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VII.
Ein unerwartetes Zusammentreffen.

»Fortuna aber, wie manch andere
 Des weiblichen Geschlechts, ergötzt sich gern
 Mit Peinigen und Foltern.« Aus Strophe CLV des Versepos » Fanny« (1819) des amerikanischen Dichters Fitz-Greene Halleck (1790-1867), in dem er die Literatur, Mode und Politik seiner Zeit satirisch kommentiert.


Eine Woche vergeht annehmlich auf der Farm, bis auf die unerquickliche Beziehung zwischen Mrs. Erwin und ihrer Nichte, einem jungen Mädchen, das ihre unangenehme Seite einzig für ihre Tante reserviert zu haben scheint, deren Haltung ihr gegenüber eine kuriose Mischung aus Furcht und tadelnder Bevormundung darstellt.

Barbara Waite bringen diese Tage ungetrübtes Vergnügen, denn Jeans einbeziehende Sorge um sie bleibt unermüdlich.

Sam bringt die Pferde und macht eine zweite Fahrt wegen fünf Hängematten und dem Leinenüberzug für den Wohnzimmerteppich.

»Sie hätte ebensogut für jeden von uns ein Pferd bringen lassen können,« murrt Polly Hunter in das mitfühlende Ohr von Mrs. Erwin, als sie allein in den Hängematten unter den Rosskastanien schaukeln. »Ich glaube, sie hat die ganzen Hängematten nur bestellt, damit immer eine davon Barbara zur Verfügung steht.«

»Sie scheint sich dem Mädchen gegenüber mehr wie eine Mutter zu fühlen als sonst 'was,« sagt die Witwe zustimmend; »eine seltsame Marotte.«

»Besonders weil Barbara in Wirklichkeit älter ist als Jean, trotz ihrem ganz weißen kleinen Gesicht und ihrer unselbständigen Art,« fügt Polly hinzu.

»Ich kann es nicht leiden, wenn eine Frau versucht, jünger zu erscheinen, als sie eigentlich ist,« beteuert Mrs. Erwin.

»O gäb' eine Macht uns doch die Gabe,
Uns so zu seh'n, wie's and're tun!« Aus dem Gedicht » Tae a Louse« von Robert Burns; dort lauten die schottischen Zeilen: » Oh, wad some power the giftie gie us / To see oursel's as ithers see us!«, was auf Englisch lauten würde: » Oh, would some power the gift give us / To see ourselves as others see us!« – Burnham hat das » ithers« der zweiten Zeile zu » others« geändert.

singt Ruth, die gerade das Haus verlässt und zu den Hängematten kommt; und Polly kann ein Lächeln nicht unterdrücken, obwohl sie mit Lächeln seit der Ankunft auf dem Land sehr sparsam geworden ist und kaum einmal auf die beleidigte Miene verzichtet hat, die sich auf ihrem Gesicht bei der Pineland-Kutschfahrt festsetzte, so dass ihre Freundinnen jeden Tag erwarten, von ihren Lippen die Entscheidung zu hören, dass sie der unzuträglichen Gemarkung der Roten Farm den Rücken kehre; bis jetzt allerdings hat sie eine solche Absicht noch nicht bekundet, weil in Wirklichkeit die Atmosphäre, in der Jean lebt, sich bewegt und ihr Wesen treibt, ungemein anziehend für Miss Gunther ist; und das Einzige, was sich ändern müsste, um die Wildnis der abgelegenen Farm blühend wie eine Rose zu machen, wäre, dass die Erbin ihre zarten Aufmerksamkeiten und liebevolle Fürsorge von der unscheinbaren künftigen Schulmeisterin auf die ebenso bedürftige und weit bezauberndere Polly Gunther übertragen würde.

»Ich habe nie eine unermüdlichere Kraftsammlerin erlebt als dich, Polly,« bemerkt Ruth; »du hast nicht die geringste Menge Kraft aufgewendet, seit du hier angekommen bist.«

»Wenn ich eine angenehme Anwendung meiner Kraft hätte, wäre ich überglücklich,« erwidert Polly.

»Ach, da gibt es viele Möglichkeiten. Ich habe zwei Croquet-Ausrüstungen bestellt, die heute nachmittag eintreffen werden, und das wird uns eine weitere Unterhaltungsmöglichkeit bieten.«

»Ich frage mich, warum du nicht stattdessen dein Reitpferd angefordert hast. Reiten ist das Einzige, was hier erfreulich wäre.«

»Ich hab' kein Pferd, meine Liebe. Ich war zu selten daheim, um mich darum zu kümmern, und mein Vater wollte mir nicht erlauben, ein fremdes Pferd zu benutzen, wie Jean es tut, und genauso wenig wollte er …« schließt Ruth mit einer Geste.

»Ach, ich nahm an, diese schönen Tiere von Miss Ivo'y wären ihre eigenen, so wie sie sie behandelt,« sagt Mrs. Erwin.

»Nein, keineswegs,« antwortet Ruth, »sondern Jean muss nur sagen: ›Vater, bitte besorg mir das und das‹, und Mr. Ivory knallt sich den Hut auf den Kopf, schmeißt sich den Mantel über den Arm und rast 'runter in die Stadt, um ›das und das‹ zu kaufen, ohne eine Frage zu stellen.«

»So einen Vater müsste man haben!« stöhnt Miss Gunther.

»So eine Tochter, hättest du besser gesagt,« bemerkt Ruth; »es liegt alles an Mr. Ivorys Vertrauen auf den bewundernswerten Charakter und den gesunden Menschenverstand seiner Tochter, dass es sich so verhält.«

Doch während sie spricht, muss Ruth lächeln, weil sie an die jüngste Gelegenheit denkt, bei der Jeans gesunder Menschenverstand keineswegs zur Stelle war; denn so sehr sie sich auch bemüht, Ruth kann jene fehlgeleitete Wohltätigkeit nicht im Licht einer Tragödie betrachten.

