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Es steigt hervor aus großem Schmerz
Ein Glücksgefühl hinauf ins Herz,
Auf leichtem Flügel in Balance.
IN MEMORIAM. Aus dem 65. Gesang des Versepos » In Memoriam A.H.H.« von Alfred Tennyson.
» Das arme Schätzchen! Das arme Schätzchen!«
Miss Bounce ist verliebt.
Sie hatte es nicht für möglich gehalten, dass ihr Herz, das sich durch so viele einsame Jahre verengt hatte, sich so weit öffnen könnte, dass es die Zuneigung, die sie für die Königin ihres »Dornröschengartens für Mädchen« empfindet, in sich aufnehmen könnte; aber während der schlaflosen Nacht, die auf den Empfang ihres aufregenden Briefes folgt, wandern ihre Gedanken oft von der Betrachtung der Leiden ihrer Schwester hinweg und ruhen mit Liebe und Sehnsucht auf denen ihrer Wohltäterin.
»Denn sie
leidet, und das ist die Wahrheit. Armes Lämmchen! Was quält sie? Was
kann sie quälen? Sie is' auf Erden nichts weiter als ein Kind. Es scheint nich' so, als ob man sich um Fräulein Waite Sorgen machen müsste. Das
weiß ich. Wie sehr wünscht' ich mir, ich könnte etwas zu ihr sag'n oder etwas für sie tun. Sie alle, jede von ihnen, hängen irgendwie an ihr, und sie ist zu jung – viel zu jung. Aber so ist das mit Mädels ihrer Art. Sie komm'n in die Welt, sind edelmütig, groß und aufgeschlossen, und die Leute spür'n es schon von Anfang an. Diese ›perfekten Frauen, zur Großmut bestimmt‹, müssen von Anfang an stark sein: warnen und trösten und befehlen
Anspielung auf das gern zitierte Gedicht »
She Was a Phantom of Delight« von William Wordsworth; einem seiner Gedichte entnahm die Verf. auch das Motto des gesamten Buches (siehe Anm. 1). Die letzten vier Zeilen lauten:
A perfect Woman, nobly planned,
To warn, to comfort, and command;
And yet a Spirit still, and bright
With something of angelic light.
Es ist bezeichnend, dass die Verf. die Kenntnis eines solchen Textes sogar der provinziellen Miss Bounce zutraut., und es muss sie in der Unerfahr'nheit manchmal hart ankomm'n, und sie müss'n zuweil'n Panik krieg'n, wenn se befürcht'n, dass se nicht das Richt'je befohl'n ha'm. Dieses süße, junge Ding, das niemand auf
dieser Welt hat, zu dem es gehn könnt' – wenn ich höre, wie ihre Stiefmutter und ihr Papa sind, dann denk' ich, dass sie 's sich leicht mach'n. Ihre großen, samt'jen, braunen Augen, so voll von Trauer, wie se gestern abend war'n, brechen mir fast das alte Herz; aber was kann ich tun? Wenn 'ne Drossel auf 'm Baum da draußen plötzlich aufhör'n würd' zu singen, und ich wüsste, dass se 'n Mund nicht mehr aufmachen könnt', wenn ihm nicht jemand helfen würd', hätt's da irgend ein' Sinn, sie in die Hand zu nehm'n und ihr Problem zu untersuchen? Diesem jungen Geschöpf könnt' ich nicht mehr helfen, obwohl ich sehr genau weiß, dass ihr Kummer sie nur deshalb quält, weil se so jung und unschuldig und zart is'. Zeig' ihn irgend ei'm ollen Hasen, und er würde zu nix zerrinnen.«
So grübelt Miss Bounce, in ihrem Bett aufrecht sitzend, während das Objekt ihrer Besorgnis sich in den Stunden der kurzen Sommernacht herumwirft und ruhelos träumt.
Am Frühstückstisch bemerkt Miss Hopeful besorgt, dass sie Ränder unter den noch immer stumm trauernden Augen hat, und das Herz der alten Jungfer wird aufs Neue gebrochen.
