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Heute, ihr Kinder, kommt die Geschichte von dem Glassarg an die Reihe!«
»Ulebuhle, die kennen wir schon, das ist die Geschichte von Schneewittchen, die von den Zwergen in einen gläsernen Sarg gelegt wurde!«
»Und ich sage euch, ihr kennt sie nicht, denn in meinem Glassarg liegt gar kein Schneewittchen oder sonst eine niedliche Jungfer. Ihr könnt euch nachher ansehen, was in meinem gläsernen Sarge zur Ruhe bestattet ist, denn der Sarg liegt da in dem großen Schrank. Aber erst sollt ihr die Geschichte hören, denn man muß nicht vorher die Rosinen aus dem Kuchen herauspicken!«
Da setzten sich die Kinder und waren gespannt, was der Alte heut wieder ersonnen hatte.
»Ach, es ist lange her, als meine Geschichte begann. Viele Jahrtausende! Ein schöner Sommertag war es, und die Sonne schien warm vom blauen Himmel nieder. In der Ferne rauschte das Meer, und nahebei rauschten die Wipfel der Bäume, denn da stand ein großer Wald.
Eine niedliche kleine Fliege mit zarten Flügeln schwirrte vergnügt in der Sonne daher, zwischen Gräsern und Blumen, und endlich spannte sie die Flügel und schwebte mit leisem Summen hinüber in den Wald. Da standen große Nadelbäume und reckten sich hoch in den Himmel, und es duftete ganz wundervoll harzig, denn die Sonne schien heiß hernieder.
Unsere kleine Fliege setzte sich an einen der mächtigen Stämme, um auszuruhen. Sie putzte mit ihren Beinbürsten die Flügel und den runden Kopf mit den roten Augen, denn alles war verstaubt, wie es bei einem rechtschaffenen Wandersmann eben so ist.
Seht, da kroch langsam mit dünnen Beinen ein vermaledeiter Spinnerich daher und dachte in seinem Sinn, daß die kleine Fliege justament ein artiger Braten zu Mittag wäre. Er setzte vorsichtig ein Bein vor das andere, was keine Kleinigkeit ist, wenn man acht Beine hat, und krabbelte langsam am Baumstamm näher an das kleine Flugtier heran. 201
Der Spinnerich überlegte sich die ganze Geschichte sehr sorgfältig. Du lieber Himmel, dachte er, viel ist nicht dran an der kleinen Mademoiselle! Da gehen die grünen Flügel ab und die langen Fühlerhörnchen, und es bleibt nicht viel, aber man muß Gott auch für das Wenige dankbar sein. Wenn ich nicht ganz vorsichtig bin, erspäht sie mich mit ihren runden Kugelaugen und schwirrt ab, dann ist der Braten dahin, und ich muß vielleicht hungrig schlafen gehen.
Die kleine Fliege war eitel wie alle Frauenzimmer. Sie bürstete unablässig ihre grünseidenen Schleierflügel und zupfte vorn und hinten, beleckte und beschleckte sich wie ein Kätzchen und sah den bösen Feind nicht, der mit List und Tücke näherzog.
Schon war er dicht heran – da geschah etwas ganz Greuliches!
Die Mittagshitze lag drückend über dem Walde, und die alten Bäume schwitzten in dicken Tropfen das Harz aus. Auf einmal fiel von droben ein dicker Harztropfen, goldgelb in der Sonne funkelnd, nieder, klatschte gegen den Stamm und begrub unter sich Fliege und Spinne.
Da war es nun aus mit dem Putzen und mit dem Schmausen, Freund und Feind waren eingeschlossen in der zähen gelben Träne des Baumes, zappelten noch ein wenig hin und her, und dann waren sie tot.
Aber neues Harz tropfte von oben hernieder und auf das alte darauf, und schließlich war es ein ganz dicker Batzen geworden, in dessen Innerem die beiden Tiere lagen wie in einem durchsichtigen Sarge.
