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Alles was ich wollte war
–– Gerecht zu sein.
BROWNING. Aus Nr. VI des Zyklus » Home-Thoughts, from Abroad« (1845) des englischen Dichters Robert Browning (1812-89).
Möglicherweise hat die Schelte, die Jean von der gewöhnlich sanftmütigen Barbara empfangen hatte, doch einigen Eindruck auf das Urteilsvermögen dieser jungen Dame gemacht. Vielleicht empfindet Jean selbst eine gewisse Nachgiebigkeit gegenüber dem jungen Arzt, dessen täglicher kurzer Besuch nicht nur auf seine Patientin, sondern ebenso auch auf ihre Freundinnen anregend wirkt.
Sogar Miss Bounce hat damit aufgehört, diese Besuche zu verübeln, und allmählich ist es dahin gekommen, dass Kenneth Dart von jedem mit vertrauter Freundlichkeit »der Doktor« genannt wird; für Jean jedoch ist es eine Sache der Ehre, ihre Haltung nicht zu ändern. Womöglich findet sie ihre förmlichen Barrieren schwer aufrecht zu erhalten. Auf jeden Fall bittet sie eines Tages ihre Mutter um etwas, das in einen Brief eingeschlossen kommt, welcher sich sehr verwundert in altbekannter Form darüber ergeht, wie Jean es möglich sein soll, jenen Geldbetrag auszugeben, der ihr von Zeit zu Zeit an die Rote Farm geschickt worden ist.
Jean liest den Brief – mit einem halben Lächeln – dann wirft sie ihn auf die Seite und nimmt den Umschlag. Er trägt die Aufschrift:
»Miss Ivory: Persönlich.«
Jean legt ihr Gesicht in Falten und zieht die Brauen zusammen, als ihn betrachtet. Irgendwie hat sich Dr. Darts Beleidigung während der letzten paar Tage zu etwas eher Lachhaftem als Verletzendem entwickelt. Es schien alles sehr lange her zu sein.
Als sie nun hinschaut, den alten Umschlag wahrnimmt und alles überdenkt, was die Gefühle jenes Abends wieder zurück bringt, schafft es Jean, die tote Asche ihrer Rache zu einer viel versprechenden Flamme anzufachen.
»Es war eine Gemeinheit, das zu tun – und eine Kleinigkeit dabei,« sagt sie sich nochmals, »und ich fühle mich nicht bewogen, es zu vergessen, es sei denn, er heiratet Barbara.«
Als das Mädchen sorglos hoch schaut, sieht es sein Gesicht im Spiegel. Eine plötzliche Röte breitet sich über ihm aus. Sie bedeckt ihre brennenden Wangen mit den Händen und lässt die Augen sinken; aber sie kann sich mit dieser Idee von nun an nicht mehr selbst betrügen. Sie hat sich selbst erwischt und weiß jetzt, dass Dr. Dart seine kleine Patientin niemals heiraten wird.
»Jean Ivory, du bist eine Schwindlerin!« lautet ihr gedanklicher Kommentar, als sie ihren Stuhl vom Tisch weg stößt und zum Fenster geht; aber weil sie ihre eigenen Gedanken als ärmliche Gesellschaft empfindet, wendet sie sich mit ungeduldigem Kopfschütteln ab, um Ruth zu suchen, die sich in ihrem eigenen Zimmer befindet. Geistig abwesend vergisst Jean anzuklopfen und öffnet einfach die Tür.
»Wer ist da?« schreit Ruth plötzlich.
»Entschuldige,« sagt Jean und macht die Tür fast wieder zu.
»Bist du's, Jean? Warte 'mal eine Minute,« entgegnet Ruth mit unterdrücktem Kichern; dann hört Jean einen Klang, der von einem Holzklotz verursacht sein könnte, der über den bloßen Boden des Wandschranks geschoben wird; danach wird die Schranktür geschlossen, und Jean wird hinein gelassen.
»Wie rot dein Gesicht ist, Ruth! Hast du ein Skelett im Schrank? Lass mich 'rein schauen.«
»Nein, auf keinen Fall!« versetzt diese mit einem nervösen kleinen Schrei und lehnt sich eilends gegen die geheimnisvolle Tür. »Neugier ist eine schlimme Sache, Jean. Fördere sie nicht. Ich wollte gerade zu deinem Zimmer gehen – das heißt, sobald ich die Fütterung der – ähm!«
»Fütterung von was? Was hast du da drin, Ruth!«
»Nichts, was Essen braucht; das war bloß ein Versprecher. Jabe hat gerade das hier für dich gebracht,« sagt Ruth, geht zu ihrem Schreibtisch und überreicht Jean einen Umschlag.