Sie sucht nach einer Gelegenheit, mit Ruth allein zu sprechen, und findet sie endlich, während diese junge Dame Blumen für Barbaras Vase schneidet, die täglich aufgefüllt wird.
»Schauen Sie sich die schöne Rose an, Miss Bounce,« ruft das Mädchen, als sich Miss Hopeful nähert. »Sind diese späten Rosen nicht wunderschön? So kann ich Barbara heute eine zusätzliche Freude bereiten.«
»Ich wünschte, Sie könnten Miss Avery eine zusätzliche Freude bereiten,« antwortet Miss Bounce ernst.
Ruth schaut etwas verlegen auf: »Wieso, was ist passiert?«
»Woher soll ich wissen, was passiert is'? Sind Sie nicht die beste Freundin, die sie hier hat?«
»Gewiss; ein echter Fidus Achates, Ein »getreuer Achates«, d.h. ein getreuer Freund; Fidus Achates ist der Gefährte des Aeneas in dem Versepos » Aeneis« des römischen Dichters Vergil (70-19 v.u.Z.).« gibt Ruth zurück und fügt einige altmodische Nelken vom Rand des Blumengartens hinzu.
»Sie brauch'n sich keine indian'schen Nam'n zu ge'm,« sagt Miss Bounce, »nur, wenn Sie sie ein wenig aufmuntern könn', ach, dann tun Se's!«
»Wieso? Stimmt etwas nicht?« fragt Ruth unschuldig.
»Wie könn' Se das jetz' frag'n! Sind Sie blind?« fragt die Frau verärgert.
»Nein, Miss Bounce. Sie haben Recht. Miss Ivory schwebt heute morgen ein wenig über den Wolken – das ist ihre Art und Weise, niedergeschlagen zu sein,« erklärt Ruth leichthin, während sie sich erneut zum Blumenbeet beugt, um Heliotrop und Mignonette zu pflücken; »aber, was soll man machen? Miss Ivory schnauzt die Leute nie an. Es gibt keine Torpedos oder Feuerwerkskörper in ihrer Munition; aber sie hat eine Kanone, die bis zur Mündung geladen ist, und wenn es Ihnen nichts ausmacht, Miss Bounce, dann werde ich sie nicht auslösen,« und Ruth beugt sich auf der Jagd nach einer rosa Geranie vor, bis sie kurz davor ist, das Gleichgewicht zu verlieren, »zumindest nicht, bevor ich meinen Willen durchgesetzt habe. Je weniger ich mich mit irgend einer Schusswaffe einlasse, desto mehr bleibt von mir für andere Zwecke übrig, wie ein humorvoller Schriftsteller feststellt.«
»Hm!« lautet die zweideutige Antwort von Miss Bounce, als sie in ins Haus marschiert.
Ruth fällt auf das Gras zurück in einer sitzenden Stellung. Der Tau dringt in ihr fliederfarbenes Battistkleid ein, aber sie beachtet ihn nicht. Die Blumen – ein duftender Haufen – fallen ihr in den Schoß. Sie umschließt mit den Händen ihr rot-goldenes Haar, das von ihrer Stirn geradewegs zurückweht.
»Mach dich bereit, Ruth Exeter! Dies ist erst der Anfang der Schwierigkeiten, und vor dir liegt noch ein ganzer Tag.«
Dann bindet sie ihren Blumenstrauß mit einem Grasstreifen zusammen und geht ins Wohnzimmer.
Die Sphäre dieses normalerweise fröhlichen Ortes, empfindet sie, bevor sie noch die Schwelle überschritten hat, als unbehaglich; aber sie setzt beim Eintritt ein strahlendes Gesicht auf.
»Hier ist die letzte Rose des Sommers, Barbara!« sagt sie fröhlich.
»Ein sehr passendes Angebot für mich,« sagt Barbara.
»Es ist die Letzte und die Beste,« fährt Ruth, das Gemurmel überhörend, fort und hält Barbara den wohlriechende Strauß vor die Nase.
