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»Hochherz'ge Freundschaft kennt kein kaltes Mittelmaß.« Aus » The Iliad of Homer« (1715-20), der englischen Bearbeitung der »Ilias« von Alexander Pope ( Buch IX, Vers 725).
Der Morgensonnenschein kommt mit erfreulich gedämpftem Licht in Barbaras improvisiertes Schlafzimmer und legt sich zu Füßen ihres Sofas. Die südlichen Fenster auf der Vorderseite des Wohnzimmers sind geöffnet, und die Kranke kann hinaus auf die beiden edlen Ulmen schauen, die einen stets wechselnden Schatten wie von einem Spitzennetzwerk auf das Gras werfen.
Die feuchten Rosenstöcke und der Hagedorn, der sich über den Hofplatz rankt, bringen frische Morgenluft in das Zimmer, das sich unter Jeans Zauberstab verwandelt hat, bis Miss Bounce keine Spur ihrer ›guten Stube‹ mehr wiederfindet, von einem Bild hier und da an der Wand abgesehen.
Nicht dass sie sich über die Veränderung beschwert. Es ist inzwischen mit Miss Bounce so weit gekommen, dass für sie alles, was Miss Ivory tut, richtig ist. Und es ist ja auch für einen Frieden und Harmonie Liebenden das Allerbeste, da es die »selbstherrliche« Jean höchst wahrscheinlich sowieso auf ihre eigene Weise tun würde. Und auf was für eine Weise! So elegant. So anmutig. Kaum zu verwundern, dass Miss Bounce so wenig einzuwenden hat gegen die in ihrem Haus vorgenommenen Veränderungen.
Hätte ihr jemand vor sechs Monaten gesagt, dass sie erlauben würde, die beweglichen Kostbarkeiten, die ihr Prunkzimmer zieren, auf den Dachboden zu verfrachten, und dass ein Waschständer und anderes Schlafzimmerzubehör an diesem heiligen Ort aufgestellt würden, so hätte sie diese Idee nicht für wert gehalten, von einem gesunden Sterblichen beachtet zu werden. Aber damals war noch keine Zauberin auf der Bühne aufgetaucht.
Sobald Barbaras Verfassung es erforderlich machte, dass diese kühne Umstellung stattfand, fand sie statt. Miss Ivory schaute sich um und entschied, dass »dieser ganze Krempel der gottseligen Frau aus dem Weg muss«.
Die »gottselige Frau« aber durfte keinen Verdacht solch einer Beleidigung schöpfen.
»Wir müssen jetzt Ihr Wohnzimmer etwas mehr in Gebrauch nehmen,« sagte Jean, »aber vertrauen Sie mir: ich werde alles sehr sorgfältig behandeln.«
Während also der »Krempel« »aus dem Weg« geschafft wurde, sah Miss Bounce lediglich, wie ihre China-Bilder, Photographien Das amerikanische Original nennt hier » ambrotypes«. Die Ambrotypie produziert ein fotografisches Direktpositiv, das im nassen Kollodiumverfahren hergestellt wird; sie wurde zwischen 1852 und 1890 verwendet, vor allem als preiswerter Ersatz für die Daguerreotypie., großen getüpfelten Muscheln und so weiter sorgfältig in Papier gewickelt, respektvoll hinauf gebracht und in einem alten Wandschrank auf dem Speicher verschlossen wurden. Die Entschlackung des Wohnraums, wie sie hier exemplarisch von einer jungen Oberschichtsdame der USA bereits 40 Jahre vor Ende des ersten Weltkriegs vorgenommen wird, zeigt, wie fortgeschritten hier einige Prozesse des alltäglichen Lebens schon waren; in Deutschland findet ein entsprechender Vorgang im Zeichen der Reformbewegung erst von den 1920er Jahren an statt.
Und welche Schätze fand Jean auf diesem Speicher. Bereits der Schrank selbst, der für den »Krempel« zum Hafen geworden war, stellte eine entzückende, spinnenbeinige Antiquität dar. Da gab es Sekretäre und Garderoben mit kleinen Messinggriffen und Kugelornamenten. Da gab es ein Spinett, das man hier herauf gebracht hatte, um Platz zu schaffen für ein Harmonium, und das Beste von allem: es gab ein Spinnrad.
