Bruno Hans Bürgel
Die seltsamen Geschichten des Doktor Ulebuhle
Bruno Hans Bürgel

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Müller Zirbelwirbel und der Tod

Doktor Ulebuhle legte die alte silberbeschlagene Schnupftabaksdose beiseite, verzog das runzlige Gesicht in hundert Falten und donnerte ein gewaltiges »Happzieh!« durch das stille Haus, so daß selbst die schwerhörige Christine, die im Nebenzimmer den Kaffeetisch deckte, erschrocken ein »Ei, Herr Jesus!« brummte. – Dann zog der schnurrige Doktor noch einmal das Gesicht in noch ärgere Falten, kniff die Augen zusammen, klopfte mit seinen langen Fingern gegen die Nase und wartete den zweiten Nieser ab. Aber . . . es ging nicht mehr, und enttäuscht fuhr er sich mit dem buntgeblümten Tuch über die Augen, ehe er sie mit seiner riesigen Hornbrille bewehrte.

Das waren so des guten Alten übliche Vorbereitungen, ehe er uns eine von seinen Geschichten zum besten gab. Nun aber begann er:

»Ich weiß nicht, Kinder, ob ihr noch den alten Müller Zirbelwirbel gekannt habt, der draußen in der Ebenheit, bei Langelsheim, seine Windmühle hatte. Die stand auf einem kleinen Sandhügel, der grün umbuscht war, und fuhr mit ihren vier Flügeln wie nicht gescheit in der Luft herum. Sie rackerte und knackerte, rauschte und fauchte, daß es eine Art hatte, und man mußte ihr zehn Schritt vom Leibe bleiben, denn sonst nahm sie jedermann beim Schlafittchen und warf ihn geradeswegs in die blaue Luft hinein. Manchmal, wenn der Wind sich aufs Ohr gelegt hatte, nickte auch sie ein bißchen ein, und dann saßen die frechen Krähen oben auf den Flügeln und benahmen sich höchst unanständig.

Am Fuß des Hügels, ganz in Fliederbüschen versteckt, stand das kleine Häuschen des alten Zirbelwirbel. Dem ging es gut, denn die Müllerei hatte ihm einen anständigen Batzen Taler eingebracht. Mit denen hatte sich der Müllermeister ein rundes Bäuchlein angemästet, von dem der Mehlstaub hinabrutschte wie der Sand von einer Bergkuppe. Seine blauen Äugelein lachten vergnügt in den Tag hinein, und zwischen ihnen strahlte wie ein Nordlicht die Knollennase, denn der Müller mahlte nicht nur das Korn, er trank auch gern einen Korn, 68 aber nicht, ohne vorher mit dem Korken an der Flasche einen fröhlichen Quietscher zu tun und ein Kavalleriesignal dazu zu blasen, so vortrefflich, daß man meinen sollte, er hätte eine Trompete an den Mund gesetzt.

Ihr seht, daß es ganz vergnüglich bei der alten Mühle zuging und daß es dem braven Zirbelwirbel da ganz gut gefallen konnte.

Aber eines Tages, noch dazu mitten im Mai, als die Fliederbüsche so herrlich blühten und alle Welt sich des Lebens doppelt zu freuen begann, geschah etwas ganz Unerwartetes, das höchst unerfreulich war. Der Müllermeister hatte sich den ganzen Tag rechtschaffen geplackt und eben ein paar schwere Kornsäcke von seinem Wagen zum Mühlentor getragen, da wurde es seltsam dunkel vor seinen Augen, so daß ihm das Kavalleriesignal, das er eben anstimmen wollte, im Halse steckenblieb und das geliebte Fläschlein seiner Hand entglitt.

Urplötzlich war der Wind eingeschlafen, und die alte Mühle blieb mit einem merkwürdigen Seufzer stehen. Eine schwere, dunkle Wolke hatte sich drohend über den Himmel geschoben, es wurde nachtschwarz am lichten Tag, und ein schwefelgelber Streif lag gespenstisch unten am Horizont. Ganz in der Ferne hörte man ein dumpfes Murren und Grollen, als zöge ein schweres Gewitter von den Harzbergen herüber.