»Ruth,« sagt Polly, »du bekommst Sommersprossen auf der ganzen Nase und dem oberen Teil deiner Wangen.«

»Ich weiß,« erwidert Ruth, zieht einen kleinen Spiegel aus der Tasche und untersucht mit gerunzelter Stirn ihr Gesicht; »du kannst dir vorstellen, wie dankbar ich bin, wenn ich an die Kursiv-Lettern am Ende von Miss Bounces Anzeige denke: › Keine Gentlemen.‹«

»Sie haben's gut, wenn Sie sich daran dankbar erinnern können,« sagt die Witwe schwermütig, »aber wenn Sie einen seh' lieben Freund hätten, den Sie gerne sehen würden, wären Sie vielleicht nicht so dankbar.«

»Es ist auch zu schlimm!« pflichtet Polly bei, die offenbar in alle Einzelheiten bezüglich Mrs. Erwins ›lieben Freundes‹ eingeweiht ist.

»Ich konnte meinen ›Shaker‹ gar nicht früh genug bekommen,« denkt Ruth laut, während sie noch den reinen, weißen Teint betrachtet, der mit ihrem Haar einher geht. »Übrigens, du weißt ja, dass ich heute morgen nur mit Miss Bounce zum Dorf gegangen bin. So habe ich den Ladeninhaber nicht mit etlichen schönen jungen Frauen überfallen, sondern wegen mehrerer ›Shaker‹, die ich gekauft habe. Sie liegen zu einer Pyramide im oberen Flur aufgeschichtet, so dass jede, die für ihre Gesichtshaut fürchtet, sich bedienen kann.«

»Danke, Sie sind sehr aufmerksam,« entgegnet Mrs. Erwin, »aber ich fürchte, es wäre unter meiner Würde, so ein Ding zu tragen.«

»Oh, ganz bestimmt nicht,« sagt Ruth unschuldig; »Frauen, die viel älter sind als Sie, tragen sie auf dem Land.«

»Ich meine natürlich mit Rücksicht auf meine Trauerkleidung,« erwidert Mrs. Erwin ernstlich beleidigt, während Polly die Ecken der Hängematte über ihr Gesicht zieht und zu schaukeln beginnt.

Zu Ruths Erleichterung ergibt sich in diesem kritischen Moment eine Ablenkung durch die Ankunft ihrer Freundinnen.

»Diese Bäume mit den Hängematten, das sieht sehr hübsch aus,« sagt Jean, »aber ich wollte nachsehen, ob ich Sie von hier fort locken kann, Mrs. Erwin. Hätten Sie Lust, statt mir mit Barbara diesen Nachmittag auszureiten?«

»Ich danke Ihnen, Miss Ivo'y, das ist mehr als freundlich von Ihnen; ich wünschte, ich könnte Ihr Angebot annehmen, aber ich reite nicht.«

»Sie ist schüchtern, wissen Sie,« erklärt Nettie, »und das macht das Pferd scheu, und …«

»Für Witze wird es eine andere Veranstaltung geben, wenn Sie gestatten, Miss Dart,« unterbricht Jean kaltblütig; »die Zeit fliegt dahin, und es ist heute kühl genug, um früher als gewöhnlich auszureiten; möchtest du, Polly? Mabel war gestern d'ran.«

»O ja, falls Mabel, Nettie, Ruth und Mrs. Erwin keinen Wert darauf legen und du sicher bist, dass ich niemandem etwas weg nehme, würde ich sehr gerne reiten.«

»Jean,« sagt Barbara leise, »lässt du bitte heute eine andere an meiner Stelle reiten; ich komme mir vor wie eine Monopolistin und sollte lieber in der Hängematte liegen und mich ausruhen.«

»Ausruhen?« fragt Jean rasch, »bist du heute müde, Barbara?«

»O nein, nicht müde,« antwortet das Mädchen und hebt ihr zartes Gesicht zu Jean mit noch flehenderem Ausdruck; »ich bin nur faul und möchte mich 'mal richtig hinlegen und Zeit verschwenden.«

»Nein, ich glaube, du musst deinen Ritt machen,« sagt Jean nach einigem Nachdenken. »Lass sie sich nicht zu weit entfernen, Polly; und wenn du sie zurück gebracht hast, will vielleicht Nettie ihre Stelle einnehmen, und du kannst die Entfernung ausdehnen.«

»Nein, auf keinen Fall; ich will keine Gefälligkeiten von Ihnen!« ruft Nettie heißblütig.

»Ausgezeichnet,« stimmt Jean schlicht zu, mit einem Gesichtsausdruck, den Ruth im Stillen als streng emersonisch bestimmt.

»Und für uns hab' ich schon 'was ausgedacht, Jean,« sagt Miss Exeter; »wir beide gehen auf Erkundungstour.«

»Von ganzem Herzen.«

»Dafür müssen wir uns allerdings umziehen. In diesem magermilchfarbenen Organdie-Gewand nehme ich dich nicht mit.«

»Natürlich nicht. Polly, Barbara weiß, wo mein Reitanzug ist; ich denke, er wird dir sehr gut passen,« sagt Jean, hängt sich bei Ruth ein, und sie gehen um das Haus herum zur Küche, wo eine fette, gutmütige Person sitzt, an die die Mädchen sich sogleich als ›Tante Allen‹ erinnern.

»Ja, doch, ich erkenn' sie wieder,« sagt sie, als Miss Bounce sie mit ihren Pensionsgästen bekannt macht, »und ich freu' für mich alle, dass Sie sich entschieden ha'm herzukommen.«

Während sodann Ruth vollständig das Herz der alten Dame erobert, indem sie ungekünsteltes Interesse an ihr und ihrer Tochter Mandy, Miss Bounces Gehilfin, zeigt, nimmt Jean ihre Wirtin beiseite.