» Hab' ich jetzt schon eine fixe Idee?« denkt Jean benommen. Gewiss, das ist derselbe Umschlag, den sie vor einem Augenblick auf ihrem Schreibtisch hinterlassen hat. Er ist von derselben Hand geschrieben, und sie liest: »Miss Ivory: Persönlich.« Sie dreht ihn um. Er ist versiegelt.
»Das ist Dr. Darts Schrift,« sagt sie kühl. »Was kann er mir geschrieben haben?«
»Es gibt eine sehr einfache Methode, das heraus zu finden,« erwidert Ruth, aus dessen Gesicht das Rot nicht geschwunden ist. »Kann das von ihm sein? Er war vor kaum zwanzig Minuten hier und hat dich gesehen.«
Jean hasst sich für die Aufregung, die sie bemeistert und schwach macht.
»Ich werde mir das in Ruhe anschauen,« sagt sie nachlässig und will den Raum verlassen.
»Oh nein, Jean; öffne den Umschlag hier, oder ich muss annehmen, es gibt Heimlichkeiten zwischen dir und dem Arzt.«
»Du warst schon immer das albernste Mädchen auf der Welt,« erklärt Jean, dennoch zur Rückkehr gezwungen. »Der Arzt und ich, wir verstehen uns überhaupt nicht gut, und das ist bestimmt kein Geheimnis vor unseren Freundinnen.«
Sie setzt sich ans Fenster, den Rücken Ruth zugewandt, und schneidet mit der Schere den Umschlag auf, während ihre Freundin ihre übermächtigen Gefühle durch wechselnde Pantomimen erleichtert, halb mitfühlend, halb drohend, allesamt Jean parodierend, während zugleich ihre Wangen von einem wachsenden Feuer erglühen und aus dem Schrank jener geheimnisvolle Klang eines Holzstücks erschallt, der über den Boden geschoben wird.
»Ruth, da ist 'was Lebendiges!« ruft Jean aus, dreht sich plötzlich um und überrascht ihre Freundin dabei, wie sie eine sehr unwissenschaftlich geballte Faust in ihre Richtung schüttelt.
Als Jean sich herum dreht, öffnet Ruth ihre Hand und streicht ihr Haar zurück, ohne zu wissen, wie schön sie dabei aussieht.
»Wo ist 'was Lebendiges? Etwas in diesem Umschlag?«
»Nein, das Ding in deinem Schrank. Was ist es, um Himmels willen?«
»Ich höre gar nichts,« antwortet Ruth näher kommend und setzt sich nieder vor ihrer Kameradin. »Beeil dich, und lies deinen Brief. Wenn Dr. Dart dir geschrieben hat, werde ich grün vor Eifersucht.«
So beschworen zieht Jean den Brief hervor. Ein weiterer versiegelter Umschlag fällt aus ihm heraus. Sie hebt ihn auf und liest laut die Adresse, »Miss Waite«; dann entfaltet sie den Brief und liest laut:
»›Wäre Miss Ivory so freundlich, den eingeschlossenen Brief Miss Waite einzuhändigen.‹
Das ist alles, was d'rinsteht, Ruth,« sagt Jean stark erbleichend; »und trotzdem muss er gewollt haben, dass ich seinen Brief an Barbara erst lese, bevor ich ihn abliefere, sonst hätte er ihn nicht auf diesem Weg geschickt.«
Ruth fragt sich, ob erfreulicherweise Jean vielleicht eifersüchtig ist, wird indes rasch enttäuscht.
»Er muss ein Feigling sein, wenn er bei etwas, das mit Barbaras Gesundheit zu tun, lieber schreibt, anstatt es ihr direkt ins Gesicht zu sagen; und doch muss es dies sein. Da ist etwas Schreckliches in dem Umschlag! Ich fühle es.«
Ruth ist vollständig überrascht bei der Wendung, die ihr Anschlag genommen hat, hofft allerdings, dass auf nicht vorhersehbare Weise Jeans Eindruck irgendwie dem Anliegen des jungen Doktors hilft.
»Ich werde ihn lesen, Ruth, ob er dies nun beabsichtigte oder nicht. Ich übernehme lieber die Verantwortung dafür, als das Risiko einzugehen, dass Barbara schockiert wird,« und mit diesen entschiedenen Worten öffnet Jean den zweiten Umschlag und zieht dessen Inhalt hervor.
Fünf Zehn-Dollar-Scheine gleiten in ihren Schoß. Mit äußerst verwirrter Miene entfaltet sie das Papier, das sie umschlossen hatte.