Der alte Zirbelwirbel preßte die Hand aufs Herz und wankte nach seiner Bank hinter den Fliederbüschen, die reglos standen, wie erstarrt. Da saß er schweratmend und lauschte ängstlich in die Totenstille hinaus. Drei große Vögel zogen mit schwarzen Schwingen lautlos über ihn hinweg, er aber sah sie nicht; sein alter Sultan ließ aus dem Innern seiner Hütte, in die er sich zurückgezogen, ein langgezogenes Geheul hören, doch hörte er es nicht. Pechschwarz senkten sich dunkle Schleier über die Ebene.

Da schlurfte ein leiser Schritt über den Sandweg, und am Eingang der Fliederhecke stand der Tod.

Lang und hager stand er da. Er hatte einen dunklen Mantel umgetan, so daß man nur wenig von seinem Klappergebein sehen konnte. Sein Haupt war mit einem schwarzen, breiten Schlapphut bedeckt, und in der Hand trug er einen derben Knotenstock.

Meister Zirbelwirbel sah ihn erst nach einem ganzen Weilchen, und seine wasserblauen Äuglein weiteten sich vor Entsetzen. 69

Lange war es grabesstill, denn der Müller konnte keinen Schnaufer zuwege bringen, und der Tod wollte nicht, wie man so zu sagen pflegt, mit der Tür ins Haus fallen.

Aber endlich nahm der Tod, dem der allzeit sonst so lustige Müller leid tat, das Wort. ›Meister Zirbelwirbel‹, sagte er, ›einmal muß jede Mühle stillstehen, und es ist aus und alle, denn der Lebenswind ist aufgebraucht, und die Mühlsteine sind abgeschliffen. Dieser Augenblick ist nun für dich, Gott sei's geklagt, herangekommen. Ich bedaure es sehr, überall als ungebetener Gast zu erscheinen, wie der Mann, der die Steuern einkassiert, aber das ist nun mal mein Amt in der Welt, und ich kann die Welt nicht ändern. Tu mir die einzige Liebe und mach keine langen Sprüche über die traurige Angelegenheit, quietsche noch einmal mit dem Korken über die blanke Korn-Karoline, laß zum Schluß das Kavalleriesignal ertönen und Trari trara! Auf und davon!‹

Der Müller stützte den Kopf in die Hand und seufzte schwer. ›Auch eine Art und Weise‹, sagte er, ›,mitten im Frühling damit 70 anzukommen, wo der Flieder blüht, die Vögel singen und der Wind so schön saust und braust, daß man den Scheffel Korn im Handumdrehen mahlen kann. – Konntest du nicht bis zum Winter warten?!‹

›Da haben wir es!‹ antwortete der Tod und stampfte ärgerlich mit dem Wanderstab in den Sand. ›Immer dieselbe Litanei! Kannst du nicht morgen kommen? Kannst du nicht übers Jahr kommen? Kannst du am liebsten überhaupt nicht kommen? Es ist zum Verzweifeln mit den Menschen. Das ganze Leben hindurch schimpfen sie über die Not und den Ärger des Daseins, und wenn sie daraus fortgenommen werden sollen, geht ein schreckliches Lamentieren los. Ich habe es gründlich satt, und ich gäbe sämtliche Affenwälder Afrikas dafür, wenn mir einer mein Amt abnehmen könnte. Ich möchte es nur drei Tage so gut haben wie du, Zirbelwirbel, der du hier vergnüglich in deiner alten Mühle hockst, das Korn mahlst, von den Bauern deine blanken Taler einkassierst und des Abends behaglich unter den Fliederbüschen sitzt und Kavalleriesignale auf der Korn-Karoline bläst. Dir ist jeder zugetan, denn du bist ein Hans-Juchhe, aber ich bin der Schrecken aller Menschen des ganzen Erdkreises und kann doch nicht dafür, daß alles in der Welt einmal aus und alle sein muß. Ach, es ist todtraurig!‹

Ganz jämmerlich schnaufend ließ sich der bekümmerte Tod neben dem Müller auf der Bank nieder und stützte sein Haupt mit der knöchernen Hand. Er tat dem guten Zirbelwirbel ordentlich leid. Der langte – wie er es in alter Gewohnheit zu tun pflegte, wenn die Bauern ihn besuchten oder ein wandernder Müllerbursch des Weges zog – nach seiner Flasche und bot sie dem Knöchernen dar:

›Da‹, sagte er, ›nimm erst einmal einen kleinen Pfiff; das tut gut!‹

›Es hat keinen Zweck bei mir‹, entgegnete der Tod und schob des Müllers Hand zurück.