»Igitt! Da ist ein Käfer in meinem Gesicht!« sagt die Kranke, streicht über ihre Wange und schüttelt den Kopf. »Danke, Ruth; sie sind wunderschön – zu gut für mich. Ich bin eine Kratzbürste heute morgen.«
Ruth wirft einen schnellen Blick auf Jean, die im Zimmer herumläuft und sehr ernst, aber dabei sehr gut aussieht in einer kleinen Spitzen-Frühstückskappe und einem weißen Morgenkleid, dessen Puffärmel und Spitzen bis zu den runden Schultern hochgekrempelt sind, während ihre Trägerin die Zofe spielt. Barbara ist weiß und nervös, und fast schon so verdrießlich, wie es für einen so geduldigen Körper möglich ist.
»Denk nur! Gestern hatte ich gehofft, spazieren gehen zu können,« sagt sie und blickt auf ihren eingewickelten Fuß.
»Würdest du es nicht gerne jetzt versuchen?« fragt Jean mit einigem Eifer. »Du weißt, dass ich sehr stark bin. Ich würde nicht zulassen, dass du dir Schmerzen zufügst.«
»Nein, danke, ich möchte lieber auf Dr. Dart warten. Er wird bestimmt heute kommen.«
»Auf jeden Fall; wenn er nicht kommt, dann aus einem guten Grund,« sagt Ruth mit einem verstohlenen Blick auf Jean, »und wenn er nicht kommt, brauchen wir nur nach Dr. Fanning zu schicken.«
»Wer ist das denn?« fragt Barbara misstrauisch.
»Der alte Arzt im Dorf. Er nimmt Schnupftabak und ist ganz taub; aber er hat schon sehr viel Erfahrung, weißt du«, antwortet Ruth tröstend.
»Ich will ihn nicht haben!« erklärt die Kranke. »Jean würde ihn wahrscheinlich vorziehen. Sie hat Dr. Dart wegen seiner Unerfahrenheit immer so sehr verletzt; aber ich dachte, er würde sich während der ganzen Zeit um mich kümmern, denn er wusste, ich vermochte seine Freundlichkeit zu schätzen. Oh, Jean!« sagt sie, als sie das Gesicht ihrer Freundin erblickt, »verzeih mir, dass ich so fies war. Oh, welchen Kummer ich euch gemacht habe und immer noch mache«, und zum Abschluss dieser Rede bricht Barbara zusammen und weint leise.
Jean bleibt stehen und betrachtet sie einen Moment; dann sinkt sie schluchzend auf einen Stuhl, legt ihre nackten Arme auf den Tisch, beugt den Kopf darüber, und vergießt die Tränen, die seit gestern morgen nach einem Ventil drängen.
Bei diesem in ihrer kleinen Geschichte noch nie dagewesenen Anblick weint Barbara noch heftiger, und Ruth blickt bestürzt von einer zur anderen.
»Absolut schrecklich!« denkt sie und balanciert den Staubwedel auf einem Finger. »Ich hasse es, eine Verschwörerin zu sein.«
Vielleicht fünf Minuten lang wütet der Sturm; dann erhebt sich Barbara in ihrer reuevollen Scham tatsächlich von ihrem Sofa, und indem sie Ruth die Hand reicht, humpelt sie mit deren Hilfe zu ihrer weinenden Freundin hinüber.
»Verzeih mir, Jean, sonst muss ich mich so schämen, dass ich dir niemals wieder ins Gesicht sehen kann. Wenn man bedenkt, dass ich dich zum Weinen gebracht habe! Es ist zu schrecklich, ich kann es nicht glauben!«
Barbaras Stimme zittert bedrohlich, und Jean schaut auf und wischt sich dabei die Augen.
»Ich habe nichts zu verzeihen, B., vor allem, da du so weit hier herüber gegangen bist, denn das gibt mir das Gefühl, dass wir den Fuß bald ohne die Hilfe eines Arztes wieder in Ordnung bringen können.«
»Oh nein, er kommt heute, da bin ich mir sicher,« erwidert Barbara, während ihre beiden Freundinnen – eine auf jeder Seite – ihr zurück zum Sofa helfen. »Mädels, ich würde meinem schlimmsten Feind keinen verstauchten Knöchel wünschen. Ihr habt keine Ahnung, wie seltsam und schmerzhaft es sich anfühlt, wenn das Blut wieder so hineinläuft. Wenn Dr. Dart nur hier wäre, um mir zu sagen, dass es in Ordnung ist, ihn zu benutzen, wenn es sich so anfühlt!« und Barbara sinkt erschöpft zurück, nachdem dieser Schauer anscheinend nicht ganz die Atmosphäre geklärt hat.
