte, so sank doch nach 20 Jahren Preußen tiefer als je zuvor. Das neue Preußen der Befreiungskriege hat mit Friedrich nichts mehr zu schaffen oder nur wenig, und sind wir etwa heut eine Großmacht geblieben? Nur auf dem Papier. Die wirklichen Großstaaten lächeln darüber, und ein Blick auf die Landkarte zeigt uns Preußens schmalen Leib wie in einem Prokustesbett vom Rhein bis Memel ausgereckt, Westfalen und Rheinland ohne unmittelbare Verbindung mit Altpreußen, Hessen und Hannover dazwischen. Wir sind nichts als ein Hauptbestandteil des Deutschen Bundes, und auch hier nimmt Österreich die oberste Stelle ein. Im Grunde ist der König von Preußen heut wie in alter Zeit nur eine Art Lehensträger des Habsburger Kaisers, obendrein abhängig von der Gnade des Zaren. Unsere Politik wird in Petersburg gemacht und von Wien aus vorgeschrieben. Sind das erfreuliche Eindrücke für ein preußisches Herz? Und gar ein deutsches? Doch den Unsinn geb' ich jetzt auf, die deutschen Brüder wollen ja nicht Brüder sein, also lassen wir sie schießen, sie wollen sich ja nicht von uns lieben lassen. Wir spotten über die Krähwinkelei der Kleinstaaten, doch bei uns zulande krähwinkeln wir auch ohne Augenmaß für wahre Machtverhältnisse. Immer noch schlafen wir auf Lorbeeren des Alten Fritz, und solch abgestandenes, aufgewärmtes Lorbeergemüse schafft uns Magenbeklemmung. Was gewannen wir durch die Befreiungskriege? Blutwenig. Deutschland ist immer noch ein geographischer Begriff und Preußen ein Kleinstaat. Was soll das werden! Ich traue dem faulen Frieden nicht, wir gehen irgendeiner Katastrophe entgegen, das fühlt man in der Luft. Das einzige, was wir haben, ist die Armee. Aber ich glaube, da fehlt noch manches. Das Landwehrsystem ist nur soso. Und kommt es zu inneren Zwistigkeiten –! Nun, Seine Majestät wird ja nicht lange mehr leben, und sein Nachfolger gibt die Verfassung. Da läßt sich manches für und wider sagen, doch der Absolutismus ist sicher überlebt. Ja, hier, wo man an den Alten Fritz denkt – der aufgeklärte Despotismus ist die beste aller Staatsformen, aber dazu braucht man erstens ein Genie, zweitens die lauterste Charakterstärke. Und wo sind denn solche Kräfte! Ein Ancien-Regime mit männlichen und weiblichen Günstlingen ist ein rechtes Elend. Nein nein, davon müssen wir loskommen. Mama hat ganz recht, ich bin auch liberal in diesem Sinne. Nur an den historisch gewordenen Gliederungen der Stände darf man nicht rütteln, wie die Schwarzrotgoldenen möchten. Zum Teufel, ich bin nicht verjunkert, habe ich mich je mit »von« unterschrieben? Aber daß die Bürger uns jedes Lebensrecht absprechen, ist eine lächerliche Anmaßung, denn so gut wie sie sind wir noch lange, und ich habe bei ihnen noch wenig Adeliges bemerkt. Der preußische Junker als Offizier ist ein Musterkerl, so was züchtet man nirgends als bei uns. Und ich glaube, ich werde doch noch übertreten in die Armee. Freilich, sich von dummen Vorgesetzten schurigeln lassen, ist kein Pläsier. Und wenn man hinter die Kulissen schaut, zweifelt man, ob auch hier nicht, geradeso wie in der Bureaukratie, die behäbige Mittelmäßigkeit alle Chancen hat. La prudente mediocrité, sagte l'Autre, der ein höllisch gescheiter Kerl war. Mir freilich unsympathisch mit seiner gallischen Charlatanerie und seinen korsischen Phrasenpomp. Wir Germanen träumen uns andere Helden. Aber welche? Das weiß ich selber nicht, denn der Alte Fritz ist mir auch noch zu sentimental, pathetisch und eitel, der olle Blücher zu rüde und sittenlos. Bei Gott, der alte Freiherr vom Stein wäre so mein Fall. Ein etwas ungemütlicher Herr für seine Untergebenen, auch zu feudal für meinen Geschmack, Reichsfreiherr bis in die Knochen trotz seines Liberalismus, aber ein sittenstrenger, durch und durch ehrlicher, weitblickender und großartiger Mensch, kein Preuße, das war ihm zu wenig, aber ein Deutscher, der ein deutsches Vaterland wollte. Bah, was ist des Deutschen Vaterland! Nirgendwo! Ich, der ich nicht ein Ausländer bin wie Stein, sondern ein erbangesessener Altpreuße, will ein Patriot bleiben in meiner bescheidenen Sphäre. Ich lebe und sterbe als strammer Landjunker und fülle meinen geringen Posten und damit holla!