»Miss Bounce, wollen Sie bitte dafür sorgen, dass Miss Waite sich hinlegt, wenn sie von ihrem Ritt zurückkehrt?«

»Das werd' ich auf jeden Fall. Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Avery!« mahnt sie, mehr im Sinne eines allgemeinen Rats als in Beziehung auf die gegenwärtige Frage.

»Warum sollte ich mir Sorgen machen?« fragt Jean mit gekünstelter Lässigkeit.

»Hm!« stößt Miss Hopeful aus.

»Was meinen Sie damit?« fragt das Mädchen scharf.

»Gar nichts, Miss Avery. Ich hab' keinen Anlass, irgend 'was zu meinen. Ich werd' Miss Waite, sobald sie kommt, d'ran erinnern, dass sie sich am besten hinlegt.«

»Sagen Sie ihr, dass das Reiten auf diese Art zu einer Wohltat wird – danach zu ruhen.«

»Mach' ich, Miss Avery.«

 

Fünfzehn Minuten später entweichen zwei Landmädchen dem Farmhaus, und ihre besten Freundinnen würden in den kariert gekleideten Gestalten mit ihren ›Shakern‹ auf dem Kopf Jean Ivory und Ruth Exeter nicht wiedererkennen.

»Also, ich denke, wir steigen durch das Gehölz am Ende dieses Weges da hinauf, und dann hangeln wir uns nach rechts oder links, was am vielversprechendsten aussieht,« bemerkt die letztere. »Das ist das allererste Mal, seit wir hier sind, dass ich dich ganz für mich habe, Jean, und ich werde es bis zum Äußersten genießen. Wie gut, dass ich nicht eifersüchtig bin. Ich glaub, ich müsste sonst Barbara hassen.«

»Wie gut, dass du einen gewissen Anteil am gesunden Menschenverstand mitbekommen hast, wolltest du sagen, Ruth.«

Sie schlüpfen leichtfüßig durch das Gehölz, nehmen zu diesem Zweck die langen Hauben ab und geraten rasch auf einen schmalen Pfad, der durch die Kiefern führt.

»Oh, ist das nicht schön hier?!« ruft Ruth, ihren leichten Ton fallen lassend, und atmet in tiefen Zügen die würzige Luft ein.

»Schön für alle, außer Barbara,« erwidert Jean kurz angebunden.

»Machst du dir etwa Sorgen um Barbara?« fragt Ruth überrascht.

»Ja. Hältst du mich für blöd?«

Die betrübten dunklen Augen schauen schwermütig in die von Ruth, als die beiden Freundinnen langsam im Schatten der Kiefern einher wandeln, die häßlichen Hauben in den Händen schwingend.

»In der Schule waren wir alle daran gewöhnt, dass Barbara blass war, und wir machten uns nichts aus den Ringen unter ihren Augen oder dem unangenehmen Husten, einfach weil sie selbst das ignoriert hat. Als ich sie aber zu Hause besuchte, um die Erlaubnis ihrer Mutter zu bekommen, sie hierhin mitzunehmen, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und ich wusste, dass die arme kleine Mutter, die auf alles verzichtet hat, um Barbara ihre Bildung zu ermöglichen, wegen ihr bekümmert und verängstigt war. Wenn du gesehen hättest, Ruth, wie eifrig Mrs. Waite meine Einladung annahm, und den seltsamen Blick in ihren Augen, sobald sie sich auf B. richteten, würdest du dich nicht wundern, dass sie mir die ganze Zeit am Herzen liegt.«

»Und nicht umsonst,« fügt Ruth herzlich hinzu. »Dieses Leben ist genau das richtige für sie.«

»Ist das tatsächlich so? Oder ist sie nicht noch in derselben Verfassung, in der sie hergekommen ist?« fragt Jean traurig. »Ich würde sie von einem Doktor untersuchen lassen, wenn ich nicht fürchtete, sie zu erschrecken.«

»Denk nicht an so 'was. Du und die Natur, ihr werdet die besten Ärzte sein. Natürlich gibt es bis jetzt noch keine Veränderung. Es ist unvernünftig, das zu erwarten.«

»Ja?« fragt Jean so eifrig, als wäre Ruth ein Orakel.

»Aber natürlich!« versetzt die andere mit zunehmender Überzeugung, »diese Befreiung von Einschränkung und Sorge und die leichte körperliche Betätigung müssen eine solche Veränderung in der kleinen B. hervorrufen, dass du sie in einigen Wochen im Triumph zu ihrer Mutter zurückbringen wirst.«

»Ach Ruth, was für eine gute Freundin du bist!« ruft Jean in der Erleichterung ihres getrösteten Herzens, und obwohl sie nichts mehr sagt, belohnt das Licht in ihrem hübschen Gesicht und der zufriedene Klang ihrer Stimme ihre Gefährtin reichlich.

»Hier gibt es ›Rebhuhnkraut‹ – Miss Hopeful erwähnte es,« sagt Ruth, bückt sich, pflückt die zartesten der glänzenden grünen Blätter und reicht Jean die Hälfte des Straußes. »Wir haben jetzt unseren Aufstieg geschafft. Setz deinen ›Shaker‹ auf und kau ›Rebhuhnkraut‹, dann wird aus dir noch eine echte Dorfmaid.«

Jean schaut herunter auf ihr kariertes Bauernkleid und lacht, während sie das Häubchen aufsetzt.