Ruth empfindet eine hemmende Verlegenheit, die die Aussicht auf ein Zusammensein mit ihren beiden Freundinnen am Morgen unangenehm macht; daher geht sie, sobald sich dazu die Gelegenheit bietet, auf ihr Zimmer. Das erste, was sie beim Eintreten tut, ist, ihre Tür abzuschließen; das zweite, ihren Gefangenen aus dem Schrank zu befreien.
»Komm her und mach dir ein bisschen Bewegung,« sagt sie; aber mit der charakteristischen Hartnäckigkeit gibt das Tier kein Lebenszeichen von sich. »Ich weiß, was dich beleben wird. Du möchtest schwimmen,« und Ruth geht zum Waschtisch, stellt ihn auf den Boden und füllt das Becken zur Hälfte mit Wasser.
»Ziemlich eng das Ganze, oder? Aber dies ist der letzte Tag.«
Bei der ersten Berührung mit dem Wasser schwimmt die Schildkröte am Rand der Schale umher und versucht sich mit einer ebenso gleichmäßigen wie hoffnungslosen Bewegung an den rutschigen Seiten festzukrallen.
»Was für eine Art Friedensstifter wirst du wohl wohl sein?« sinniert das Mädchen halblaut. »Wenn ich dich nur zum richtigen Zeitpunkt dort hineinbringen kann, wirst du sicher die geeignete Wirkung erzielen. Der Nachmittag wird kommen, und Dr. Fanning mit ihm, wenn alles gut geht; und wenn er gegangen ist, jeder Dr. Dart aufgegeben hat und Jean sich von der Last des Kummers niedergebeugt fühlt, wird unser Gentleman die Szene betreten, Barbara untersuchen und ein Gespräch mit Jean führen, das die Sache ins Lot bringen muss; denn sie wird wegen ihres Briefes so erleichtert sein, ihn zu sehen, dass sie sehr gut aussehen wird – vielleicht entschuldigt sie sich sogar, aber das weiß ich nicht,« und Ruth schüttelt sehr zweifelnd den Kopf. »Wenn ich dich, der du diese Geschichte auf dem Rücken trägst, dann dazu bringen kann, auf sie zuzugehen, wird das ein Lachen auslösen und ihre Gutmütigkeit wiederherstellen; aber ich gehe 'mal davon aus, dass du dich beim Reinkommen schlecht benimmst und jede Menge Ärger machst, wo du 'mal gebraucht wirst. Na gut, dann werde ich dich eben tragen,« und Ruth hebt die Schildkröte aus der Schüssel, nickt ganz entschieden und liefert sie wieder ihrer Gefangenschaft aus.
Der Morgen zieht sich langsam hin, das Mittagessen ist bereits vorbei. Von Jean kann man nicht sagen, dass sie sich noch im Zustand der Erwartung befindet, es gibt so wenig Hoffnung in ihrem Herzen, dass der Arzt doch noch kommt; dennoch hört sie aufmerksam zu, als Barbara Mrs. Erwin nach ihrer Meinung zu seiner Abwesenheit befragt.
Mrs. Erwin nimmt die Miene gekränkter Empfindsamkeit an.
»Ich kann kaum etwas dazu sagen, meine Liebe,« (es ist so einfach, Barbara »meine Liebe« zu nennen) »aber Sie wissen, dass er Ihnen zuliebe seine Angelegenheiten in der Stadt bereits erheblich vernachlässigt hat.«
»Ich betrachte dies keineswegs mit Gleichgültigkeit,« sagt Barbara ernst.