So saßen sie eine Weile schweigend beieinander. Aber dem pfiffigen Müller gingen die Gedanken wie Mühlenräder im Kopf herum. Er hatte auf des Schattenmannes Worte wohl geachtet, und so kam ihm ein Plan. Ob sich wohl mit dem Tode ein Pakt schließen ließe?! – Er hatte dergleichen dann und wann einmal im alten Dorfkalender gelesen. Zögernd hub er endlich an:

›Ich kann es mir vorstellen, Gevatter, daß dir dein Amt wenig Freude macht und daß du gern einmal an meiner Stelle hier auf dem Mühlenhofe säßest. Also bleib schon hier und ruh dich aus, solang es dir gefällt.‹ 71

›Das geht nicht, Müller, der Tod hat ein wichtiges Amt in der Welt und darf es keinen Tag versäumen. Ich bekomme alljährlich meine lange Liste, die die Namen derer enthält, die ich abrufen muß. Es gäbe einen schönen Kuddel-Muddel in der Welt, wenn ich mein Amt versäumte. Darüber hast du wohl noch nie nachgedacht. Zweitausendzweihundert Millionen Menschen leben auf der Erde. Viele davon haben jetzt schon nichts zu beißen und nichts zu brechen. Was sollte aus den Neugeborenen werden, wenn die Alten nicht für sie Platz machten?! Freiwillig will keiner fort, höchstens einmal ein ganz armer Teufel, dem's ganz und gar nicht mehr gefällt auf diesem Erdenstern. Da muß ein Unparteiischer sein, der Zugang und Abgang regelt, und der bin ich. – Freilich möchte ich gar zu gern auch einmal Urlaub haben und ausruhen vom Undank der törichten Menschen, die nicht einsehen, daß der Tod auch ein Segenbringer ist, der die schrecklichsten Übervölkerungen, Hungersnöte, Revolutionen, Kriege verhindert, aber wer sollte mich vertreten?‹

Der Müller überlegte eine ganze Weile, und die widerstreitendsten Gefühle tobten in ihm, aber es ging um sein Leben, und was tut der Mensch nicht alles, um das zu retten?

›Nun, Gevatter Tod‹, sagte er endlich, ›kann uns denn nicht beiden geholfen werden? Ruh dich hier ein Weilchen aus auf meiner Mühle und gib mir deine Liste mit den Namen derer, die du abberufen mußt. Ich will zu ihnen hingehen und ihnen die Botschaft überbringen. Schön ist das nicht, aber wenn du mich dafür noch ein Weilchen in Licht und Luft bei meiner Mühle leben läßt, will ich's auf mich nehmen!‹

›Da würdest du sehen, Müller, wie traurig und schwer mein Amt ist, und würdest mich beklagen, aber es geht ja nicht, du würdest nicht die Kraft aufbringen zu diesem Dienst!‹

›Nun, ein Weilchen wird es schon gehen, und die Welt wird nicht gleich einfallen. Laß es uns versuchen. Aber du mußt mir's auch gedenken und mich nachher noch hier in Frieden hausen lassen!‹

›Eines Tages‹, entgegnete der Tod mit tiefem Ernst, ›wirst du froh sein, wenn ich dich abrufe aus dem Leben, du dummer Tropf!‹

Da lachte der Müller, daß ihm das runde Bäuchlein wabberte. ›Gevatter‹, sagte er vergnügt, ›darauf kannst du lange warten. Solange noch der Wind lustig um die alte Mühle saust und ihre vier Flügel 72 rauschend durch die Lüfte fahren, solange noch die alten Fliederbüsche blühen und die lustigen Handwerksburschen hier des Abends auf dem Mühlenberg im Gras sitzen und ihre Schelmenlieder singen, solange der Wirt im Weißen Gockelhahn noch einen guten Korn für meine Karoline im Faß hat, will ich's schon ertragen ohne dich, darauf kannst du dich verlassen!‹

Da wandte der Tod dem Müller sein Antlitz zu und schaute ihn mit einem furchtbaren Ernst an, so daß dem guten Zirbelwirbel das Lachen auf den Lippen erstarrte und ihm das Herz stillzustehen drohte. Ein eisiger Windstoß fuhr durch die Finsternis, die alte Mühle ächzte kläglich auf, und der treue Sultan in seiner Hütte ließ ein jämmerliches Geheul hören.