»Da du die Führerin bist, Ruth, kannst du mir vielleicht sagen, was wir mit dieser Steinmauer vor uns anfangen sollen.«

»Hinaufsteigen, fürchte ich, Miss Ivory. Nein; hier ist eine Mauerlücke. Ich glaube, sie haben hier überall solche Durchlässe. Ich vermute, dass wir genau auf dem Pfad sind, den Miss Bounce als Abkürzung zur ›Ablage‹ beschrieb, und in diesem Fall werden wir zum Bach kommen. Ach, was für ein herrliches Wort – Bach! Ich hab' so einen Durst. Ja, da ist er! Wie er durch die Bäume schimmert! Jean, wir sind zwei Kinder in einem Märchen, und wir kommen zu einem verzauberten Bach, aus dem zu trinken uns verboten wurde; jedoch vom Durst überwältigt gehorchen wir nicht und trinken, und da ertönt eine grässliche Stimme, und – und etwas Furchtbares geschieht mit uns.«

Nur das Plätschern des nahen Flusses unterbricht die Stille, als die beiden Freundinnen lachend zum Ufer laufen und auf die Knie sinkend das Wasser mit ihren Händen schöpfen.

Kaum hat es ihre Lippen benetzt, als die Stimme eines Mannes scharf erklingt:

»Seien Sie vorsichtig. Sie werden die Fische erschrecken!«

Jean fährt auf, und Ruth stößt einen kleinen Schrei aus; und nachdem sie ihr Häubchen zurückgeschoben hat, bis es hinten auf ihrem Haar ruht, schaut sie in die Richtung der Stimme.

Sie kam ganz aus der Nähe, wo ein Mann sitzt, ein Gentleman offenbar, der einen großen Hut trägt und angelt.

Beim Anblick der beiden Frauen hat ihn ein entschiedener Ruck durchfahren, dann musste er unfreiwillig lächeln, als er sich vorstellte, wie widersinnig es wäre, Frauen, die er kennt, und besonders die eine, an die er denken muss, in so einem Aufzug wie die vor ihm zu entdecken. Danach kam das Platschen der Hände ins Wasser und seine schnelle egoistische Warnung.

Seine Stimme dringt Jean durch und durch; sie bringt ziemlich schmerzliche Assoziationen mit sich, die sie recht rasch zuordnet, während sie aufrecht in bewegungsloser Überraschung dasteht und froh ist über den tief sitzende Hut, der ihr Gesicht unsichtbar macht.

»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie erschreckt habe«, sagt der Gentleman leichthin, sich an Ruth wendend, erstaunt über ihren hübschen hellen Teint, »aber das ist ja kein Wunder, wenn sie ihn immer mit diesem Ding da beschattet,« setzt er in Gedanken hinzu, als er den ›Shaker‹ mustert, der an seinem Riemen dem Mädchen im Nacken hängt.

Ruth erwidert seine Musterung, zuerst verängstigt, dann, als sie sieht, dass es sich bei dem Fremden um keinen Landstreicher handelt, empört.

»Natürlich haben sie uns erschreckt,« erwidert sie couragiert, während Jean ängstlich flüstert:

»Lass uns gehen; sprich nicht mit ihm.«

»Natürlich gehen wir, Jean; aber nicht zum Haus zurück,« versetzt Ruth sotto voce.

»Meine einzige Entschuldigung ist, dass ich meinen ersten Fisch an der Angel hatte, gerade als Sie in Erscheinung traten, und meine Aufregung ihren Höhepunkt erreicht hatte.«

Während der Gentleman spricht, bewegt er sich langsam am Ufer auf und ab und schaut auf seine Angel.

»Ich glaube, man hält Ihre Art zu fischen für geschickt,« fährt er im Konversationston fort, »ich wünschte, ich könnte das auch sagen.«

Ruths Augen funkeln. »Er hält uns für Eingeborene,« denkt sie, und ohne Rücksicht auf Jeans gebieterisches Zupfen an ihrem Ärmel stemmt sie ihre Arme in die Hüften.

»Die Stadtleute finden sie gewöhnlich erstklassig,« antwortet sie. »Das ist ein Forellenbach, wissen Sie; vielleicht probier'n Sie 'was and'res.«

»Ich angle Forellen, aber ich nehme alles, was Flossen hat,« versetzt der Fremde. »Es ist nicht die beste Jahreszeit zum Angeln, ich weiß, aber ich habe einige wundervolle Geschichten über diesen kleinen Fluss gehört, und ich hatte schon einige Zeit vor, ihn 'mal auszuprobieren; so bin ich vorgestern abend aus Boston hergekommen, und ich denke, nach dem hier kann ich später sagen: ich hab's wenigstens versucht.«

»Sie dürfen nicht so schnell den Mut verlieren,« entgegnet Ruth, dann, dem befehlenden Ziehen an ihrem Ärmel nachgebend: »Wissen Sie, wo wir über den Bach kommen können?«

»Ja, einfach diesseits des Wasserfalls,« antwortet der Gentleman, ohne die jungen Damen eines weiteren Blicks zu würdigen.

»In welcher Richtung, bitte?« fragt Ruth notgedrungen, fühlt jedoch, dass sie damit ihre Fremdheit verrät.

Daraufhin wendet sich der Gentleman ihnen zu und schaut einen Augenblick die aufgeweckt wirkende junge Frau mit dem roten Haar an; dann bückt er sich und befestigt die Angel an einem Felsen.

»Ich werde es Ihnen zeigen,« sagt er.

Ruth und Jean folgen den leichten Bewegungen des anderen, aber als sie zu der Stelle gekommen sind, wo der Steg sein müsste, ist er nicht da. Eine Weile schaut ihr Führer verblüfft drein.

»Ich bin ganz bestimmt vor wenigen Stunden an dieser Stelle auf einem Steg herüber gekommen,« sagt er; »er wurde entfernt, kann aber nicht weit weg sein.«

Und kurzer Hand dreht er sich um, die fehlende Latte zu suchen, wirft dabei unbeabsichtigt einen genauen Blick in Jeans Gesicht und hält einen Augenblick ein, weil er sich vor Überraschung zu bewegen vergisst.