»Oh, Miss Bouce, warum steht das nicht bei Ihnen im Wohnzimmer?« schrie sie begeistert. »Was denken Sie sich dabei!«
»Keine Ahnung, was ich dabei denken soll, das alte Rad in ein Wohnzimmer zu stellen,« lautete Miss Bounces Antwort.
»Ach, als eine Rarität,« sagte Jean ernsthaft.
»Das is' keine Rarität,« beharrte Miss Bounce, ganz perplex über die Grille ihres Gastes. »Woll'n Se damit sag'n, dass sie's gern als Verzierung Ihres Wohnzimmers hätt'n, wenn 's Ihn' gehör'n würd'?«
»Das würde ich tatsächlich,« seufzte Jean, es verliebt anschauend.
»Dann könn' Se 's ha'm,« sagte Miss Hopeful kurz.
»Nein, nein, Miss Bounce, ich habe ja gar kein eigenes Wohnzimmer. Vielleicht geben Sie mir dieses Spinnrad irgendwann als Hochzeitsgeschenk.«
»Ich werd' 's Ihnen schon um ein'jes früher ge'm, ohne dass Se schon verheirat' sin'. Aber wenn 's Ihn' lieber is', könn' Se 's dann kriegen, denn ich nehm' an, dass Sie heiraten werden.«
Jean nahm Ruth mit hinauf auf den geräumigen Dachboden, um sich mit ihr zusammen in bewundernden Ausrufen zu ergehen.
»Schau dir diese alten Schüsseln an, Ruth!« ruft sie ihr zu, auf einige Zinnplatten und -schüsseln, tief wie eine Truhe, zeigend, die sie mit Miss Bounces Genehmigung hervor gestöbert hat.
»Ah-h! Mein Herz wird schon ganz zinnschüsselig,« ruft Ruth.
»Schäm dich! Ein Witz zweiter Hand über diese anbetungswürdigen Relikte! Ich sage dir, die sind auf der Mayflower 'rüber gekommen, Ruth Exeter. Vielleicht haben Priscilla Mullins, John Alden oder Miles Standish Figuren aus dem Versepos » The Courtship of Miles Standish« (1858) von Henry Wadsworth Longfellow, in dem es um die Anfänge der Plymouth Colony geht, der von den Mayflower Pilgrims in Amerika gegründeten Kolonialsiedlung. sie benutzt? Schau 'mal, wie verbogen und zerbeult manche sind!«
Miss Bounce beteuert später Tante Allen gegenüber, dass »die beiden Mädels sich manchmal verrückt benehmen. Sie amüsierten sich so köstlich wie zwei Kinder, als ich jedem von ihnen Zinnschüsseln gab, die früher Großvater Brewster gehört hatten. ›Sie tun, als wären sie aus Gold,« sag' ich zu Miss Avery. ›Gold?‹ sagt sie, ›ich würd' sie nich' für Gold eintauschen,‹ sagt sie. Sie woll'n se in ihren Wohnzimmern aufstell'n, ha'm se gesagt. Was sagst du dazu?«
»Ich schätze, das olle Zeugs kommt irgendwie in Mode, wegen der Verzierungen,« versetzt Tante Allen. »Ich hab' so 'was sagen hör'n.«
»Wohnzimmer! Sollt' m'r lieber Raritätenladen nenn', un' gut is',« murmelt Miss Hopeful.
Nach einigen Tagen von Jeans Zauberwerk ist der angenehme Ort fertig, wo Barbara nun die Tage des Wartens verbringt.
Der Baumwollteppich ist geschmeidig und kühl, die Frisiertoilette mit ihrem Zubehör ist hübsch und anheimelnd. Neben der Couch steht ein Tisch mit Blumen, Roman- und Gedichtbänden; währenddessen tickt eine winzige, spielzeugartige Uhr die Stunden dahin, mal langsamer, mal schneller.