›Spotte nicht, Menschenwurm!‹ sagte der Knöcherne, und es wehte kalt von ihm herüber zu dem Mann, der in sich zusammengesunken war. – –

Lange schwiegen sie, der Müller aus Furcht, der Tod verdrossen und grübelnd.

Schließlich aber hatte sich der Herr des Schattenreiches entschieden: ›Nun, laß nur den Kopf nicht hängen, guter Zirbelwirbel‹, sagte er, ›ich bin nicht ganz so böse, wie es scheinen mag, aber ich kann es nicht leiden, wenn die Menschen Torheiten über den Tod sagen und denken. Ich will dir etwas sagen: Wir wollen es ein Weilchen versuchen. Ich werde hier behaglich auf der Mühle sitzen und einmal all meinen Groll und meinen Ärger und Kummer austräumen, und du sollst mich in dieser Zeit vertreten. Dann wirst du sehen, wie schwer mein Amt ist, und wirst verständiger sein. Deinen törichten Wunsch, dich ganz von der Liste des Todes zu streichen, werde ich dir nicht erfüllen, weil ich dem Menschen, der mir Gastfreundschaft gewährte, nichts Böses antun möchte. Aber ich werde erst zu dir kommen, wenn du mich rufst, und du wirst mir dankbar sein! – Jetzt aber geh und mach dich auf, denn es will Abend werden. Es wäre mir lieber, ich könnte immer hierbleiben, und du wärest in meinem Amt, doch kann es nicht sein.‹

Der Tod erhob sich von der Bank, sein Gesicht war mild und freundlich geworden, und neuer Lebensmut durchzog den Windmüller. Es wurde plötzlich lichter ringsum, die Sonne schien noch einmal im Niedergehen zwischen den Tannen der Harzberge hindurch, der Abendwind zog noch einmal, vor dem Schlafengehen, über die Hügel, 73 drehte wieder lustig und gemächlich die Flügel der alten Mühle und fuhr den Fliederbüschen neckend in die wippenden Schöpfe. Die Vögel sangen, und der alte Sultan stand vor der Hütte und wedelte mit dem buschigen Schweif.

Von fernher hörte man die Dorfmädchen singen, die langsam den Weg heraufwandelten zum Mühlenhügel, um da in der Abendsonne zu sitzen und mit den Burschen zu schäkern, die um diese Stunde gewöhnlich hier vorbeizogen.

›Schnell‹, sagte der Tod zum Müller, ›da kommen Leute, und es ist Zeit, daß wir einig werden.‹ Er zog unter seinem dunklen Mantel eine dicke Rolle Pergamentpapier hervor, auf der waren dicht bei dicht die Namen der Abzurufenden geschrieben mit einem blassen roten Saft. ›Hier ist die Liste, Zirbelwirbel, mit Haus und Heim. Mach deine Sache gut und geh der Reihe nach, ohne Ansehn der Person. Vor mir sind sie alle gleich, der König und der Bettler. Und nun hinweg!‹

Er schob den Müller ins Haus, und der beeilte sich, so schnell es ging, von dannen zu ziehen. Ein Stein war ihm vom Herzen gefallen, so dick und schwer wie die im Mahlwerk. Er polterte in seine Kammer hinein, langte sich den schweren, dunklen Wettermantel vom Nagel, stülpte statt der weißen Zipfelmütze seinen Hut auf, ergriff den Wanderstab und trollte sich von dannen.

Der Tod sah ihn jenseits des Hügels der Waldstraße zueilen, aber am Rande des Tannengeheges machte der gute Zirbelwirbel noch einmal halt, griff in die Tasche, zog das Fläschchen hervor, tat mit dem Korken einen fröhlichen Quietscher auf ihrem gläsernen Rund und schmetterte sein Kavalleriesignal in die klare Abendluft.