Aber die Weltgeschichte geht ihren Gang ruhig weiter, und alles kommt, wie es kommen muß. Jahrhunderte gingen hin und Jahrtausende. Viele neue Sommer waren gekommen und viele Millionen neue Fliegen mit grünen Flügeln und Spinneriche mit acht Beinen, und niemand dachte mehr an die beiden, die vor langer Zeit da in dem Harztropfen begraben wurden, der unansehnlich und dick an dem Stamm des alten Baumes hing, der längst vermodert im Waldboden ruhte.
Da geschah wieder einmal etwas Neues! Langsam hatte sich das Land gesenkt, und die Wassermassen des Meeres da oben, wo heut die Ostsee rauscht, kamen immer dichter an den alten Wald heran. Eines Tages hatten sie ihn erreicht, und nun spülten die Wellen zwischen den Stämmen, entwurzelten sie, und der Wald mußte sterben. Ein Baum nach dem anderen sank in das nasse Wellengrab, in den Kronen des sterbenden Waldes rauschte der Seewind wilde Gesänge, und die alten 202 Stämme ächzten und stöhnten, wenn sie niederstürzten in das Meer, das ihre Heimat überspülte.
So kam es, daß da, wo früher der Wald rauschte, nun die Ostsee rauscht. Auch der alte vermoderte Baumstamm mit der dicken Harzperle versank in den Fluten, das Meer wälzte Sand darüber, und langsam verweste der Stamm vollkommen. Nur die Harzperle blieb übrig und war im Sande der See begraben.
Und wieder gingen tausend Jahre hin. Da schnob ein mächtiger Sturm über die See, und die Wellen warfen Sand und Schlamm in wilder Wut an den Strand. Seht, da ging ein armer Fischer mit seinem Jungen am Ufer hin und her, der suchte das Harz, das hier vor Jahrtausenden die alten Bäume in dicken Tropfen in der Mittagshitze geweint hatten. Bernstein nannten die Menschen dieses Harz, und sie machten allerlei Perlenketten und Ohrhängerchen aus den gelben Tropfen, die das Alter zu Stein verhärtet hatte.
Der kleine Junge stieß mit seinen nackten Füßen gegen ein dickes Ding im Sande, hob es auf.
›Sieh, Vater!‹ rief er fröhlich, ›da habe ich ein großes Stück gefunden, das bringt wohl einen halben Taler.‹
Der Vater nahm das Bernsteinstück und reinigte es vom Sande, dann hielt er es gegen das Licht.
›Potztausend, Junge!‹ rief er vergnügt. ›Das nenne ich ein Glück am frühen Morgen! Zwei Tierchen sind drin eingeschlossen in dem gläsernen Sarg, eine Fliege und eine Spinne. Das Stück kaufen die gelehrten Herren drinnen in Greifswald wohl um ein Goldstück, denn zwei Tiere in einem Bernsteintropfen, das ist eine Seltenheit.‹
Ja, die gelehrten Herren in Greifswald kauften den gläsernen Sarg, und endlich kam er an den alten Ulebuhle, und nun wollen wir ihn gemeinsam betrachten. Seht, da liegen die beiden Tierchen noch so, wie sie der Tod vor Millionen Jahren überraschte. Die Jungfer Fliege, die da im hellen Sonnenschein auf dem Stamm saß und ihr Röcklein putzte, der arge Spinnerich, der auf der Jagd nach dem Mittagsbraten war. 203 Man sieht noch jedes Härchen an ihnen und sieht noch, wie sie im Sterben die Beine streckten. Man sieht, wie sie vergeblich in dem zähen Harzbrei umherruderten, denn rings um die Beine sind lauter trübe kleine Ringel und Kringel. Ja, da kann man die ganze Geschichte, die sich vor zwanzig Millionen Jahren zugetragen hat, in allen Einzelheiten anschauen, als ob man damals dabeigewesen, und sieht, daß es damals schon niedliche Fliegen und böse Spinneriche gab. Ja, die Welt ist uralt. Ein Bernsteinperlchen, das eine kleine Jungfer am Hals trägt, kann uns Geschichten erzählen, die geschahen, als es noch keine Menschen auf Erden gab!« 204