Es ist ein unfreundlicher Ausdruck, den er in den Tiefen der Haube wahrnimmt. Die Augen sind schwarz vor Aufregung und Abneigung, während das Gesicht deren Feuer mit kaltem Stolz und Verachtung widerspricht. Nur einen Augenblick später hat er sich wieder unter Kontrolle und setzt seine Bewegung fort; aber alles Suchen erweist sich als vergeblich.

»Es tut mir leid, aber die Planke ist entweder über den Wasserfall getrieben, oder sie hat sich auf dem gegenüberliegenden Ufer verloren. Aber Sie beide können trotzdem auf den Trittsteinen hinüberkommen, wenn Sie meine Unterstützung annehmen.«

Ruth schaut ihre neue Bekanntschaft erstaunt an. Was mochte den Wechsel in seiner Ansprache verursacht haben, die plötzliche Hochachtung in seinem Ton!

»Es wird spät, Ruth,« lässt sich Jean mit leiser Stimme vernehmen, »wir können an einem anderen Tag weiter machen; lass uns zurück zum Haus gehen.«

»Werd' jetzt nicht müde, Jean, oder, wenn du es bist, wollen wir ›müde sein, aber durchhalten‹ Anspielung auf die Bibelstelle Richter, 8,4: »Da nun Gideon an den Jordan kam, ging er hinüber mit den dreihundert Mann, die bei ihm waren; die waren müde und jagten nach.« (Luther-Bibel, in der Fassung von 1912), denn ich möchte gern über die Straße nach Hause gehen,« sagt Ruth; sie legt ihre Hand in die des Anglers und schreitet anmutig und sicher auf den halb aus dem wirbelnden Wasser ragenden Felsbrocken hinüber.

Jean folgt, ignoriert jedoch einfach die angebotene Hand, schaut weder nach rechts noch nach links und beginnt den Weg in Sicherheit, da die robuste Gestalt des Unbekannten es schafft, durch alle möglichen heiklen Sprünge und Wendungen mit ihr gleichauf zu bleiben.

Auf halbem Weg hinüber rutscht ihr Fuß aus, und sie wird vor dem vollständigen Fall bewahrt durch einen festen Griff um ihren Arm; so erreicht sie das andere Ufer mit einem sehr feuchten Fuß und einem Herzen voller Lieblosigkeit.

»Vielen Dank,« sagt Ruth in ihrem knappen Umgangston, nachdem sie entschieden hat, dass der Wechsel im Benehmen des Anglers auf die Entdeckung zurückzuführen ist, dass Jean und sie zu seiner eigenen Gesellschaftsklasse gehören.

Er lüftet seinen Hut und geht wieder über die Trittsteine zurück, während die Mädchen ihre Wanderung fortsetzen.

»Ein Abenteuer!« ruft Ruth, »ein Abenteuer in diesem bezaubernd einsamen Wald! Wie seltsam, so plötzlich auf diesen hübschen Mann zu treffen; und wie er uns angeschnauzt hat – richtig angeschnauzt hat er uns! Stell dir vor, wir hätten ihn im Salon getroffen – lange Handschuhe und Seide, Blume im Knopfloch und feiner Anzug. ›Ah, Miss Exeter,‹ ›hm, Mr. …‹ – ich möcht' wissen, wie er wohl heißt; du nicht, Jean?«

»Nein, ganz und gar nicht. Ich war nie weniger neugierig.«

Jean streift den karierten Ärmel, der die Berührung des Fremden erlitten hat.

»Und du hast dich nie schlechter benommen, meine Liebe. Man kann auch zu reserviert und stolz gegenüber Fremden sein.«

»Dann hast du dir ja zumindest nichts vorzuwerfen,« bemerkt Jean.

»Nein; und ich bin sehr froh darüber. Ich fühle mich erfrischt, nachdem ich ein paar Worte mit einem Gentleman gewechselt habe.«

»Woher willst du wissen, dass er einer ist?«

»›Dass er einer ist?‹« wiederholt Ruth; »ich weiß, dass er einer ist, und du weißt es auch.«

»Im Gegenteil, ich weiß, dass er keiner ist,« versetzt Jean bedächtig und gelassen.

»Also wirklich, du bist das kritischste Mädchen, das ich kenne. Womit hat er dich beleidigt? Obwohl du so albern und hochnäsig warst, dir nicht von ihm helfen zu lassen: hat er sich nicht bestens betragen? Und, oh je, du weißt gar nicht, wie komisch du ausgesehen hast, als du allein hinüber balanciert bist; sogar er musste lächeln, als du ausgerutscht bist.«

Ruth lacht ansteckend, ohne den geringsten Schimmer des Sturmes wahrzunehmen, der sich neben ihr zusammenbraut.

»Ah! er hat gelacht, ja?« fragt Jean noch gelassener.

»Na klar! Hätte er anders können? So bist du gegangen,« und dabei schlenkert Ruth ihre Arme in übertriebener Parodie. »Diese Aufzüge lassen uns so lächerlich aussehen, weißt du. Es tut mir leid, dass er beim Angeln kein Glück hatte, denn wenn er es hätte, würde er vielleicht wochenlang hier bleiben, und wer weiß: womöglich würde Miss Bounce sich erweichen lassen und ihn aufnehmen. Welch eine Errungenschaft! Hörst du nicht auch schon, wie Mrs. Erwin in ihrer Babysprache wimpernklimpernd mit ihm redet? Ich fürchte, sie würde ihren ›seh' lieben Freund‹ in weniger als einer Woche bei Betrachtung dieser dunklen Augen, dieses reinen, hübschen Gesichts vergessen. Oh, Jean, was ist los?«

Jean hat sich nämlich auf eine grasbewachsene Anhöhe gesetzt, ihr bereits beschattetes Gesicht in ihren Händen verborgen und zittert über und über, ohne einen Ton von sich zu geben.

