Bruno Hans Bürgel
Die seltsamen Geschichten des Doktor Ulebuhle
Bruno Hans Bürgel

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Der Vater der Wälder

Hände weg, ihr Unnütze!« sagte die alte Christine, Doktor Ulebuhles verhutzelte treue Hausgefährtin. »Rührt ja das Kruzifix nicht an, denn es ist hochheilig und stammt vom Kreuz Christi! Derlei betappst man nicht mit seinen Bubenpfoten!«

Vorsichtig ging der Staubwedel über das bräunliche hölzerne Kreuz, das da an der Wand hing und nach gar nichts Besonderem aussah. Aber in der Wohnung des alten Doktors war ja alles sonderbar, und wir Kinder traten unwillkürlich einen Schritt zurück, als die Christine ihre dürren Arme emporhob und uns von dem Kruzifix zurückscheuchte. Nun aber betrachteten wir es mit einem leisen Grauen und Erschauern. War's möglich?! Vom Kreuz von Golgatha sollte es stammen! – Über neunzehnhundert Jahre sollte es alt sein? – –

Wir standen noch immer in Gedanken versunken. Die Geschichten der Bibel, die wir in den Religionsstunden gehört hatten, der Leidensweg, die Kreuzigung Jesu Christi, gingen uns durch den Kopf. Andächtig starrten wir auf zu dem plumpen kleinen Holzkreuz, das aus einem Balken jenes großen Kreuzes geschnitten sein sollte, von dem herab einst, vor bald zwei Jahrtausenden, die Stimme des Gekreuzigten gerufen hatte: »Eli, Eli, lama asabthani?« –

Da öffnete sich die Tür, und der alte Ulebuhle schlurfte herein, wie immer fest in seinen altmodischen grauen Rock eingeknöpft, die bunten Filzschuhe an den Füßen, die lange Pfeife in der Hand.

Als er unser ansichtig wurde, blieb er stehen. »So so! Da seid ihr also wieder«, knurrte er. »Heut gibt es keine Geschichte! Habe mehr zu tun! Ja, mehr zu tun! Basta!«

»Sie betrachten nur das Kreuz Christi! Und im übrigen habt Ihr noch nicht guten Morgen gesagt!«

»Ach was, Kreuz Christi! Hat nichts zu tun mit dem Kreuz Christi!«

»I du liebe Güte, Ihr habt es doch einmal so gesagt!« 116

»Was Sie nicht für Torheiten daherredet! Sie wirft in Ihrem alten Kopf alles durcheinander und macht ein gemischtes Gemüse daraus! Erinnere Sie sich, daß Sie neulich Ihre Brille statt des Briefes in den Postkasten geworfen hat!«

»Und es bleibt dabei, und keine Maus beißt einen Faden von ab: Ihr habt einmal so gesagt, daß das Holz dabei war, als der Herr gekreuzigt wurde. Oder habt Ihr so schrecklich gelogen und geflunkert?«

»Rrrruhe jetzt! So will ich die Geschichte noch einmal erzählen! Setzt Euch nieder, Jungfer Christine, und ihr, Kinder. Das wäre mir recht, noch in den Ruf eines Lügenboldes zu kommen!«

Da nahmen wir alle Platz. Der alte Knurrhahn holte das Kruzifix von der Wand herab und legte es vor sich auf den Tisch. Er paffte drei, vier dicke Wolken aus seiner Pfeife hervor und begann:

»Vor langen Jahren, als ich noch ein frischer Kerl war, durch die weite Welt zog und mich noch nicht mit der Jungfer Christine herumärgern mußte, stiefelte ich da drüben im Lande Amerika umher. Da wo die Welt am wildesten und großartigsten ist, im Felsengebirge, im Gebiet des Colorado-Canon, in dem Berggewirr der Sierra Nevada in Kalifornien streifte ich umher, wo die Wunder der Natur noch fast unberührt waren von der zerstörenden Hand des Menschen, und Dinge zu finden sind, die man in dem alten, abgegriffenen und abgeschliffenen Europa nirgends finden kann.

Aber freilich, die Menschen fingen damals auch schon da drüben an, von der Gier nach dem Geld getrieben, die schönsten und unersetzlichsten Weltwunder anzutasten. Heut ist es verboten und wird bestraft, und das ist gut so!

