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Achtundzwanzigstes Kapitel.

»Halt an dein Urtheil; Sünder sind wir Alle.«

König Heinrich VI.

 

Unter den Sühnungen, welche den Wallfahrern von Dürkheim und Hartenburg vorgeschrieben worden, war ausdrücklich auch der Morgengottesdienst namhaft gemacht, zu dem sie jetzt aufgeboten wurden. Man hatte den Schwächeren der Bußgänger Zeit zur Ruhe gelassen, während die Kräftigeren sich in der Weise beschäftigten, welche wir im vorigen Kapitel beschrieben haben. Gewisse Selbstgeißelungen waren, wie für ausgemacht angenommen wurde, zu verschiedenen Perioden während der langen Reise aus der Pfalz gebührend in Anwendung gekommen.

Eine Stunde, nachdem sich die Abteigäste zerstreut hatten, wallte die Procession der Benedictiner aus den Kreuzgängen in das Kirchenschiff. Obgleich die Regel dieses Ordens nicht im Rufe der Strenge stand, so kam es doch nicht selten unter den Mönchen aller Klassen vor, daß sie bei außerordentlichen Anlässen früh ihr Lager verließen und die Stille der Nacht mit Musik und Gottesdienst unterbrachen. Wenn der Geist so frisch von der Ruhe und in einer Stimmung, die dem Gegenstande so angemessen ist, vor die unmittelbare Gegenwart der Gottheit tritt, so muß wohl ein Weihrauch und Lobgesang, frei von den Schlacken der Menschlichkeit, jener hohen Reinheit, welche die Anbetung der Engel schmückt, weit näher kommen, als jedes andere Opfer, das der Mensch darbringt, eben weil man in einem solchen Augenblicke am wenigsten die Last der körperlichen Hülle fühlt.

Sogar heutigen Tages noch beobachten die Katholiken in ihrem täglichen Gottesdienst eine Gleichförmigkeit und strenge Regel, von denen man in den Vereinigten Staaten, diesem Lande puritanischen Ursprungs, nichts weiß. Mit dem ersten Grauen des Tages wird in jedem Dorfe die Kirchthurmglocke geläutet; zu bestimmten Stunden dringt der gleiche Ruf an das Ohr eines jeden, der sich in Hörweite befindet, ihn auffordernd, seine Gedanken von der Erde ab- und im Gebete Gott zuzuwenden; und mit dem Schlusse des Tages wird die Heerde wieder aufgeboten, um sich im Geiste zu dem englischen Gruß zu vereinigen. Dieß sind schöne und ergreifende Pflichtmahnungen, welche, wenn sie mit aufrichtigem Sinne geübt werden, nicht ermangeln können, den Geist in größerer Unterwürfigkeit gegen das hehre Wesen zu erhalten, das unsere Bestimmung lenkt. In Gegenden, wo die Landleute in Dörfern zusammenwohnen, ist die Durchführung dieser Sitte leicht, und wir halten ihren Mangel für einen der größten Nachtheile der Vereinzelung unserer feldbauenden Bevölkerung, – eine Vereinzelung, in welcher auch der Grund liegt, warum wir nie zu den mancherlei Zügen jenes geselligen Verkehrs gelangen können, die dem Leben mehr oder weniger poetischen Reiz verleihen. Glücklicherweise gibt es übrigens andrerseits bei uns Vortheile, die den vorerwähnten mehr als aufwiegen, wie dieß überhaupt bei den meisten ähnlichen Anomalieen in unseren Gebräuchen der Fall seyn möchte.

Die Einrichtung einer Benedictiner-Kapelle, die Verzierung ihrer Altäre und die Art, wie die Mönche ihre Stühle im Chor einzunehmen pflegten, sind schon zu oft auf diesen Blättern erwähnt worden, um hier einer Wiederholung zu bedürfen. Längst an dergleichen Uebungen gewöhnt, hatten sich die Conventualen früh an ihren Plätzen eingefunden, während dagegen diejenigen, für welche die Messe gelesen werden sollte, nicht ganz so pünktlich waren.