Auf einem Bild an der Wand sitzen Miss Bounces Vater und Mutter Seite an Seite und halten sich an den Händen, und Barbara findet das gemeinsame Starren des Brautpaars bisweilen ziemlich ermüdend; aber insgesamt fühlt sich Dr. Darts Patient sehr gut aufgehoben.
Am Morgen nach den Ereignissen des letzten Kapitels kommt Jean in Barbaras Zimmer.
»Hier ist dein Frühstück, B.,« sagt sie und stellt ein Tablett ab, auf dem so viel Hühnchen, Himbeeren, Schokolade und Toast hergerichtet ist, wie man sich nur wünschen kann. »Wirst du lieb sein und essen?«
Barbara setzt einen verhungerte Miene auf.
»Du weißt, dass ich das immer tue,« sagt sie.
»Ja, das weiß ich allerdings,« antwortet Jean. »Du gehst an dein Frühstück heran, als ob ein ganzer Rinderbraten nur eine willkommene Beilage wäre; aber wenn du fertig bist, sieht das Tablett genauso aus, wie es hereingebracht wurde.«
»Also, Jean!«
»Genug mit ›Also Jean‹! Iss 'was!« entgegnet Miss Ivory und entfaltet eine Serviette. »Da ist ein Gabelbein. Sieh zu, dass deine Gabel es in einem wünschenswerten Zustand zurücklässt Im amerikanischen Original Wortspiel mit » wishbone – condition to be wished on«.,« und damit geht Jean zu einem der niedrigen Südfenster und setzt sich in die kühle Morgenluft, während sich Barbara den ledernen Sack von Jack dem Riesentöter » The History of Jack the Giant Killer« war eine Märchenerzählung für Kinder, die auf mündlicher Tradition beruht und im 19. Jh. in verschiedenen Versionen im Druck vorlag; auch Anne Thackeray Ritchie, die älteste Tochter des berühmten englischen Romandichters William Makepeace Thackeray, hat 1867 eine eigene Fassung beigetragen. Sie erschien später in ihrer Sammlung von Märchennovellen » Five old Friends« (1875), die auch in den USA großen Zuspruch fand. herbeiwünscht, um das leckere Mahl vor ihr darin verschwinden zu lassen.
Als sie die Sahne in ihre Schokolade rührt, betrachtet sie mit liebevoller Bewunderung das hübsche Bild, das Jean auf ihrem niederen Sitzplatz nahe den Rosen abgibt.
»Wie gescheit von dir, morgens immer weiß zu tragen, Jean; es steht dir so gut.«
Und so geschieht es jetzt, dass diese Ansprache Jean den Weg zu einem Thema ebnet, das anzuschlagen sie sich schon den ganzen Morgen gesehnt hat.
»Gewisse blaue Schattierungen stehen mir auch,« erwidert sie ungewöhnlich interessiert. »Ich habe ein blaues Musselinkleid, das ich nie anziehe, weil ich einfach nichts für den Nacken und die Ärmel dazu habe, was mir passt.«
»Was für ein Gedanke,« sagt Barbara und nimmt Himbeeren zu sich, »wo du so viel Spitzen hast!«
»Was sind Spitzen, wenn man etwas anderes möchte? Nun, wenn ich einen weiten, zarten Kragen und geklöppelte Ärmelaufschläge wie Deine hätte, dann würde es passen.«
»Oh, dann nimm sie, Jean, Liebes!« bittet Barbara ernsthaft.
»Mach ein Anspielung auf irgend 'was, und dann schnapp es dir?!« lacht Jean. »Auf keinen Fall! Aber ich würde jemandem, der mir eine Garnitur davon anfertigen könnte, fünfzehn Dollar geben.«
Barbara legt ihren Teelöffel nieder. »Das wäre viel zu viel, Jean!«
»Im Gegenteil: viel zu wenig,« versetzt diese mit abgewandtem Gesicht, während sie beobachtet, wie die Ulmenschatten verträumt auf und ab schweben. »Zwei Jakobsmuscheln machen, oder wie die Verzierungen heißen – das schaffe ich nicht, ohne in Trübsal zu verfallen und damit aufzuhören; und wenn ich an die ganze Arbeit denke, die das bei deinen gekostet haben muss, kommt mir das schwieriger vor, als ein Haus zu bauen; aber ich kenne keinen, der das machen könnte, egal was ich bezahle.«
»Meine hat meine Mutter gemacht, Jean. Sie wäre überglücklich, so etwas für dich tun zu dürfen – etwas zu finden, das dir gefiele.«
»Ach Barbara, wie schön!« freut sich Jean sofort. »Würde sie das tatsächlich tun? – Aber ich fürchte, sie würde es mir einfach so geben wollen.«
»Bestimmt würde sie das,« sagt Barbara.