Eines schönen Tages, als mir die Sonne heiß auf den Pelz brannte, trat ich in Portersville, einer kleinen Ansiedlung an den westlichen Abhängen der Sierra Nevada, des großen kalifornischen Gebirgsstockes, in eine bescheidene Trinkhalle ein, um mir ein Glas Eiswasser mit Whisky hinter die Weste zu gießen. Wer saß da und streckte seine langen Stakelbeine mit den riesigen Schaftstiefeln weit von sich? Mein alter Freund Bill Robertson, mit dem ich schon so manchen Tanz gemeinsam vollführt. Er schlug mir mit seiner enormen Pranke auf die Schulter und sagte statt jeder anderen Begrüßung:

›Kalkuliere, daß du ein paar Pfeifen Tabak für mich in der Tasche 117 hast und morgen mit heraufkommst, den Vater der Wälder auf den Rücken zu legen!'

Tabak hatte ich wirklich genügend bei mir. Robertson bekam davon eine Handvoll und stopfte sich sofort seine Stummelpfeife, den Priem, den er nur in Tagen der Not zu kauen pflegte, vier Meter weit durch das Fenster auf die sonnige Gasse speiend.

Aber was er mit dem 'Vater der Wälder' meinte, davon hatte ich keine Ahnung. Ich erfuhr, daß es der größte und älteste Baum der Welt sei, einer der berühmten Mammutbäume, die ihre Wipfel höher in die Luft hineinrecken als die Kirchen ihre Turmspitzen, und Jahrtausende alt werden. Ich hatte schon zweimal einen solchen Wunderbaum in den Felsentälern der Sierra gesehen, aber man sagte mir, daß es da und dort noch viel ältere, dickere und höhere dieser Waldriesen gäbe.

›Keine Hand rühre ich, um so einen alten Burschen umlegen zu helfen, Robertson! Bin nicht über das Wasser herübergekommen, um im gesegneten Lande Amerika alles genau so zu zerstören, wie sie es 118 drüben im alten Europa machten, wo sie Elche und Riesentannen ausgerottet haben in ihrer Unvernunft. Laßt die paar alten Bäume, die die Sonne schon Jahrtausende bescheint, stehen. Sie sollten uns heilig sein!‹

›Alles richtig‹, meinte Robertson. ›Würde auch nicht mittun, wenn der mächtige Bursche nicht bereits im Absterben wäre und vom nächsten Wirbelsturm sowieso umgerissen würde. Wer weiß, wo dann der wertvolle Stamm umknickt! Es ist schon besser, wir fällen ihn, wenn er doch nun sterben muß. Die Holzhändler waren vor einer Woche oben. Sie schätzen seinen Wert auf sechzigtausend Mark. Es stecken über fünftausend Kubikmeter Holz in der ungeheuren Säule des Mammutbaumes! Wir werden vier volle Tage zu tun haben, um ihn durchzusägen. Ja, es ist ein Jammer, daß der alte Vater nun seine letzte Stunde kommen sieht. Sie sagen, daß er sechs Jahrtausende über sich hinwegrauschen ließHier übertrieb Robertson! Älter als 4000 Jahre werden die Mammutbäume (Sequoia oder Wellingtonia gigantea) nicht. Sicher erwiesen ist ein Alter von 2500 Jahren bei mehreren Bäumen.. Du lieber Gott, was sind wir für kümmerliche Würmlein dagegen! Ich sage dir, Ulebuhle, komm mit herauf und sieh dir den alten Burschen wenigstens an. Derlei gibt es in der Welt nur einmal!‹

Ja, ein solches Wunder der Natur gibt es kaum noch auf der alten Erde, und so schloß ich mich wirklich den Holzfällern an, die unter Robertsons Führung emporstiegen durch das Felsental zu den Bergwäldern. Dort steht in 2000 Meter Höhe hie und da eine Sequoia gigantea, wie die Botaniker diese Riesenbäume aus der Familie der Nadelhölzer genannt haben. Dem Lauf des Tule-Rivers folgend, arbeiteten wir uns empor. Die Sonne brannte trotz der frühen Stunde auf unsern Pelz. Endlich aber traten wir in das grüne Dunkel des Waldes ein. Es war eine mühsame Wanderung. Am Abend schlugen wir Zelte auf, um zu übernachten, denn wir hatten noch zwei Schluchten zu passieren, um die Lichtung zu erreichen, wo der Vater der Wälder stand. Unterwegs schon hatten wir drei oder vier jener Riesen gesehen, neben denen unsre mächtigsten Eichen wie Blumentöpfe wirken. Robertson sagte, daß selbst diese lebenden Türme klein erschienen, wenn man erst den ›Waldvater‹ gesehen. –

Am Mittag des nächsten Tages erreichten wir endlich den Rand der Lichtung. Vor uns reckte sich ein Baumungetüm in den Himmel, das uns allen wie aus einer anderen Welt erschien. Unwillkürlich blieben wir stehen. Keiner ließ einen Ausruf der Bewunderung hören, denn jedes Wort wäre wie eine Torheit erschienen. Wir lagerten uns im hohen Gras und Moos und schauten schweigend hinüber zu dem Vater der Wälder, der seinen mit Flechten grau überzogenen Stamm wie das vom Zahn der Zeit zernagte Gemäuer einer Kathedrale hinaufwuchtete ins Wolkenreich.