»Schau mich an, Herrgott noch 'mal, Jean! Es kümmert dich doch nicht etwa, was ich von deinem Wandeln über die Steine gesagt hab'? Unser Freund hat sich vielleicht nur auf seinen Schnurrbart gebissen, als ich dachte, er würde lächeln. Na los, glaub's mir, ich bin sicher, so war's. Aber natürlich schien mir die Situation zum Lachen, denn bei dem einzigen Blick, den ich auf dein Gesicht werfen konnte, sahst du so streng und wütend aus, und er sprang so hin und her! Schau mich an, Jean!«

Jean schaut auf – ihr Gesicht ist so ernst, sie kann nicht gelacht haben! und ihre Augen sind so trocken, geweint haben kann sie auch nicht.

»Mich vor Gentlemen lächerlich zu machen, wird allmählich zu meiner Rolle,« sagt sie ruhig, »und man kann sich an alles gewöhnen.«

Diese banale Bemerkung verändert Ruths Gedankenstrom und bringt sie auf einen alarmierenden Gedanken.

»Jean,« ruft sie, »dieser Mann ist doch nicht etwa – ich meine …«. Sie zögert – etwas im Gesichtsausdruck ihrer Freundin warnt sie vor dem verbotenen Thema. »Vielleicht bis du ihm schon einmal begegnet?«

»Niemals,« sagt Jean, geflissentlich das von ihrer Freundin Gemeinte fehldeutend; »aber da ich im Gegensatz zu dir nicht von seinen persönlichen Vorzügen überwältigt bin, könntest du vielleicht das Thema wechseln; überhaupt: wir wollen so schnell wie möglich heimgehen, denn laut Miss Bounce haben wir einen langen Weg vor uns.«

»Ja; für Stadtleute,« fügt Ruth gutmütig hinzu, nachdem ihr Verdacht sich gelegt hat; und da Jeans Launen eher selten sind, kann sie sie respektieren, und so schlägt sie solch unverfängliche Themen an wie Zu-Fuß-Gehen, Schrittzähler u.dgl.m., bis die beiden Freundinnen an jenem Wahrzeichen der alten Ulme, das Miss Bounce ihnen genannt hat, auf die Straße und zugleich auf Jabe treffen, der im offenen Wagen auf dem Heimweg vom Dorf ist.

»Sie könn'n sich glücklich schätz'n,« bemerkt er fröhlich, während er Dolly zum Stehen bringt, dass die jungen Damen in den Wagen steigen können. »Es is' 'n langer Weg die Straße 'runter.«

»Ich fürchte, du bist faul, Jabe,« sagt Ruth, als das Pferd anzieht. »Laut Miss Bounce ist es kein langer Weg.«

»Tja, sie is' aus Stahlfedern gemacht, da kann man davon ausgeh'n, dass es ihr nix ausmacht. Aber Sie müss'n nich' mit mir fahr'n, wenn Se lieber zu Fuß geh'n woll'n.«

Und der ewig grinsende Jabe bringt Dolly abermals zum Stehen.

»Jabe, du solltest dich 'was schämen,« sagt Ruth, steht auf und berührt das geduldige Pferd mit der Peitsche, wobei sie sich über den Vordersitz beugt, um diese Heldentat zu vollbringen.

»Ich hab' den Befehl, das Pferd nicht zu peitschen,« sagt Jabe, als sie weiterfahren.

»Sehr wahrscheinlich,« versetzt Ruth; »aber die Disziplin ist hier anscheinend nicht streng genug. Ach, was glaubst du! Ich habe gerade im Wald einen Mann getroffen, da drüben, der auf Miss Bounces Domäne wilderte.«

»Wildern? Das is' Stehlen, stimmt's?«

»Ja.«

»Komm'n Se,« entgegnet Jabe, bestens unterhalten. »Sie hat da unten gar keine Domäne. Sie könn'n mich nich' verschaukeln.«

Ruth lacht, und Jean sagt leise:

»Du solltest zu Hause nicht von deinem Fremden sprechen, Ruth.«

»Vertrau mir darin,« sagt Ruth wissend. »Glaubst du, ich möchte ein Feuer des Kreuzverhörs durch Mrs. Erwin und Polly entfachen? Sie würden das ganze Land nach dem armen, einsamen Angler absuchen. Nein; ich werde ihm Zeit geben, sich sicher davon zu machen. Und wo wir von Mrs. Erwin sprechen: Jean, du hast auf jeden Fall etwas gut für die Art, wie du die Witwe und ihre Nichte behandelt hast. Ich hab' dich beobachtet.«

»Ich habe überhaupt nichts gut. Mrs. Erwin ist in der Regel sehr friedfertig, und es ist sehr leicht, dieses verzogene Kind zu übergehen. Armes kleines Ding! Ich frage mich, ob sie nicht allmählich merkt, wie schlimm sie sich aufführt. – Ich möchte gern nach Barbara sehen,« fährt Jean fort, als sie sich dem Haus nähern, »und schauen, wie es ihr geht.«

Beim Eintritt in das beschattete Wohnzimmer treffen die Freundinnen Barbara auf dem Pferdehaar-Sofa liegend an, wo sie es sich mit Kissen gemütlich gemacht hat.

»Kein Wunder, dass ihr überrascht seid, mich hier anzutreffen,« sagt sie lächelnd. »Ich versichere dir, Jean, Miss Bounce ist bei weitem nicht so grimmig, wie sie scheint. Ach, sie hat mir aus eigenem Antrieb diese Kissen gebracht und bestand darauf, dass ich mich hier hinlege, weil es hier kühler sei als oben.«

»Miss Bounce ist eine gute, aufrichtige Frau, und du bist diejenige junge Dame, Miss Waite, die sie dazu bringt, sich von ihrer besten Seite zu zeigen,« antwortet Jean, legt ihre Hand einen Augenblick auf Barbaras Stirn, während die überschwänglichere Ruth sich bückt und sie küsst.