»Dann kann ich es nicht nehmen,« sagt Barbara, entschieden ihren Kopf schüttelnd.
Barbara wird rot. »Es ist gar nicht nett von dir, dass du uns nichts für dich tun lässt in Anbetracht von allem, was wir dir schulden.«
»Mausie, du verletzt meine Gefühle,« sagt Jean, sich der Couch nähernd und stehend bleibend – auch ihre Wangen sind heiß geworden. »Nimmst du an – glaubst du, dass ich ›in Betracht ziehe‹, dass ihr mir irgend etwas schuldet?«
Ein kurzes Schweigen folgt; dann erwidert Barbara langsam:
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Dann sei vernünftig. Deine Mutter hat Sorgen. Ihre Zeit ist kostbar. Was für ein Mädchen wäre ich, sie um eine so feine, sorgsame Arbeit zu bitten, mit der ich mich dann hübsch machen könnte? Aber vielleicht war es taktlos von mir, dieses Thema zu berühren.«
Die kunstvolle Schlusswendung von Jeans Rede zeigt Wirkung.
»Du und taktlos? Du Liebe?« ruft Barbara und greift nach der schönen weißen Hand und umschließt sie fest: »niemals! Und ich glaube – Mama würde sich freuen – über den Auftrag,« vollendet sie zögernd.
»Dann kann ich meine Eitelkeit mit reinem Gewissen befriedigen!« jubelt Jean erleichtert. »Du kennst doch mein Motto: ›Schmiede das Eisen, solange es heiß ist.‹« Und damit bringt sie Barbara ein kleines Brett, ein Blatt Papier und einen Stift. »Jetzt schreib, meine Liebe! Erwähne nicht mich dabei. Schreib einfach, die Garnitur wird sehr dringend von einer jungen Frau benötigt, die hoffnungslos der Eitelkeit und der Mode verfallen ist; und – oh, ja: du könntest ebenso gut gleich das Geld schicken – hier ist es – dann bin ich jede Verantwortung los und habe nicht weiter zu tun, als mich in meiner Herrlichkeit zu sonnen, wenn die Sachen fertig sind.«
Barbara schreibt – mit einem halben Lächeln auf ihren Lippen; sie vermutet wohl den wahren Grund dieser neuen Laune.
Am Abend zuvor hatte Jean beim Aufräumen einen teilweise entfalteten Brief auf dem Boden gefunden, und als sie ihn auf den Frisiertisch legte, war ihr Blick unwillkürlich auf diese vier Worte gefallen: »Oh, für fünfzehn Dollars!« Sie wusste, dass Barbara den Brief an diesem Tag von ihrer Mutter erhalten hatte, und gedachte lange und mitfühlend der kleinen Frau, die sie nur einmal gesehen, die aber in ihr eine so starke Anteilnahme geweckt hatte.
»Eine weitere Anwendung für Tante Jeans Geld,« beschloss sie zu guter Letzt. »Es muss wirklich ein dringendes Bedürfnis sein, dass Mrs. Waite Barbara damit belastet.«
So ist Jean nun froh, ihren Zweck erreicht zu haben, und schaut auf ihre Freundin hinunter, die soeben den tröstlichen Brief versiegelt.
»Könntest Du bitte deine Himbeeren aufessen, B.?« fragt sie.
»Nein; ich bin nicht besonders hungrig heute morgen,« sagt Barbara, als ob dies ungewöhnlich wäre.