»Würde bitte Miss Waite dieses Geld als erstes Gehalt, das sie durch Unterrichten bezieht, betrachten und die Zeit, die ansonsten zu dessen Verdienst nötig wäre, auf ihre Gesundheit verwenden.
Ein Freund.«Jean muss vor Erleichterung lachen, als sie dies laut vorliest.
»Hast du jemals so 'was absolut Geschmackloses gehört?« fragt sie. »Das ist ja ganz nett von ihm, dass er ihr helfen möchte. Aber wie lächerlich zu glauben, er könne dabei anonym bleiben!«
Ruth starrt weiter vor sich hin und schweigt.
Jean wird überhaupt nicht wüthend, und auf Grund seiner derzeitigen Auftritte darf Dr. Dart die gewöhnliche Ordnung der Dinge umkehren und seine Patientin recht großzügig entlohnen. Es muss etwas geschehen.
»Sehr lächerlich,« echot sie. »Vielleicht wollte er zwar Barbara gegenüber anonym bleiben, aber du solltest seine Wohltätigkeit erkennen.«
»Barbara ist kein Gegenstand von Wohltätigkeit, und ihre Freunde sind durchaus im Stande, sich um ihre Interessen ohne die Einmischung eines Außenseiters zu kümmern,« entgegnet ihre Freundin und ist in die Falle gegangen.
»Je mehr ich darüber nachdenke, Ruth, desto unvertretbarer, aufgezwungener und sogar prahlerischer erscheint es, da er weiß, dass ich mit seinem Schreiben vertraut bin, nachdem ich so viele schriftliche Anweisungen über Barbara erhalten habe – O, Ruth!« ruft Jean, denn es überkommt plötzlich die Sprecherin wie ein Blitz, dass Dr. Dart von ihrer Bekanntschaft mit seinem Schreiben zu einer Zeit vor Barbaras Krankheit weiß.
»Ruth, ich muss dir etwas sagen«, verkündet Jean feierlich, faltet die Hände im Schoß und schaut ihre Freundin an, deren Gesicht von chronischer Röte zu glühen scheint und die es sehr schwierig findet, ihr weiter beständig in die Augen zu schauen.
»Dr. Dart ist der junge Mann, der mein Geld so grob zurückgegeben hat.«
»Dein protégé mit dem reinen Gesicht?«
»Erinnere mich nicht daran! Aber warum bist du nicht überwältigt?« sagt sie, denn um ihr Leben zu retten, kann Ruth nicht mehr als milde Überraschung vortäuschen.
»Erinnerst du dich nicht, ich habe es an jenem Tag im Wald vermutet, aber du hast mich mit einer deiner niederträchtigen Ausflüchte abgeschreckt. Das ist er also. Nun, natürlich hast du ihm inzwischen verziehen; weißt du, ich hätte nie gedacht, dass es in diesem Brief etwas gibt, worüber ich so wütend sein könnte.«
»Du konntest nichts davon erzählen, weil es nicht dir selbst passiert ist,« erwidert Jean, »und was das Verzeihen angeht – weißt du, Ruth, es würde mich überhaupt nicht überraschen, wenn er denselben Betrag geschickt hätte wie ich, wie es aussieht – aber dann hätte er ihn doch lediglich an Barbara geschickt …«
»Ich denke, die richtige Erklärung von dem allen ist offensichtlich genug«, unterbricht Ruth, wohl wissend, dass bei Jean langsam Verdacht wach wird. »Er begründet dies damit, dass Barbara nicht in der Lage ist zu unterrichten, und wenn du nicht einer so raschen Aufnahme dieser notwendigen Tätigkeit zuvorkommst, na ja, dann wird er es tun. Was willst dagegen unternehmen? Ihr das Geld geben? Zweifellos würde sie es sehr gut aufnehmen.«
»Das würde ich in der Tat nicht!« ruft Jean feuerrot aus. »Ich meine, wenn Barbara von jemandem Geld annimmt, dann von mir. Ich habe noch nie etwas so Anmaßendes gehört. Es zeigt, wie raffiniert der Mann ist.«
»O, Jean, wo er so freundlich und hingebungsvoll war,« murmelt Ruth und reibt eine Hand über die andere.
»Unsinn! Ich bin es leid, seine Lobgesänge zu hören. Er ist ein absoluter Tölpel.«
»Dann wirst du ihm wohl antworten müssen,« schlägt Ruth vor.
»Nein, ich schicke die Geldscheine einfach ohne ein Wort an ihn zurück.«
Ruth hat auf diese entschiedene Antwort nur einen leeren Blick.