›Trara ditrara ditra ditrara . . .!‹ klang es zur Mühle herüber. Der Tod hielt die Knochenhand über die Augen und schaute zum Wald, aber Zirbelwirbel war schon in seinem Schatten verschwunden. – –«

»Kinder«, sagte der alte Doktor Ulebuhle, »ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie leicht dem Gevatter Tod in diesen Urlaubstagen zumute war. Er vergaß gänzlich sein schweres, düsteres Amt, hatte endlich einmal seinen Spaß an der Welt. Ja, es war köstlich auf dem Mühlenhofe. Des Morgens in aller Frühe lachte Frau Sonne in die Fenster der kleinen Stube, vor denen auf dem Blumenbrett die bunten Stiefmütterchen im Morgenwind nickten. Sie fuhr mit ihren Strahlenfingern über das rot und blau karierte dicke Federbett des alten 74 Zirbelwirbel, auf dem nun der Schattenmann seine alten Knochen reckte, und trieb Allotria mit dem kleinen Achtgroschenspiegel, vor dem sich der Müller seinen Kratzebart zu schaben pflegte. Die Vögel sangen um die Wette, der Tau glitzerte gleich hunderttausend Edelsteinen in den Büschen, es duftete wie auf einer Bergwiese, und die alte Mühle rackerte und knackerte, fauchte und rauschte wieder, daß es eine Art hatte.

Der Tod saß auf der Mühlentreppe und machte zuweilen sogar einen ganz schüchternen Versuch, sich eins zu pfeifen, was ihm aber nicht gelang, da er den Wind nicht richtig durch die Zähne pressen konnte. Da saß er in der blanken Sonne und schaute vergnügt ins Land. Am schönsten aber war es doch des Abends. Dann ging der Wind schlafen, der Starmatz sang hoch oben im Lindenbaum seiner Liebsten die schönsten Lieder, die Mühle schwieg, und des Mondes Wächterhorn ward über den dunklen Harzbergen sichtbar. – Dann kamen im Abendlicht die schmucken Mädchen aus dem Dorfe herauf zum Mühlenhügel, setzten sich ins Gras und sangen alte Weisen.

Und Wandergesellen kamen um die gleiche Stunde vorbei, um vor Dunkelwerden die Herberge zu erreichen, legten ihr Felleisen ab, ruhten sich ein wenig aus und schäkerten mit den Mädchen. Das lachte und sang und neckte sich, daß es dem Knochenmann ganz warm wurde, der abseits unter den Fliederbüschen saß, um das junge Volk nicht zu stören.

Einmal kam aber auch der Dudelsack-Heinrich, der mit seinem Musikbalgen von Dorf zu Dorf zog. Den Dudelsack über die Schulter geworfen und die Stiefel in der Hand, so marschierte er heran. Von weitem hörte man ihn heiser das Lied vom Napolium singen.

›He, Müller!‹ – schrie er herauf, als er beim Hügel ankam – ›Zirbelwind, Wirbelwind! Langt Eure Karoline hervor und laßt einen alten Soldaten zum Avancieren blasen! . . . He, Wirbelzirbel, wo steckt Ihr?‹

So brüllte der Dudelsack-Heinrich noch eine ganze Weile das kurioseste Zeug durcheinander, um zu seinem gewohnten Korn zu kommen, und stieg schließlich die Hügeltreppe hinan, um den Müller zu suchen. Plötzlich aber sah er im Schatten den Hageren sitzen und erschrak heftig. Der Kerl sieht aus wie der leibhaftige Tod, brummte er leise vor sich hin und stolperte eilig wieder auf die Landstraße zurück. Er erzählte den Leuten davon, aber sie sagten, sicher sei er betrunken gewesen, das könne nicht sein. Am nächsten Tag aber kam 75 ein Handelsmann daher, um vom Müller Mehl zu kaufen, wie er immer getan, und wie er die Mühle betrat, stand da mit seinem bleichen, blanken Schädel und seinem schrecklichen Gebein der Tod. Da fiel der Handelsmann vor Schreck die Mühlentreppe mit Donnergepolter hinunter, fast hätte ihn der Schlag getroffen; er raffte sich mühsam auf, selbst seine Geldkatze ließ er liegen, humpelnd, bleich, zitternd kam er im Dorf an, stürzte in den Krug und erzählte den Bauern, die beim Abendtrunk saßen, sein furchtbares Erlebnis. Da kam sie alle das Grauen an, sie merkten, daß der Dudelsack-Heinrich doch recht gesehen, und nun kam niemand mehr zur Mühle, niemand 76 brachte Korn, keiner kaufte Mehl, es war nichts mehr zu mahlen, die Mühle stand still und leer. – Aber auch die Mädchen und die Wanderburschen kamen nun nicht mehr, selbst die Landstreicher gingen in großem Bogen um die Mühle herum, es wurde unendlich still und einsam da.