Mein Gott, dachte ich, zu wissen, daß das vor vier Jahrtausenden ein dünnes grünes Zweiglein war, das der Wind gleich einer Rute bog! Als Moses auf den Berg Sinai stieg, war dieser Baum schon ein halbes Jahrtausend alt! Als Christus mit seinen Jüngern am See Genezareth wandelte, stand dieser Baumriese bereits volle zwei Jahrtausende, war schon eines der ältesten Lebewesen der Welt! Als Kolumbus 120 Amerika entdeckte, war dieser Baum ein Greis, nicht viel weniger hoch und mächtig als heute!

Es erschreckte uns ordentlich, daß wir winzigen Ameisen diesen lebenden Turm fällen sollten, uns an einem Wesen vergreifen sollten, das viertausend Jahre menschlicher Geschichte überdauert. Aber wirklich erkannten wir, daß der Riesenbaum im Absterben war. Seine Äste blieben kahl; einige hoch droben hatte der Sturm geknickt, sie hingen, dick und schwer wie hundertjährige Eichenstämme, bedrohlich hernieder. –

Endlich rafften wir uns auf und traten näher herzu. Robertson und ich maßen aus der Länge des Schattens, den die Sonne von dem Ungetüm auf den einigermaßen ebenen Waldboden warf, seine Höhe. Sie betrug über hundertdreißig Meter.

Ja, da staunt ihr, die ihr in dem alten Europa nur Bäume von bescheidenem Wuchs kennt. Als ein Weltwunder gilt hier schon die Pechtanne, die wohl in unberührten Wäldern fünfzig Meter hoch werden kann und ein Alter von fünfhundert Jahren erreichen soll! Was ist das gegen den Vater der Wälder! Vier Jahrtausende war er wenigstens alt, manche sagten gar, es seien sechs, aber sie übertrieben, und als wir die Jahresringe zählten, zeigte es sich, daß er wirklich nicht mehr als vierzig Jahrhunderte hinter sich hatte. Er war noch zwanzig Meter höher als die berühmte Kathedrale im schönen Freiburg, deren Spitze weit über die Rheinebene hinwegschaut, hinüber zu den Vogesen. Zwölf Meter dick war der Stamm! Fünf Ackerwagen hätten nebeneinander durch ihn hindurchfahren, hundert Paare hätten darauf tanzen können, und es wäre immer noch Platz gewesen für den Flöten-Heinrich und den Fiedel-Meyer mitsamt dem Brummbaß. So dick war der Stamm! Er hätte eine Tischplatte abgegeben, um die herum sechzig schwere Kornbauern beim Kirchweih-Bier sitzen konnten. Ja, das war wohl ein Riese, wie ihn die Welt kaum gesehenEin vor etwa vierzig Jahren gefallener Mammutbaum war 144 Meter hoch. Der Umfang des Stammes betrug 35 Meter.!

Aber nun mußte er fallen! Ei, das war keine Kleinigkeit! Drei Tage lang fielen sie mit ihren mächtigen Äxten über ihn her. Meterlange Späne hieben sie heraus, ganze Höhlen schlugen sie hinein, unter denen man bei Regenschauern geborgen sitzen konnte. Und dann kamen die langen Sägen mit ihren scharfen Zähnen und fraßen sich 121 immer tiefer und tiefer in den Stumpf hinein. Aber zuletzt gingen sie gar vorsichtig zu Werke, damit die gewaltige Säule nach der Richtung hin stürzte, wo sie nicht alles ringsum zermalmte. –

Da knackte es plötzlich im Gefüge des Stammes.

›Zurück!‹ rief Robertson.

Wir eilten alle weit fort. Der Führer allein blieb am zersplitterten Fuß des Riesen stehen. Holzkolben hatten wir in die herausgehauenen Höhlungen eingebaut. Die stützten den Koloß und bewahrten ihn vor dem plötzlichen Fall. Nun häufte Robertson Splitter und Späne ringsum und zündete an.