– – Landwirt Bismarck ließ sich nach Greifswald versetzen, um dort während seiner Dienstzeit Vorlesungen über Agrikultur zu hören. Denn sein Dichten und Trachten ging jetzt einzig auf praktische Landwirtschaft. Pünktlichkeit und Gehorsam, die er beim Militär lernte, wollte er seinen Dienstleuten gehörig einbläuen. Ihm hatte sein Hauptmann v. Röder auch genug die Hölle heiß gemacht und ihm beigebracht, daß man als Soldat ohne Ansehen der Person Order zu parieren habe und Muttersöhnchen nicht immer Urlaub bekämen, um ihre kranke Mutter zu besuchen. Frau v. Bismarck kränkelte plötzlich sehr, und Otto hatte vier Wochen länger in Berlin bleiben vollen, doch man setzte ihn eiligst in Marsch, da er sich schon verspätet habe. Sein Kompagniechef in Greifswald, Portatius, behandelte ihn jedoch sehr artig und stellte ihm aus freien Stücken anheim, ob er wieder nach Berlin auf einige Zeit zurückreisen wolle. So erfuhr er, daß auch beim Militär öfter mit zweierlei Maß gemessen wird und ein Freiwilliger nicht umsonst Ritter v. Bismarck heißt. Da es ihm zu kostspielig schien, gleich wieder die Hin- und Herreise anzutreten, versprach er der Mutter, zu Weihnachten zu kommen und richtete sich in der kleinen pommerschen Universität häuslich ein, indem er den erhaltenen Urlaub zum Studium benutzte. Die Jäger rückten nach Stargard aus, und er hatte Muße, sich mit Chemie vertraut zu machen, wobei ein Medizinstudent ihm Nachhilfestunden gab. Praktische Ackerwirtschaft konnte er sich in der Umgebung ansehen. Auch aß er absichtlich im »Deutschen Hause«, wo sich täglich Landwirte einfanden, die in der Stadt ihren Roggen verkauften. Er saß zwischen diesen Rotbäckigen und Wohlbeleibten, deren unverwüstlichen Appetit er beneidete, deren dicke wulstige Hände und heftiges Schreien und Gestikulieren ihm aber den eigenen Appetit verdarben. Dabei verstand er nichts von ihren heftigen Gesprächen über Kornhandel und andere begeisternde Gegenstände, da sie alle Platt sprachen. Nur ab und zu schlugen menschliche Töne an sein Ohr: Raps, Hafer, Dreschen, Sämaschine, auch vernahm er vom »Berliner Schlägel« und »Stoppelroggen«. Dazu nickte er teilnehmend als gelehriger und verständiger Schüler und träumte nachts von ganzen Wagenladungen Mist. Das sind ja schreckliche Ochsen, meine neuen Kollegen! dachte er. Diese Veredelung durch Gottes freie Natur kann sich für Geld sehen lassen.

Als er nach der Wirtschaftsakademie Eldena hinausfuhr, hieß es: »Herr Direktor Schulz ist verreist, auch die Lehrer und die meisten Schüler.« So konnte er vom Unterricht in den Hörsälen vorerst nichts profitieren. Doch machte er sich über das »Hören« und Kollegienhefte seine eigenen Gedanken. Das ganze deutsche Lehr- oder richtiger Hörsystem mißfiel ihm. Eingepaukte Examina, wo die Examinatoren ihr sorgliches Augenmerk darauf richten, ob ihre eigenen Kollege fleißig von den Zöglingen der Wissenschaft besucht würden! Der zufällig Verschüchterte fällt durch, der Kecke und Schlaue, der sich auf ein besonderes Steckenpferd des Examinators zuritt, besteht mit Glanz. Lauter chinesische Zustände, gerade wie beim Beamtentum, nicht für die plebs contribuens der Regierten, d. h. hier der Schüler, sondern für die Professorenkaste eingerichtet, damit ihre Gelehrsamkeit nicht verhungere und sie eine Staatsanstellung haben. »Aus guten Büchern«, schrieb er seinem Vater, »lerne man ebensoviel« – oder richtiger: besser. Fast alles Große in der Welt stammt von Autodidakten. So ging diesem Originalmenschen, der alle Dinge in ihrer wahren Natur, nicht in konventionellem Schleier sah, auch die Vorstellung durch den Kopf, daß die verrostete Staatsmaschine erst durch einen in Schwung kommen könne, der aus sich selbst heraus, ohne alle Kleister- und Kleberoutine, die Staatsmechanik erlerne.