»Und ein Telegramm hat ihn vielleicht plötzlich abberufen. Tatsächlich kann man sich nichts vorstellen, was wahrscheinlicher wäre. – Was blicken Sie denn so spöttisch drein, Miss Ivo'y?« wendet sie sich plötzlich an Jean. »Glauben Sie nicht an diese Erklärung?«
»Nein.«
»Und dennoch wäre es erstaunlich, wenn ich sein Handeln nicht klarer begreifen könnte als Sie.«
Zur Antwort verdreht Jean nur ihre Augen. Ihr Verhalten ist sehr irritierend, und Ruth sieht das auch so.
»Jean ist noch nicht bescheiden genug, auch jetzt noch nicht,« denkt sie. »Was für ein erstaunliches Maß an Disziplin dieses Mädchen braucht!«
»Es ist sehr schade,« sagt sie laut. »Ich glaube, Dr. Dart's Anwesenheit und Ermutigung waren noch nie so nötig wie jetzt, denn Barbara hat gerade gelernt, sich auf ihn zu verlassen, und ist noch nicht an dem Punkt angekommen, an dem sie ohne ihn auskommen kann.«
Als sie dann sieht, dass Jean sich verfärbt, glättet Miss Exeter ihr Kleid mit dem angenehmen Gefühl, ihre Pflicht vollständig erfüllt zu haben.
Nettie Dart, die auf einem kleinen Hocker zu Jeans Füßen sitzt und bewundernd zu ihr aufschaut, denkt offensichtlich nicht schlechter von ihrem Ideal wegen einer kleinen Meinungsverschiedenheit mit Mrs. Erwin. Sie neigt sich zu Jean und flüstert:
»Wissen Sie, warum ich mich heute so sehr danach sehne, Kenneth zu sehen?«
Jean schüttelt den Kopf.
»Um ihm zu sagen, wie freundlich und gut Sie sind.«
Das ältere Mädchen lächelt ironisch. »Er weiß bereits, dass ich die Sanfteste und Liebste meines Geschlechts bin,« gibt sie zurück.
Es ist ein ausgesprochen warmer Mittag. Mabel und Polly vergnügen sich im oberen Stockwerk. Die näher Interessierten sitzen mit Barbara in der warmen Stube. Sie braucht deren Gesellschaft mehr als gewöhnlich und muss sich offensichtlich stark zusammen nehmen, um nicht in ungeduldige Bewegungen und Reden zu verfallen. Die Unterhaltung verkümmert unter den wärmenden Strahlen der Sonne. Mrs. Erwin lehnt sich auf ihrem großen Stuhl zurück und fällt in einen leichten Schlummer. Ruth wippt in einem Schaukelstuhl hin und her und fragt sich, weshalb sie wegen der Durchführung ihres netten kleinen Plans so aufgeregt sein sollte. Nettie nimmt ein Buch zur Hand, setzt sich an Barbaras Seite und beginnt laut zu lesen, während Jean in einer geraden, unruhevollen Haltung mit gefalteten Händen dasitzt, aus dem Fenster schaut und wartet. Es gibt nichts zu sehen außer der glühenden Luft und dem verdorrenden Gras.
Diese Stunde, die sie mit Warten auf den Arztbesuch an diesem Augustnachmittag verbringt, wird sie niemals vergessen, doch ihr Äußeres lässt den Aufruhr in ihrem Kopf kaum erahnen. Abwechselnd zieht sich die Zeit und fliegt dann wieder. In der einen Minute erfüllt die Furcht, ihm zu begegnen, sie mit einer Hitzewallung; in der nächsten lässt die kühle Überzeugung, dass die Rote Farm ihn nicht mehr erleben wird, die schweren Momente monoton an ihr vorüberziehen. Sie hat viel Zeit, um über die kurze Vergangenheit von zwei Sommermonaten nachzudenken; und wie sie die an und für sich unbedeutenden, aber für sie sehr wichtigen Ereignisse auch immer wendet: sie schafft es nicht, sie in einem für Miss Ivory günstigen Licht zu sehen. Jede ihrer kleinen Bemerkungen und Anspielungen, die dem hübschen, gar nicht nach seinem Gewerbe aussehenden Arzt abträglich sind, besteht darauf, dass man in dieser unangenehmen Zeit ihrer gedenkt; und die Erinnerung an einige von ihnen lässt Jean wahrlich erröten. Dr. Dart hat seine Rache an ihnen stets nur dadurch bewiesen, dass er sich über sie amüsierte und dies unfreiwillig erkennen ließ, bis auf die letzte – diese war zu viel. Kein Wunder, dass er lieber auf einen künftigen Tag wartet, um wieder sein Interesse an Barbara zu bekunden – einen Tag, an dem ihn keine übereifrige Vertraute mit ihrer Dreistigkeit belästigen wird.