Der Knöcherne wußte wohl, daß man seine Anwesenheit bemerkt. ›Wie schade‹, sagte er, ›es war schön, als die Buben und die Mädel hier sangen und plapperten, nun ist es aus!‹

Aber endlich war die Wartezeit um! Der letzte Abend kam, die Sonne sank, der Mond stieg hinter den Harzbergen empor, in seinem fahlen Licht schimmerte die Landstraße mit den Pappeln gespenstisch. Es wurde ganz still. Nur ein Käuzchen klagte am Waldrand. Der Tod saß auf der Bank, reglos im Schatten der Büsche, und wartete. Die Uhr des Dorfes schlug zehn. Der Mond hatte die steile Bergwand erreicht, nun trat er dahinter. Einen Augenblick sah man seinen silbernen Schein noch durchs Gezweige flimmern, dann war es rabenfinster im Mühlengarten.

Eine ganze Weile rührte sich nichts; dann hörte man es auf der Straße, die vom Walde herüberführte, tappen und schlurfen. Es war Zirbelwirbel, der Müller, der pünktlich herbeieilte. Er hatte das denkbar schlechteste Gewissen von der Welt und wollte den Tod nicht noch mehr verärgern. – Wenige Minuten vergingen, dann stand er am Eingang seines Gartens und dem Herrn des Schattenreiches gegenüber.

›Da bin ich, Gevatter Tod!‹

›Ja, da bist du, Zirbelwirbel, und die schöne Zeit ist um. Ich wollte, ich könnte immer hierbleiben, aber es geht nicht, denn die Welt käme in Unordnung. Ich hoffe, du hast mich gut vertreten, so daß ich keinen Ärger habe.‹

Der Müller blickte mit tiefbekümmertem Gesicht zu Boden. Er drehte die Pergamentrolle unschlüssig zwischen den Händen und trat von einem Bein auf das andere.

›Müller, ich sehe es dir an, daß du ganz verdattert bist. Ja, ja, es ist ein schweres Amt, das mir die Vorsehung aufgebürdet hat. Dich haben schon diese paar Tage ganz aus dem Häuschen gebracht; bedenke, wie froh ich war, einmal kurze Zeit erlöst zu sein.‹

›Ach, mein Gott, Gevatter, warum ist das nur so eingerichtet in der Welt! Warum können die Menschen nicht lebenbleiben, da sie nun einmal geboren sind?‹

›Sei nicht so dumm, Müller, ich habe es dir doch schon 77 auseinanderposamentiert! Sieh einmal: Kürzlich war ich weit da hinten jenseits der blauen Meere im Indierland. Eine schöne Gegend, aber auch eine schreckliche Gegend! Drei Jahre lang gab es jämmerliche Mißernten, weil die Sonne wie nicht gescheit den großen Ofen heizte und der Regenmacher vergessen hatte, die große Wasserleitung aufzudrehen. Millionen Menschen müßten da verhungern, wenn ich sie nicht vorher sanft hinweggenommen von dieser unvollkommenen Welt. – Ein andermal kam ich durch andere Länder, da gab es ein großes Elend, weil zu viele Menschen geboren worden waren. Niemand wußte, wovon er leben sollte, denn es waren allzu viele Hände zum Arbeiten da, und so konnte nicht jeder arbeiten und sein Brot verdienen. Da aber ein jeder leben wollte, so gab es Zank und Hader, Mord, Totschlag und Revolution in allen Ecken, und ein Volk war auf das andere neidisch, wenn es ein wenig reicher war. Wir müssen Krieg machen, sagten die weisen Räte in all den Ländern, dann gibt es nachher weniger Menschen auf der Welt, und wir können dem Nachbar auch gleich ein paar Provinzen mit schönen Weizenäckern und Viehweiden abjagen. – Krieg muß sein! Krieg! Krieg! schrien sie ringsum und rührten die Trommeln und schärften die Schwerter. – – Da bin ich, ehe sie noch übereinander herfallen konnten, die törichten Menschen, um noch das Letzte, das sie besaßen, zu verwüsten, in aller Heimlichkeit durch ihre Länder gezogen und habe den Menschenwald gelichtet, damit jeder Baum Sonne und Wasser und Boden habe und nicht durch einen Krieg gerade das Beste zerstört werde. – Du siehst, Zirbelwirbel, ohne den Tod geht es nicht in der Welt!‹