Bei einem Besuch in Karlsburg erfreute ihn seine Kusine Linchen mit der Post: »Deine Mutter befindet sich sehr in der Besserung. Der Doktor macht Hoffnung auf dauerndes Wohlbefinden.« »Gott sei Dank!« atmete er auf. »Ich möchte nach so langer Zeit wieder mal einige Zeilen an mich von Mutters eigener Hand sehen.« »Ich dachte gar nicht, daß du so viel Gemüt hast«, versetzte die Kusine schnippisch. Die Frauen mochten ihn alle gut leiden, schmollten aber, weil er sich so wenig um sie kümmerte, und fürchteten sich vor ihm mit einem unbestimmten, weiblichen Instinkt, als ob hinter ihm in wesenlosem Scheine das, was alles bändigt, der erotische Zauber, liege.

Ein dortiger Bekannter lud ihn zum Inselfürsten Putbus ein, der ihm seine neue Zuckerfabrik zeigen werde. Der Abstecher lohnte sich. Fürst Putbus erkundigte sich, ob der alte Herr v. Bismarck noch immer in Kartoffelbrennerei stark sei. »Der Adel muß sich eben auch auf die Industrie werfen, das einzige Mittel, um den Grundbesitz im Gange zu erhalten. Die Zeiten sind schlecht.« Diese landesübliche Phrase hörte Otto nun schon seit Kindesbeinen, und man wird sie hören bis zum Jüngsten Gericht, wenn der letzte behäbige Agrarier seinen notleidenden Stoßseufzer ausstößt. »In England klagt man auch, weil die Demagogen die Abschaffung der Kornzölle durchsetzen, wodurch Nobility und Gentry auf keinen grünen Zweig kommen.«

»Die Brotteuerung ruinierte aber das Volk«, wandte Otto ein.

»Ach Unsinn! Man merkt es gar nicht. Was kommt auch darauf an, ob der Arbeiter etwas besser oder schlechter lebt! Der Adel allein ist das Rückgrat des Staates. Das weiß man in England gründlicher als bei uns. Es geht einem das Herz auf, wenn man diese herrliche Gesellschaft sieht, wo alles auf Herrschaft und Vorrechte der Aristokratie zugeschnitten. Ich war ja neulich drüben.«

»Als außerordentlicher Gesandter, ich weiß,« verbeugte sich der Gast, »beim Regierungsantritt der Königin Viktoria.«

»Ja, es ist zum Totlachen, wenn unsere Demokratriche vom freien Albion schwatzen. Ich sage Ihnen, lieber Bismarck, das ist eine scharfe Zucht wie nirgends. Das Volk, die schweinische Menge, wie vornehme Engländer es nennen, wird ganz niedergehalten. Auch die Justiz ist ganz im Fahrwasser der oberen Klasse. Etwas zu hart sogar, muß ich sagen. Und das Königtum hat einen Nimbus, oh! Die Königin gilt sozusagen als heilige Person, wie ein japanischer Mikado.«

»Und das Parlament hat nichts zu sagen?«

»Wenig, eine Farce, um das dumme Volk zu täuschen. Bei uns ohne solche Schwatzmaschine haben's die unteren Stände viel besser. Sollten Gott auf den Knien danken, daß bei uns Regierung und Beamte so human denken, viel zu liberal.« –

Otto machte hier auch Bekanntschaft mit einem fetten, hellblonden Badegast nebst sehr hübscher Gemahlin, die mit dem stattlichen Jüngling etwas zu kokettieren anfing.

»Von Stockhausen aus Hannover. Sind soeben nach Berlin übergesiedelt.« »Gefällt's Ihnen da?« »O gewiß, in Hannover ist's zu steif, zu englisch. Herr v. Bismarck studierten in Göttingen, nicht? Ein Vetter hat mir von Ihrem Renommee erzählt, als einen Teufelskerl, pardon!«

Otto ging nicht darauf ein und lenkte rasch ab: »In Hannover sind wohl jetzt ziemlich unsichere Zustände, politisch unhaltbar?«

»Wieso denn? Interessiert Sie das? Unser Allergnädigster brüllt als Welfenlöwe und die Göttinger Professoren kriechen zu Kreuze oder werden aus Lehrstühlen und Kanzeln verjagt. Voilà tous. Die Universitäten sind doch überall Brutstätten des Jakobinismus. Deutsche Einheit, ich bitt' Sie! Wo bleiben denn da die angestammten Souveräne?«

Auf Rückfahrt zum Festland bekam Otto die Seekrankheit, was ihm aber nur als gesunde Purgierung diente und ihn nachher zu mächtigem Gabelfrühstück anregte. Bei dieser unverwüstlichen Vitalität konnte auch der Alkoholgenuß, dem er frönte, die Lebensgeister nicht schwächen, animal spirits nennen es die Engländer.