»Wir hatten einen schönen Spaziergang im Wald, Mausie, und haben nach Sehenswürdigkeiten in der Natur gesucht.«

»Das ist schön. Und habt ihr welche gefunden?«

»Eine sehr hübsche Bakterie – nur eine – und die haben wir nicht mitgebracht.«

»Ruth erzählt Unsinn – was anderes kann sie nicht. Trotzdem hatten wir einen netten Spaziergang. Du musst 'mal mit uns kommen und dir anschauen, wie angenehm der Wald ist. Wie war euer Ausritt?«

»Besser als sonst, Jean. Mir hat noch nie etwas so gut getan. Es geht mir heute seit einem Jahr zum ersten Mal besser.«

»Du liebe kleine Barbara!« ruft Jean leise, dann sagt sie, sich abwendend: »Ich geh hoch, um mich für den Tee umzuziehen.«

»Ich komm' mit,« meint Barbara aufstehend.

»Nein, ich verbiete es,« antwortet Jean mit einer befehlenden Geste. »Bleib da liegen, bis die Glocke erklingt, Mausie.«

Barbara gehorcht, und Jean geht hinauf in ihr Zimmer, zum ersten Mal befreit von der abscheulichen, übertriebenen Angst um ihre kleine Schulfreundin; und hätte es heute nicht jene erschreckende Begegnung gegeben, ihr Glückskelch würde überschäumen.

Als sie ihr Zimmer betritt, geht sie zum Fenster und öffnet die Fensterläden – Rouleaus gibt es keine – und begibt sich an ihre Toilette.

Ein schläfriges Vogelgezwitscher tönt von außen herein, von der alten Ulme, deren ausgebreitete Äste beinahe in ihr Fenster eindringen. Der Klang der Kuhglocken, eher ein heiseres Klicken als ein Klingen, und der unentwegte Chor der Frösche, Baumkröten und Grillen, erschallt heute näher und lauter als gewöhnlich in der Stille des frühen Abends. Während sich Jean atemlos der Anzahl von Haaren widmet, die ihr über die Stirn fallen sollen, schreckt plötzlich ein langgezogenes Seufzen sie auf. Sie schaut um sich, sieht jedoch niemanden.

»Wer ist da?« ruft sie.

Statt einer Antwort tritt Nettie Dart langsam aus dem Schrank, deren Tür einen Spaltbreit offen gestanden hat.

»Oh Gott! Jetzt hab' ich Sie erschreckt, und das macht es noch schlimmer als vorher,« sagt das Mädchen reumütig.

Jean antwortet nicht, sondern dreht sich wieder zum Spiegel, ohne sich anmerken zu lassen, dass noch jemand im Zimmer ist.

Nettie betrachtet sie eine Minute sehnsüchtig mit errötendem Gesicht, geht dann langsam zur Tür, verweilt aber, als ihre Hand die Klinke ergreift.

»Sie denken doch nicht, ich hätte Sie erschrecken wollen?« sagt sie in einem merkwürdig bescheidenen Ton.

»Ich habe keine Ahnung, was du in meinem Schrank zu suchen hattest; aber du hast nichts Schlimmes getan – bis jetzt.«

Das jüngere Mädchen ist nicht so begriffsstutzig, dass sie die frostige Bedeutung von Jeans Worten nicht versteht. Sie geht aber immer noch nicht, sondern bleibt mit unentschlossener, gepeinigter Miene stehen, die, wie leicht zu erkennen ist, für das intelligente, schlichte Gesicht etwas Neues darstellt. Dann sagt sie, wobei sie, sich aufrichtend, versucht, ihrer Stimme den hochmütigen Ton von Miss Ivory zu geben:

»Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen; aber Sie machen es mir sehr schwer.«

»Dein Vorhaben ist seltsam und dazu noch seltsam ausgeführt. Du musst dich bei mir für nichts entschuldigen, und – und ich bin in großer Eile, Nettie!«

Jeans Stimme wirkt wie ein feuchtes Tuch auf Netties Bemühen um Empörung. Deren ungeheuchelte Gleichgültigkeit verletzt das impulsive Mädchen weit mehr als Kälte, und Jean ist unangenehm überrascht, dass sie auf einen Stuhl sinkt und in einen Tränenstrom ausbricht.

Sie betrachtet das schluchzende Mädchen, und nur ein Gefühl beherrschte sie – äußerste Langeweile; als dann kein Zeichen erkennbar wird, dass der Sturm sich legt, geht sie zum Schrank, entnimmt ihm ein Kleid und fährt in vollständigem Schweigen mit ihrer Toilette fort.

»Was für ein – was für ein Eisberg Sie sind!« schluchzt Nettie untröstlich.

Jean nimmt eine Nadel aus dem Mund und befestigt ein Spitzentuch an ihrem Hals, während Schweigen herrscht, abgesehen von den langsam nachlassenden Schluchzern.

»Ich nehme an, Sie glauben, ich tu' das alles, um Eindruck zu schinden?« kommt es wieder hinter Netties Taschentuch in erstickten Lauten.

»Ich denke, du wirst beträchtliche Aufmerksamkeit an der Abendtafel erregen,« bemerkt Jean aufgeräumt. »Ich empfehle dir, dein Gesicht zu waschen und ein wenig Florida-Wasser » Florida Water« ist eine amerikanische Version von ›Kölnisch Wasser‹. zu benutzen. Du kannst es dir gern hier gemütlich machen, wenn du willst, und deine Tante ist in deinem Zimmer.«

»Da sehen Sie! Ich bin froh, dass Sie ›Tante‹ gesagt haben,« sagt das Mädchen abgehackt, »sonst hätte ich mich nicht getraut zu sagen, was ich sagen wollte. Oh, Miss Ivory! wenn Sie nur wüssten, wie ich Sie anbete, dann würde ich Sie nicht so furchtbar hassen.«

Jean muss über dieses Paradox unwillkürlich lächeln; sie geht zu dem kleinen bemalten Waschtisch und füllt etwas Wasser ins Becken.