»Ach, was sollen wir tun? Du musst mehr essen, Barbara. Denk nach, was du vielleicht gerne hättest.«
»Ich glaube, ich hätte gern etwas Forelle – wie wir sie beim Picknick hatten.«
»Wie gut das passt!« ruft Jean erfreut. »Wir haben gerade eine im Haus.«
»Aber Dr. Dart hat die gefangen, die wir damals hatten,« wendet Barbara ein.
Jean beißt sich ungeduldig auf die Lippen, versucht zu sprechen, unterlässt es jedoch und verlässt das Zimmer mit dem Frühstücksbrett. Als sie die Küche betritt, blickt Miss Bounce, die an der Spüle beschäftigt ist, scharf auf den Inhalt des Tabletts.
»Hm! Sieht nich' aus, als ob 'n Schwarm von Heuschrecken sich d'rüber hergemacht hätt', oder?«
»Miss Waite glaubt, dass sie eine Forelle essen könnte, wenn Dr. Dart sie gefangen hätte,« verkündet Jean.
»Das übertrifft ja wohl alles, worauf so 'n Kranker versessen sein kann! Na gut, Miss Avery. Jabe wird sich zu Tode kichern, wenn er ihm diese Botschaft bringt, und v'leicht bringt er 'n gleich mit.«
Jean will gerade den Raum verlassen, als Mrs. Erwin in der Tür erscheint; im selben Augenblick kommt im gegenüber liegenden Eingang Jabe mit einer Ladung Holz an.
»Ich bräuchte bitte ein Eimerchen mit warmem Wasser, Miss Bounce,« sagt die Witwe.
»Geht klar,« entgegnet Miss Hopeful. »Jabe, warte kurz, Miss Avery will dir noch 'was sagen.«
Miss Bounce befindet sich im Irrtum, denn Miss Ivory wünscht nichts dergleichen zu tun. Dennoch hält sie inne und wendet sich an Jabe.
»Miss Waite hätte gern eine frische Forelle zum Abendessen,« sagt sie streng.
»Alles klar, Ma'am,« versetzt Jabe, wobei seine Füße einen Synkopentanzschritt ausführen. »Soll se ha'm, und wenn's den ganzen Tag dauert.«
»Keine Frage,« setzt Miss Bounce hinzu und lässt heißes Wasser aus dem Boiler.
Jean räuspert sich.
»Miss Waite zieht es vor – sie meint – sie möchte – dass Dr. Dart den Fisch für sie fängt,« fährt sie fort und schaut dabei genau über Jabes Kopf hinweg.
»Also, das ist wirklich die Höhe!« schreit Mrs. Erwin. »So eine Unverfrorenheit! Hat man Töne?« Und mitten in den Buchstücken der verblüfften Empörung der kleinen Wirtwe stolziert Jean, innerlich schäumend, aber äußerlich die Kaltblütigkeit in Person, aus dem Zimmer.
»Wessen Dienstbote war Dr. Dart letztes Jahr, möchte ich wissen«? schreit Mrs. Erwin, das heiße Wasser übersehend, das Miss Bounce grimmig lächelnd neben der Spüle auf den Boden gestellt hat.
»Jabe!« schreit die Witwe zu Tür eilend, durch welche der Junge sich verdrückt hat. »Gehst du zu Dr. Dart?«
»Ja, Ma'am,« antwortet Jabe, widerstrebend zurückkehrend.
»Ich habe große Lust, es zu verbieten!«
»Ja, Ma'am,« wiederholt Jabe, während er seine Absätze im Kies vergräbt.
»Oder, warte! Besser, ich gehe selbst mit Dr. Dart angeln. Sag ihm das.«
Jabe schaut gequält auf.