Mit fest verschränkten Händen erteilt sich Jean eine schwere seelische Züchtigung, die in den verzweifelten Wunsch mündet, den Mann zu sehen, dessen Fehler alle von ihren in den Schatten gestellt sind, dessen gute Meinung zu verlieren sie lange, harte Arbeit gekostet hat und für deren Wiedergewinnung ihr in diesem Moment kein Opfer zu groß wäre.
Sie ist von einer so starken Sehnsucht erfüllt, dass es dem aufgeregten Mädchen scheint, dass, wenn an der Lehre vom Magnetismus etwas daran wäre, dieser ihr den verlorenen Freund bringen müsste. Ihre braunen Augen werden schwarz, als sie sieht, wie ein Phaeton in die Lücke der Steinmauer einbiegt. Sie warnt ihre Begleiter nicht vor der Ankunft des Arztes, sondern kämpft nur gegen die Versuchung wegzulaufen, die ihrem schnell erfüllten Wunsch gefolgt ist.
Der Phaeton zieht vor der Piazza auf, und ihm entsteigt die schmächtige, gebeugte Figur des alten Dr. Fanning.
Einen Moment lang ist Jean bitter enttäuscht, doch im nächsten erhebt sie sich, entschlossen, die Sache endlich selbst in die Hand zu nehmen, und ihr Gesicht hellt sich mit neuer Beherztheit auf, als sie in Barbaras Zimmer kommt; doch bevor sie etwas sagen kann, hat Dr. Fanning schon den Raum betreten. Jean hört vage, dass er hofft, dass Dr. Dart früher oder später seinen Platz wieder einnehmen kann; dann überprüft sie die Bestürzung in Barbaras Gesicht mit vier Worten, die sie unter dem Vorwand, sie zu küssen, flüstert, und mit einer höflichen Verbeugung vor dem alten Herrn schlüpft sie hinaus und verschwindet nach oben.
Sie ist spürt ein seltsames Gefühls der Erleichterung. Es ist, als wäre sie aus stürmischer See in einem sicheren, angenehmen Hafen gelandet, wo allenthalben Ruhe und Frieden herrscht. Der ganze Konflikt zwischen Stolz und Neigung ist zu Ende.
Sie lächelt über ihr schwach leuchtendes Bild im Spiegel, als sie mit seltsamer Befriedigung feststellt, wie unhöflich und unentschuldbar ihr Verhalten war. Für die hübsche, impulsive Jean gibt es keine halben Sachen, und während sie eilig ihr Reitgewand überzieht, ist sie damit beschäftigt, sich die schlimmste aller Verletzungen, die sie Kenneth Dart jemals zugefügt hat, durch die Gewissheit zu versüßen, dass sie ihn dafür entschädigen kann.
»›Sei tugendhaft, dann wirst du glücklich!‹ Was für ein Unsinn,« denkt sie mit einem kleinen, verächtlichen Lächeln. »Ich war noch nie in meinem Leben so glücklich wie jetzt, nur weil ich so viel falsch gemacht habe,« und dann, mit plötzlicher Zurückhaltung: »Ich gehe wegen Barbara,« denkt sie. »Ich habe ihr so viel weg genommen, und es ist meine Pflicht« – »deine angenehme Pflicht,« schlägt eine spöttische innere Stimme vor – »meine Pflicht, ihren Verlust wiedergutzumachen,« fährt Jean beherzt fort.
Es kam ihr so lange, so sehr lange vor, dass sie sich gegen jeden Vorstoß des jungen Doktors stemmen musste, dass es jetzt eindeutig eine Erleichterung darstellt, selbst einen durchzuführen.