Dies war Ende September. Als er nach Kniephof fuhr, stand der frische Klee »wie eine Bürste«, auf den Feldern haushohe Mieten, das Vieh graste noch. »Wir werden in Winterfrüchten ein gutes Korn ernten«, berichtete der Inspektor. Otto überlegte, wie es mit Ziegelei, Brennerei, Brauerei werden solle. Er lächelte über die alte Fabel von der deutschen Armut, durch Magdeburger Börde und Pyritzer Weizenkammer genügend wiederlegt. In Frankreich gibt es die Beauce (Touraine) und die Pikardie, daneben die lausige Champagne und arge Striche im Süden, wo gar nichts wächst. In Großbritannien hat nur Südengland guten Boden.

Er warf sich ungestüm in die neue Arbeit und schien es darauf anzulegen, sich einen guten Namen unter den Gutsbesitzern zu machen. In Wahrheit fragte er gar nichts nach der guten Meinung seiner Nachbarn, die er zwischendurch auch durch andere Dinge in Erstaunen setzte. Seine Jagden und Trinkgelage hatten einen Stil der Unbändigkeit. Um die Außenwelt bekümmerte er sich wenig. Nur mit seiner Schwester, die er zärtlich liebte, blieb er in stetem Briefwechsel und vertraute ihr seine Sorgen an. »Nachtfröste, kranke Kühe, schlechte Landwege, tote Lämmer, halbverhungerte Schafe, Mangel an Stroh und Futter, an Geld und Kartoffeln.« Seinen ganzen Horizont begrenzte die Ausdehnung seiner Länderei. Bitter empfand er den Tod seiner Mutter. Die Kunde traf ihn plötzlich. Er reiste zum Begräbnis und bat ihr im Herzen alles ab. Mutterliebe ist eine Riesin, gemessen an Kindesliebe, die im Grunde nur auf dem Herkommen, nicht auf der innersten Natur beruht. Die Kinder leben für sich dahin und betrachten ihre Eltern im Grunde nur als milchende Kuh und Portemonnaie, als Versorger und nebenbei als unerwünschte Überwacher. Mutter ist Mutter, sie hat an mich geglaubt, ein törichter Glaube, doch immerhin! Ach, die gute Mama hat mir immer alles Mögliche prophezeit, so sind die lieben Frauen, immer transfigurieren sie ihre Männer und Söhne. Ich bin vielleicht kein ganz gewöhnlicher Mensch, aber das mag auch nur jugendliche Einbildung sein. So wie ich gibt's viele. Zu guter Letzt kommt es darauf an, ob das Glück oder die Vorsehung – wer weiß was! – uns begünstigt oder, richtiger, zu ihren Zwecken verbraucht. Das ist bei mir so gut wie ausgeschlossen, und ich trage auch gar kein Verlangen nach öffentlicher Heldenrolle. Meine Schäferhunde heulen viel besser als die pp. Politiker. Jetzt, 1839, bin ich erst 24 Jahre alt, aber ich sehe nicht ein, was ich anders treiben sollte, als meine Schafe zu zählen. Ich habe einen Appetit wie ein Auerochse und schlafe wie ein Dachs, das ist die Hauptsache.

Aber in seiner kleinen Kreiszeitung fand er plötzlich die Kunde, daß »am 7. Juni 1840 Seine Majestät König Friedrich Wilhelm III. das Zeitliche segnete« und Friedrich Wilhelm IV. den Thron bestieg. »Aha, jetzt gibt's die Verfassung!« Nicht doch, nur eine Amnestie. Zur »Huldigung« im Oktober beorderte Rittmeister v. Bismarck-Schönhausen seine beiden Söhne, und alle drei hatten den zweifelhaften Genuß, die neue Majestät auf einer Plattform vor dem Schlosse unter einem Baldachin erhabene Sprüche tönen zu hören. Nicht gerade aus der Weisheit güldener Wolke. Ja, er wolle regieren in Gottesfurcht und Menschenliebe. Er frage sein Volk, ob es mit Herz und Seele, Wort und Tat, in heiliger deutscher Treue und der noch heiligeren christlichen Liebe ihm beistehen wolle, Preußen zu erhalten, »wie es war und wie es allezeit bleiben muß, wenn es nicht untergehen wolle«. Die Menge, mehr schauend als hörend, antwortete mit begeistertem Ja, ein ebenso gedankenloser als sentimentaler Vertrag, dem bald ein peinliches Erwachen folgte. Preußen wie es war, d. h. ohne Verfassung? Der alte Herr v. Bismarck fragte seine Söhne, ob sie Seine Majestät verstanden hätten. Doch Otto erwiderte kein Wort.

*


 << zurück weiter >>