»Oh, na, Mis' Erwin, das sollt'n se besser nich' tun – ehrlich jetzt! Is' 'n echt harter Platz, wo w'r hinwoll'n, für Damen.«
»Das kümmert mich nicht, ich konnte ja nur so wenig mit ihm zusammen sein! Ich bin sofort fertig!«
»Also,« sagt Jabe, »wir angeln meist bis zu den Hüften im Wasser stehend. Das wird echt komisch für Sie sein.«
»Ich werde es riskieren, dass Dr. Dart mich mit ins Wasser nimmt. Er wird einen angenehmen Platz für mich finden.«
»Ganz wie Sie mein'n!« erwidert der Junge; dann setzt er, wie laut nachdenkend, hinzu: »Ich werd' mich d'rum kümmern, dass er 'ne doppelte Portion Whisky mitnimmt, falls es 'n Unfall gibt, wo wir durch die Klapperschlangen-Senke müssen.«
» Was sagst du? Klapperschlangen?«
»Mein Gott, ja! Und Wasserschlangen und Kreuzottern! Aber gut: alles, was Se tun müss'n, is', Ihre Aug'n aufhalt'n. Dann wer'n Se auch nich' gebiss'n.«
»Danke, Jabe, da würde ich für alles Geld nicht hingehn! Ich bin so froh, dass du mir das gesagt hast!«
»Geht mir auch so,« murmelt Jabe, von dem nur noch die Absätze zu sehen sind, als er in die Richtung von Tante Allen saust, wobei er seinen Gefühlen dann und wann durch einen schrillen Jauchzer Luft verschafft.
Auf den ihm bestens vertrauten Pfaden erreicht der Junge bald das Landhaus. Die lustigen braunen Gesichter der Sonnenblumen nicken ihm über den Zaun zu, und der schläfrige gelbe Hund, der draußen vor der Küchentür auf einem Stein liegt, bewegt seinen Schwanz lediglich in gelangweilter Wiedererkenntnis.
Tante Allen öffnet die Tür.
»Morgen, Jabe,« sagt sie; sie beschattet ihre Augen gegen das starke Sonnenlicht und gibt dann dem Hund einen Fußtritt: »Hoch mit dir, du fauler Köter! Und wie geht's all' den Leuten zu Haus'?«
»Ganz gut so weit – außer Miss Waite. Wo is' Dr. Dart?«
»Zum Postamt gegangen. Ich hoff', Miss Waite geht's nich schlechter?«
»Nein,« versetzt Jabe lachend über die wiederholten wirkungslosen Versuche, den Hund zu vertreiben.
»Hat man schon 'mal so 'was gesehn wie den da?« ruft sie. »Da hat er sich den heißesten Platz ausgesucht, den's gibt, legt sich d'rauf nieder und pennt den ganzen Tag. Der macht mich noch fertig. Willst de nu weg da?!«
Ein entschlossener Stoß mit einem Besen veranlasst den Hund, sich bedächtig zu erheben, von dem Stein herunter zu kommen und sich ein paar Schritte entfernt auf das Grass sinken zu lassen, wie erschöpft von einer Strapaze.
»Wills' de zuschaun, wie der Hund da in ungefähr anderthalb Sekunden munter wie 'n Fohlen wird?« erkundigt sich der Junge.
»Du sollst ihm nich' wehtun.«
»Wer will ihm denn wehtun?«
Tante Allen schaut auf das Tier und schüttelt den Kopf.
»Erdbeben kann man nich' befehl'n, Jabe, und nix and'res als 'n richtig langes Erdbeben würd' Cæsar wachrütteln, das weiß ich. 'ch hab' sonst alles versucht!«
Indes hält Jabes selbstgefälliges Grinsen an. Er bückt sich sich nachlässig und hebt eine kurze, dünne Gerte auf und nähert sich dem Hund.
Alle vier Beine ausgestreckt faulenzt Cæsar unbewegt in der Sonne. Sein Kopf liegt behaglich auf dem warmen, dicken Rasen, und die Mundwinkel sind in einem feinen Lächeln der Genugtuung hochgezogen wie bei jemandem, der es liebt,
»– am Mittag dazuliegen
Und sich dem grünen Grase anzuschmiegen.«
»
… at noon to lie / Serenly in the green-ribbed clover's eye.« – Aus Teil 1 des umfangreichen Gedichts »
Scenes of Infancy: Descriptive of Teviotdale« (1803) des schottischen Indologen John Leyden.