›Wenn ich der Herr der Welt wäre, Gevatter Tod, wollte ich es anders machen. Wozu müssen neue Menschen geboren werden? Ich würde die alten leben lassen. Da brauchte man keine neuen und brauchte also auch keinen Tod!‹

›Müller, du bist nicht so dumm, wie du ausschaust, du bist noch viel dümmer! Wenn es keine neuen, jungen Menschen gäbe, dann gäbe es keinen Fortschritt in der Welt, denn die alten Menschen lassen am liebsten alles beim alten und wollen ihre Ruhe haben. Aber die Jungen, die bringen die Welt voran und erfinden tausend neue Dinge. – Nein, nein, Zirbelwirbel, es hat schon alles seinen guten Grund! Und nun mach keine langen Sprüche weiter, sondern gib die Pergamentrolle her, damit ich sehe, wo du angekreuzt, wen du abberufen hast. Gottlob 78 kann ja jeder nur einmal herankommen. Der Tod ist kein Steuererheber, der in jedem Quartal wiederkehrt. Also mach zu!‹

Da druckste und wand sich der gute Zirbelwirbel, trat von einem Bein auf das andere, wurde blaß und wurde rot und fing an, elendiglich zu stottern, daß der Knöcherne kein Wörtlein verstehen konnte und endlich fuchsteufelswild wurde. – Da sank ihm der Müller zu Füßen und bekannte in seiner Herzensnot, daß er nicht einen aus der Totenliste abberufen habe, weil er es nicht habe übers Herz bringen können. Und wer den guten, lustigen Zirbelwirbel gekannt hat, der wird wissen, daß ihm das auch wirklich gar nicht möglich war.

Der Tod aber fuhr mit seinen langen Beinen und Armen im dunklen Garten umher, als hätte ihn ein Dutzend Taranteln und Skorpione gebissen. Er war voll Wut und hätte dem armen Zirbelwirbel um ein Haar das Lebenslichtlein ausgeblasen. Aber er besann sich noch rechtzeitig und sagte mit schaurigem Zähneknirschen, daß er es ihm gedenken werde!

Im Toben des Todes war ein entsetzliches Unwetter aufgezogen, wie es seit Menschengedenken nicht dagewesen. Die Wolken fuhren gleich schwarzen Geschwadern über den Himmel, und feurige Blitzschlangen züngelten unter knatternden Donnerschlägen hernieder. Die Flügel der alten Mühle knackten, als ob sie brechen wollten, und ihre Windsparren flogen krachend dutzendweise in die Büsche.

Der Müller eilte ins Haus und verkroch sich hinter den Getreidesäcken. Da schlief er vor Angst und Erschöpfung ein, während der Tod mit wehendem Mantel durch die Felder stelzte, daß die Halme brachen.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Zirbelwirbel am anderen Tag ganz zerschlagen hinter den Säcken erwachte. Er hatte alle Hände voll zu tun, um seine Mühle und den Garten wieder in Ordnung zu bringen. Lange lief er verstört umher; die Zeit erst ließ ihn sein schauriges Erlebnis vergessen, und es dauerte lange, ehe er wieder ein Lied zu pfeifen wagte und mit dem Korken an der Flasche quiekte. Erst übers Jahr, als die Fliederbüsche wieder blühten, hatte er den Schrecken ganz überwunden.