Eilend lief er zu uns herüber.

Die Flammen loderten empor, sie fraßen sich weiter, sie ergriffen die stützenden Stempel, sie brannten und glühten, glimmten und kohlten, sie senkten sich unter der Riesenlast der hundertdreißig Meter hohen Säule, und jetzt knickten sie funkenstiebend zusammen. – –

Wir standen pochenden Herzens und blickten empor zu dem Vater der Wälder. Plötzlich war es uns, als ob er seinen greisen Wipfel schüttelte, als ob der mächtige Stamm sich leise neigte, und dann hörten wir ein Knistern, ein Brechen, ein Knirschen und Knacken . . . der graue Turm der Baum-Kathedrale beugte sich nach der Seite, wo die dicken Holzstempel, die ihn so lange gestützt, glimmend zusammensanken. Unwillkürlich flohen wir noch weiter nach rückwärts . . . ein schauerliches Krachen . . . der Riese fiel . . . fiel hundertdreißig Meter lang über starke Bäume hinweg, alles niedermähend in weitem Umkreise.

Ein ohrenberstendes Splittern, Stampfen, Niederschmettern, und – dann ein dröhnender Fall, der den Boden erzittern machte.

Plötzlich Ruhe . . .

Der Baum, der vier Jahrtausende hier gestanden, lag am Boden! –

Weiß der Teufel, es war uns allen seltsam zumute. Wir kamen uns wie schwere Übeltäter vor, und immer wieder sagte einer zum andern, daß der Riese ja doch schon todkrank gewesen sei, daß wir eigentlich nur mit unserer Arbeit dem nächsten Wirbelsturm zuvorgekommen wären. Aber es war uns dennoch nicht wohl dabei, denn wir hatten ein Naturwunder vernichtet, das schon zur Zeit Mosis grau vor Alter war, 122

Langsam traten wir näher und umstanden den gewaltigen Stumpf. Schweigend, wie bei der Leiche eines Großen, hingen wir unsern Gedanken nach. Selbst Robertson vergaß, seine Pfeife anzuzünden, und das war, solange ich ihn kannte, noch nicht vorgekommen.

Erst am nächsten Tage machten wir den Stumpf glatt und sauber. Sechsunddreißig Meter maß er im Umfang. Es sollte eine mächtige Platte daraus geschnitten werden für das Museum in Washington. Später erwies es sich, daß kein Eisenbahnzug sie fortbringen konnte. Man mußte sie erst in mehrere Stücke zerlegen.

Robertson und ich krochen auf der Stumpfplatte herum und zählten die Jahresringe. Sie zeigten, daß wirklich gegen viertausend Sommer und Winter über den Vater der Wälder hinweggerauscht. An manchen Stellen waren die Ringe verkohlt. Das rührte von Waldbränden her, die vor Jahrhunderten und Jahrtausenden die Rinde außen angesengt hatten. Ich lag lang auf dem Bauche, mitten auf der Riesenplatte, und ließ zählend den Zeigefinger über die Jahresringe hinweggleiten. Jetzt kam der achtzehnhundertste! Weiter! Achtzehnhundertzwanzig, fünfzig, sechzig, siebenzig . . . und hier . . . Achtzehnhundertfünfundsiebenzig!

Ich tippte Robertson leise auf den Arm. ›Hier!‹ sagte ich. ›Der achtzehnhundertfünfundsiebenzigste Ring vom Rande! Deutlich sieht man ihn! Wir schreiben das Jahr 1875. Als dieser Ring entstand, wurde Christus geboren! Hier . . . dreißig Ringe zurück! Als dieser Ring sich bildete, wurde er ans Kreuz geschlagen! Mensch! Robertson! Wir betasten mit unsern Fingern Holz, das entstand, als sich fern im Morgenlande das große Geschehen abspielte!‹ – – –

Vorsichtig lösten wir ein Stück der Platte an dieser Stelle ab. Ich nahm sie mit und ließ ein Kruzifix daraus schnitzen. – Hier liegt es vor euch, Kinder, und da seht ihr den Jahresring, der das Jahr der Kreuzigung bezeichnet! – Habt Ihr es nun begriffen, Jungfer Christine?«

Die trat näher. Ihr altes, runzliges Gesicht beugte sich über das Kreuz, und leise strichen die welken Hände voll Andacht darüber hin. –

Doktor Ulebuhle legte den Finger an den Mund. Er winkte uns. Still verließen wir mit ihm den Raum. 123



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