Indem er einige geheimnisvolle Schritte über den Hund geht, gibt Jabe einen leise sirrenden Klang von sich, der allmählich lauter wird und plötzlich so endet:
»Bs-s-s-s-s-st!«
Dabei zieht er die Gerte behutsam über Cæsars Rücken und beendet die Aktion mit einem kleinen Klaps, der den Hund blitzartig auf die Beine bringt.
Offensichtlich hatte Cæsar zuvor einmal eine schmerzliche Begegnung mit einer Biene, und seine wilden Augen und aufgerichteten Ohren, als er sich zweimal um sich selbst dreht bei der Suche nach dem Feind, beurkunden geradezu amtlich Jabes Imitationsgenie.
»Du meine Güte, Jabe,« schreit Tante Allen, deren fette Hüften vor Lachen wackeln. »Zu so 'was braucht's dich!«
Jabe rollt sich auf dem Gras und schreit. Cæsar schaut ihm mit zuckenden Nerven wachsam zu; dann dringt es langsam in sein Hundegehirn ein, dass da etwas nicht stimmt. Was kann es sein? Vielleicht war da gar keine Biene! Bei genauerem Nachdenken kommt er zu dem Schluss, dass es keine gab. Mit dem Besen gestoßen, getreten und mit Worten beleidigt werden sind Sachen, die Cæsar immer schon gewohnt ist, aber offensichtlich ist mit einer solchen Veräppelung eine Linie überschritten worden, denn er lässt Kopf, Ohren und Schwanz hängen, als er er sich um die Ecke des Hauses davon schleicht.
»Schau dir den armen Köter an! Komm, Cæsar; hierher, Cæsar,« schreit Tante Allen, jedoch vergebens.
»Dafür, dass er 'n feiger Hund Im amerikanischen Original: » a yaller (= yellow) dog« (Feigling, für einen Menschen gebraucht). is', is' er empfindlicher, als ich je erlebt hab',« fährt sie fort, ihren Besen abstellend. »Ich muss 'mal nachsehn, ob ich ihn finden und ihm gut zureden kann; aber meine Güte, jetz' is' ihm für eine Woche sein ganzer Stolz vergangen. Er wird sich nich' 'mal auf den Stein vor der Tür legen; 'mal gucken, ob er's tut. – Da kommt Dr. Dart.«
Während nun Tante Allen um die Hausecke biegt zu einem fruchtlosen Suchen nach ihrem Hund, eilt Jabe, mit einem weiteren Freudenschrei beim Gedanken an Cæsars erste Angstreaktion, und trifft mit Kenneth Dart zusammen.
»Hallo Dokter,« schreit er, »Miss Avery hat mich zu Ihn' geschickt.«
Das Gesicht des jungen Mannes leuchtet auf bei diesem Namen.
»Wegen Miss Waite, schätze ich.«
»Nee, nich' dass Se komm' und nach ihr sehn soll'n, sondern dass Se ihr 'ne Forelle fang'n. Sie stellt sich vor, so hat's Miss Avery gesagt, sie stellt sich vor, sie hätt' gern eine, die Sie gefang'n ha'm.«
Bei Jabes unwillkürlichen Anstrenungen, Miss Ivorys Verhalten nachzuahmen, kann Kenneth sich rasch ein Bild machen von ihrer Abneigung, diese Bitte zu äußern.
»Na gut, Jabe, Kranken muss man ihren Willen lassen. Ich weiß nicht, ob ich dich mitnehmen soll?«
»O, ich werd' keinen Mucks von mir ge'm!« ruft der Junge, in dessen Gesicht und Fingern es ungeduldig arbeitet, »kein' einz'jen.«
»Dann geht damit, glaub' ich, alles klar,« lacht Kenneth gemütlich, »hol' schon 'mal die Angelausrüstung – aber sorgfältig, bitte.«
Der Eifer, mit dem Jabes saubere Leinenhosenbeine eines nach dem anderen um des angenehmen Auftrags willen davon flitzen, bringt Dr. Dart ein zweites Mal zum Lächeln.
»Arme Miss Ivory,« überlegt er, als er ins Haus geht. »Beständigkeit mag ein Juwel sein, aber in ihrem Fall ist es von richtigem Schmuck weit entfernt ist – meiner Meinung nach.«