Und die Jahre vergingen, und die Welt drehte sich, und alles wurde anders in ihr, wie es der Zeiten Lauf mit sich brachte. Der Müller war steinalt geworden und ging mit gebücktem Rücken umher. Er hatte seinen Frohsinn fast ganz verloren, denn es gefiel ihm nicht mehr in der Welt. 79

Wie hatte sich alles verändert! Wo früher die Kornfelder sich gedehnt, wo die kleinen Dörfer gestanden, da waren mächtige Werke und Fabriken hingebaut, in denen Tag und Nacht die Räder sausten. Ein Wald von Essen ragte zum Himmel, aus denen es ohn' Unterlaß qualmte. Nur selten noch rauschten die Flügel der alten Mühle im Winde, denn ringsum gab es keine Bauern mehr, und für die Entfernteren war es viel zu weit bis zum alten Zirbelwirbel. Zudem fuhr die Eisenbahn das Getreide in langen Zügen in die Stadt; da war eine mächtige Dampfmühle, so groß wie eine Kaserne, die in einer Stunde so viel schaffte wie die alte Ricke-Racke auf dem Mühlenhügel in einer ganzen Woche.

So wurde es still auf der Mühle. Der Alte hätte es wohl verschmerzen können, denn er hatte noch einige harte Taler von früher und brauchte wenig, aber es war auch einsam da draußen geworden. Es kamen keine Mädchen mehr und keine Handwerksgesellen mit ihren Felleisen, und keine Lieder klangen mehr durch den Abend. Von fern hörte man das Rauschen der gewaltigen Maschinen in den Fabriken. Alle alten Freunde des Müllers waren dahingegangen, der Wirt vom ›Weißen Gockelhahn‹ und Hinze und Kunze. Auch der Dudelsack-Heinrich lag längst unter dem grünen Rasen und sang nicht mehr das Lied vom Napolium, und selbst der treue Sultan ruhte hinter den Fliederbüschen aus von seiner Jagd nach den wilden Kaninchen.

Nein, es war nichts mehr auf der Welt. Oft saß der alte Zirbelwirbel verlassen und nachdenksam auf der morsch gewordenen Bank und dachte früherer Tage. – Langsam erkannte er, daß alles in der wundervollen weiten Gotteswelt seine Zeit hat und daß alles nur während dieser weise eingeteilten Zeit schön und fröhlich ist. Man muß sich davonmachen, sagte sich der alte Müller, wenn die Zeit erfüllt ist, sonst bleibt man in der ganz anders gewordenen Welt zurück wie ein alter hohler Zahn, der keinen Zweck mehr hat. Jetzt erst weiß ich, wie recht der Gevatter Tod damals hatte, als er hier durch dieses Gartentor trat und mich abrief. Er meinte es gut mit mir, doch ich erkannte es nicht.

Und es kam, wie es der Dunkle dem Müller prophezeit. Er sehnte sich nach ihm, und schließlich rief er ihn. ›Komm, Gevatter‹, sagte er zuweilen leise, ›laß deinen Groll fahren und blättere wieder in der alten Liste, auf der ich vergessen wurde.‹ 80

Und eines Tages, als im Mai die Fliederbüsche wieder grünten und die ersten Knospen kamen, schlurfte es leise im Sand des Gartensteges. Ein dunkler Schatten fiel auf den sonnigen Streifen.

Da stand der Tod in seinem langen schwarzen Mantel, den Schlapphut tief in die Stirn gedrückt, den knorrigen Wanderstab in der Hand.

Der Müller blickte auf und erkannte seinen Gast. Aber er erschrak nicht mehr. ›Willkommen, Gevatter‹, sagte er freundlich, ›ruht noch einmal aus im alten Mühlengarten!‹

Da setzte der Tod sich müde auf die alte Bank neben den Müller und drückte ihm die runzlige Hand.

›Ich komme weit her, mein Freund, und bin müde wie du. Noch immer hebe ich die Menschen hinweg, wenn ihre Uhr abgelaufen und ihre glückliche Zeit verronnen ist. Wie sollten die jungen Bäume wachsen, ihre Zweige in Luft und Sonne recken, wenn die alten ewig stehen wollten! Ich habe mit dir gehadert, aber nun riefst du mich, und es zog mich zu deiner alten Mühle, wo ich einst frohe Tage verlebt. Der Mittag kommt, laß uns ein wenig rasten, ehe wir auf die große Reise gehen.‹

Da zog ein Wolkenschatten über sie hinweg. Noch einmal sah der Müller die vier Flügel in der Sonne glänzen und hörte den Fink in den Büschen schlagen, dann schlief er ein, um nicht mehr zu erwachen.« 81



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