»Es ist wirklich nett von dir, dass du so lieb bist und vergibst, Jean; nicht viele Mädchen würden eine solche Gelegenheit zur Rache verstreichen lassen«, sagt sie in ironischer Bewunderung.
»Ich wünsche keine Rache,« lautet Jeans erhabene Antwort; »aber wenn ich die Absicht hätte, ihm eine Lektion zu erteilen, oder ihm etwas mitteilen wollte, das ihn ein wenig seiner Selbstzufriedenheit berauben würde, dann würde ich es als meine Pflicht betrachten.«
»Ich bin sicher, dass du immer getreulich versucht hast, ihn nieder zu machen,« erwidert Ruth und schiebt Papier und Tinte in Richtung ihrer Freundin, die sie schief ansieht. »Vom allerersten Tag an warst du mehr als unhöflich. Kein Wunder, dass er darüber lachen musste, wie du darauf bestanden hast, den Bach ohne seine Hilfe zu überqueren.«
Diese raffinierte Anspielung appelliert zu sehr an Jeans Stolz und erinnert an zu viele nachfolgende Gelegenheiten, bei denen jener sank, weil sie dem Verhalten des Arztes nichts entgegen zu setzen wusste.
Jean zieht das Papier zu sich heran, stützt den Ellbogen auf den Tisch und den Kopf auf die Hand, während sie mit der anderen langsam schreibt.
Ruth reibt ihre Hände in stiller Ekstase aneinander.
»Tu viel Pfeffer 'rein,« sagt sie.
»Wieso?« fragt Jean abwesend, ohne aufzuschauen.
»Ich meine … ich gehe davon aus, dass du ziemlich scharf schreiben wirst,« erwidert Ruth, erhebt sich von ihrem Stuhl und geht zu ihrem Frisiertisch, wo sie sich damit beschäftigt, verstreute Bänder zu falten, während ihre Augen vor Schalk glänzen.
Der Stift kratzt mit bösartigem Geräusch auf dem Papier, ansonsten herrscht eine Zeitlang ununterbrochenes Schweigen; dann wirft Jean den Stift hin und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück.
Ruth schüttelt bedenklich den Kopf.
»Der arme junge Mann! Er tut mir leid,« sagt sie.
»Willst du es hören?« fragt Jean lächelnd.
»Ich bestehe darauf, es zu hören, nur will ich mich erst hinsetzen. Es ist bestimmt niederschmetternd.«
»Nein, nur ehrlich;«versetzt Jean, dann liest sie laut vor:
»Dr. Dart: Ich muß mich weigern, Fräulein Waite Ihr letztes Rezept auszuhändigen, und zu Ihrer Beruhigung: ich verspreche Ihnen, daß sie niemals von Ihrem anmaßenden Eingriff zu ihren Gunsten erfahren wird; denn es würde ihr schwerfallen, Sie wiederzuerkennen in der unaufrichtigen Zurschaustellung, welche die Art und Weise, diese unverlangte Wohltätigkeit zu bescheren, charakterisiert.
Jean Ivory.«Ruth holt einen Fächer ein und wedelt mit ihm.
»Ich sehe ihn schon ganz in sich zusammenfallen,« sagt sie leise.
»Wird das reichen?« fragt Jean und hebt die Augenbrauen.
»Wenn er sich nicht gerade eines Nashornpanzers erfreut, ganz bestimmt, glaube ich. Denke nur, Jean,« fügt sie mit vorwurfsvollem Blick hinzu, »vielleicht malt er sich jetzt gerade deine Bewunderung und Barbaras überquellende Dankbarkeit aus.«
»Ich hoffe, dass er das tut; ich hoffe, dass er genau das tut,« antwortet die andere heißblütig, »aber,« setzt sie mit verändertem Verhalten hinzu, »ich glaube nicht, dass er es tut, Ruth. Er ist nicht annähernd so ein eingebildeter Tugendbold, wie ich dachte, nach dem Brief, den er mir geschrieben hat. Vielleicht,« fährt Jean fort und starrt in die Leere, »vielleicht wäre es besser, einfach das Geld zurückzugeben und nichts zu sagen.«
»Oh, nein,« antwortet Ruth, lässt ihren Fächer fallen und stürzt sich auf das schriftliche Blatt, das auf dem Tisch liegt. »Das wird ihm gut tun, ich weiß es. Wo ist das Geld? Ich kümmere mich nur noch um die Banknoten, und dann schicken wir sie zurück in die Hände, die sie nicht hätten verlassen dürfen, ›ohne eine bessere Kenntnis der Fakten‹. Beschrifte jetzt einfach den Umschlag, meine Liebe.«
Jean seufzt ein wenig und gehorcht; dann ergreift Ruth das Schreiben.