»Wenn du mit Weinen fertig bist,« sagt sie, »dann komm her und folge meinem Rat.«

»Ich würde mich freuen, Ihrem Rat nicht nur darin zu folgen,« sagt Nettie und erhebt ihre geröteten Augen zu Jeans gelassenem, kühlem Gesicht. »Es tut mir leid, dass ich Sie so oft verletzt habe, seit Sie zur Roten Farm gekommen sind.«

Jean begreift allmählich den Grund dieses Besuchs. Das schlichte Gesicht, das sie so erfreulich fand, als sie es das erste Mal sah, erscheint ihr nun in seiner Verunstaltung viel angenehmer, als es ihr seitdem jemals vorgekommen ist, obwohl es ihr schwerfällt, ein weiteres Lächeln zu unterdrücken, wenn sie sieht, wie das Mädchen sie von unten her in heillosem Weh anschaut. Sie steht einen Augenblick unentschlossen da, beißt sich auf die Lippen und sagt dann in milderem Ton:

»Wasch dein Gesicht, Nettie, und mach dir keine Gedanken, dass du mich verletzt hättest. Ich bin nicht wütend auf dich.«

Aber diese Antwort befriedigt ihre Besucherin nicht.

»Ich wünschte, Sie wären es,« sagt das Mädchen, geht zum Waschtisch und spritzt sich Wasser ins Gesicht; dann sagt sie, das Handtuch nehmend: »Ich wünschte, Sie würden sich so viel aus mir machen, dass Sie wütend über mich werden könnten; aber das ist es eben! Glauben Sie, ich seh' nicht jeden Tag, dass Sie nur an mich denken, wenn Sie es für Ihre Pflicht halten, und dann nur deshalb, um zu erkennen, dass ich eine Nervensäge bin? Wenn Sie mir versprechen würden, mich nur genauso anzuschauen wie die anderen, ohne diesen – ach, was ist es? – gelangweilten, angewiderten Ausdruck in ihren Augen, dann will ich versuchen, mich nicht mehr unverschämt und belästigend zu verhalten.«

Nettie hat ihre Auge getrocknet und nähert sich dem Gegenstand ihrer unerwiderten Zuneigung; Jean allerdings ist im Verhältnis zu ihrer Jugend und Erfahrung streng und vertraut nicht auf eine Veränderung, die bloß auf einer Stimmung beruht.

»Ich freue mich, dass du allmählich bemerkst, wie schlecht du deine Tante behandelst,« erwidert sie kühl.

»Ach, Tante Inez!« sagt Nettie lächelnd, und ihre Stimme verrät deutlich, dass ihre Tante keineswegs in ihrem neuen Entschluss inbegriffen ist; »an sie hab' ich nicht gedacht.«

»Das nahm ich an,« sagt Jean; »das ist ja das Problem. Da ruft die Glocke zum Tee, Nettie. Gehen wir 'runter.«

»Nein, Miss Ivory; bitte, noch nicht. Es ist um Ihretwillen und wegen Ihrer Anerkennung, dass ich anders werden möchte,« entgegnet Nettie rasch, während sie Jean auf dem Weg zur Tür aufhält.

»Um wessentwillen auch immer du dich änderst, es wäre gewiss dass Beste, was du tun könntest,« bemerkt das ältere Mädchen durchaus ermüdet.

»Also, ich wünsch' mir, Sie würden mir sagen, wie ich mich betragen muss, damit Sie mich mögen.«

»Wenn man dir wirklich zeigen muss, dass deine Grobheit eine solche ist, dann bist du in einer unglücklichen Lage,« versetzt Jean, und ihr klarer, eindeutiger Ton beschämt ihre Besucherin sehr. »Du bist zwar noch ein Kind, aber schon alt genug, um zu wissen, wann du einen anderen verletzt. Wie ich bereits sagte: wenn du mich oder sonst jemanden brauchst, um das Problem zu bestimmen, bist du ein hoffnungsloser Fall.«

»Aber Tante Inez ist so ein Du … ich meine,« sagt Nettie zögernd, »es ist so eine Versuchung, etwas Ungehöriges zu ihr zu sagen, dass ich kaum widerstehen kann. Sie können sich nicht vorstellen, wie schwer das ist, Miss Ivory.«

»Nein, kann ich nicht. Das kannst nur du selbst beurteilen. Lass mich bitte durch!«

Und Nettie lässt sie vorbei, ganz entmutigt in ihrem Bemühen, die junge Frau, für die sie eine fast krankhafte Verehrung entwickelt hat, zu erweichen oder zu versöhnen. Nettie Dart, selbst eine geradlinige, ehrliche Natur, ist mit einem scharfsinnigen Verständnis der Schwächen ihrer Tante herangewachsen, und die Verachtung dieser Schwächen hat jeden Respekt überwältigt und vernichtet. Jean hat sie mit der gesamten ungekünstelten Kraft ihres Wesens zu einer Art Idol erhoben, um es mit allen möglichen und unmöglichen Tugenden auszustatten und insgeheim anzubeten, wie jüngere Mädchen es manchmal mit älteren tun, besonders wenn, wie in diesem Fall, eine hoffnungslose Zuneigung besteht.

»Ich wünschte, ich würde mich nicht die Bohne darum kümmern, was sie von mir denkt,« grübelt das Mädchen, als sie allein ist. »Bestimmt sollte ich das nicht, aber ich tu's eben, und ich werde sie dazu bringen, dass sie mich irgendwie wahrnimmt. Sie wird mich entweder anerkennen oder wütend auf mich sein – ich werde sie dazu bringen

Und mit einem abschließenden Trocknen der bekümmerten Augen geht auch sie die altmodische Treppe hinab.



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