»Ich werde ihn für dich schicken. Kümmere dich nicht weiter darum,« sagt sie leichthin, sendet ihrer Freundin einen Luftkuss und verlässt das Zimmer in ungestümer Eile.
»Es ist ganz richtig und gerecht,« denkt Jean, allein gelassen, und rechtfertigt sich dafür – sie weiß kaum wofür; dann steht sie ebenfalls auf und geht, um zuletzt auch diese Szene mit Bravour zu überstehen, zurück in ihr eigenes Zimmer, wo noch das Stück Papier liegt, das aus Boston hergekommen ist.
Wie kommt es, dass es gar nicht mehr so bedeutsam und unverschämt aussieht wie vor kaum einer Viertelstunde?
»Rache ist überhaupt nicht süß,« entscheidet Jean. »Auf jeden Fall, Miss Ivory, haben Sie so großzügig ›Auge um Auge‹ veranstaltet, dass Sie es sich leisten können, sich von dieser Erinnerung an das Verbrechen eines anderen zu trennen.«
Und während sie dies denkt, hält sie ein brennendes Streichholz an den Umschlag, der zu einer zarten schwarzen Flocke verschrumpelt und zerbröckelt.
In der Zwischenzeit hat Ruth den kostbaren Brief vor der Möglichkeit eines Rückrufs bewahrt, indem sie Jabe damit losschickte. Sie schaut zu, bis sie ihn auf Jeans Pferd davon galoppieren sieht; dann dreht sie sich um und rennt die Treppe hinauf, zurück in ihr Zimmer, und schließt die Tür hinter sich.
»Sie ist weg. Ich hoffe, sie hat nicht in den Schrank geschaut. Was für ein Unsinn! Natürlich hat sie das nicht getan,« sagt Ruth und öffnet die geheimnisvolle Tür, sinkt auf die Knie und fängt an, einige Schuhe und Schlappen auf dem Boden des Schrankes hervorzuziehen.
»Wo bist du, alter Junge? Ich hoffe, Jean hat dich nicht 'rausgeworfen. O, da bist du ja!«
Und mit diesem gemurmelten Ausruf zieht Ruth an ihrem widerstrebenden Schwanz eine Schildkröte aus den Tiefen des Schrankes.
»Was soll dieses Herumkrakelen und Lärmmachen, wenn ich Gesellschaft habe?« erkundigt sie sich und lässt den Schwanz los, mit dem sich das Tier seinen Weg über Berg und Tal von Schuhen und Schlappen bahnt, offensichtlich mit dem Ziel, wieder Abgeschiedenheit in den Tiefen des Schrankes zu gewinnen.
»Komm zurück, du missgelaunte Kreatur!« ruft das Mädchen und erhält wieder die kurzen Hinterbeine. Die Schildkröte ist entmutigt, und zieht Kopf und Beine ein und nach Ruths raschem Loslassen auch den Schwanz, und nur ein unbelebter Panzer, in den mit etwas erratischen, aber klaren Zeichen »2. Juli« eingezeichnet ist, liegt still auf dem Boden des Schranks.
»Das ist das richtige Benehmen,« sagt seine Herrin wohlwollend; »und es ist das Wenigste, das du tun kannst, wenn ich all meine natürlichen Vorurteile besiegte, um dich an deinem schrecklichen kleinen Schwanz vom Bach nach Hause zu tragen, und seither durch Dick und Dünn bei dir gewesen bin und ewig Angst hatte, du wärst hungrig, durstig oder sonst 'was. Meinst du, ich fange gerne Fliegen für dich? Meinst du, ich lasse dich gerne in meinem Waschbecken herumschwimmen? Meinst du, ich lasse dich gerne hier herum poltern, wenn ich schon im Bett bin? Ja, es ist sonnenklar,« fährt sie im Ton der Genugtuung fort, beugt sich über ihren Gefangenen und prüft seine Verzierung; dann, als ihr eine erleuchtende Idee kommt, denkt sie, plötzlich sich aufsetzend: »Warum sollte ich nicht ebenso gut etwas in Schale einritzen können wie Jean? Auf dieser Schildkröte ist noch etwas mehr nötig, und ich setze es über diesen besonderen Tag.«
Und als die sinkende Sonne einige Zeit später durch Ruths Fenster blickt, sieht sie sie bei der Arbeit, ein Taschenmesser in der einen Hand und ihren Gefangenen in der anderen, während sie mühsam drei Worte über Jeans Inschrift einschnitzt.