Ulrika, Lottchen und die übrigen Frauenspersonen traten mit einander in die Kirche; die Männer aber kamen zuletzt, wie es gewöhnlich in Dingen der Fall ist, welche die zarteren Gefühle berühren. Als endlich Emich und der Bürgermeister mit ihren Begleitern erschienen, sprach sich in ihrer trägen Haltung unverkennbar aus, daß sie versucht hatten, die Wirkungen des letzten Gelags wegzuschlafen und sich von ihrer Ermüdung zu erholen. Während der Messe zeigten die Begleiterinnen Lottchens und Ulrikas eine musterhafte Andacht und große Aufmerksamkeit auf den Gottesdienst, während das Gähnen des Grafen und seiner Genossenschaft ihre unsteten Blicke und schließlich der tiefe Schlummer einiger der Männer hinreichend bekundete, daß der ätherische Theil ihres Wesens ganz und gar außer Stande war, über den materiellen Herr zu werden. Es folgte nun eine Procession aus dem Chor nach dem Heiligthume und man betete wie am vorigen Tage, die Augen auf das überirdische Antlitz der heiligen Jungfrau geheftet. Da es Jedem überlassen blieb, die Art, wie er seine besondern Obliegenheiten verrichten sollte, für sich selbst zu beurtheilen, so zeigte sich ein sehr merklicher Unterschied in der Zeit, welche von den verschiedenen Pilgern auf die Erfüllung der gemeinsamen Gelübde verwendet wurde. Die Frauen schienen sich mit dem Steine zu verkörpern, und es vergingen ganze Minuten, während welcher ihre regungslosen Gestalten fast eben so unbelebt erschienen seyn würden als das Bild, das sie anschauten, wenn nicht je zuweilen ein Sichheben der Brust oder ein gelegentliches Zittern das Schaffen des Geistes im Innern angezeigt hätte. Meta knieete zwischen ihrer Mutter und Lottchen, augenscheinlich mit voller Seele in ihre Andacht vertieft. Als ihr Blick an dem glänzenden Auge haftete, das aus der Tiefe der geheimnißvollen Kapelle, erhellt von den prächtigen und wohl angebrachten Lampen, auf sie niederstrahlte, wandelte ihre Phantasie das Bild in ein Wesen um, das durch die Wahl Gottes geheiligt und gesegnet war, und ihr edler Geist hielt an der Täuschung als an einer Hoffnungsfülle fest, die ihr Trost brachte in der eigenen Verlassenheit. Sie dachte an die Zukunft und an das Grab – an die Belohnung der Gerechten und an den Himmel, an die endlose Ewigkeit und ihre Wonne, der sie mit Zuversicht entgegensah, so daß die Erdenbande für sie immer lockerer zu werden begannen. Sie fühlte ein heiliges Verlangen, einzugehen in die Ruhe. Aber ungeachtet dieser ihrer geistigen Erhebung mischte sich doch die Gestalt Berchtholds im schmucken grünen Förstergewande, lachenden Auges, leichten Schritts und mit heiterer Stimme in alle Bilder ihrer Einbildungskraft. Das einemal erschien er ihr als ein bärtiger Heiliger in wallenden Gewändern, wie sie dieselben in Bildern und Statuen zu sehen gewohnt war, aber dennoch durch einen Widerspruch, den ihr Herz darein verflocht, stets schön und jugendlich; ein andermal dachte sie sich ihn mit Schwingen begabt, wie er sich den Wesen jenes himmlischen Chores anschloß, von dem so viele Abbildungen zwischen dem Dach und dem Pflaster des Gebäudes umherhingen. Es mag wohl manchem unserer Leser sonderbar erscheinen, aber das Schaffen ihrer Einbildungskraft war in diesem ergreifenden Augenblicke so rege und lockend, daß die trauernde, liebevolle Jungfrau selten eine Stunde in heiligerer Wonne verlebt hatte, als die war, welche sie vor dem Heiligthume unsrer lieben Frau von Einsiedeln verbrachte.

Ganz anders waren Lottchens Gefühle, denn an ihrem Schmerz nahm die Phantasie keinen Antheil. Sie weinte um das Kind, dem sie das Leben gegeben, um die Stütze ihres Alters und um den Stolz ihres Daseyns. Die Einbildungskraft der Mutter ließ sich nicht durch Phantasieen täuschen, und keine geistige Thätigkeit war im Stande, die traurige Wirklichkeit in etwas Anderes zu verkehren, als in die bittere Wahrheit. Dennoch fand Lottchen Trost in ihren Gebeten. Der religiöse Glaube war in ihr thätig, obschon die Einbildungskraft schlummerte; denn nichts kann verschiedener seyn, als die Truggebilde der einen und die tiefe, festgewurzelte Ueberzeugung des andern. Sie fühlte sich fähig, Trost für ihren Schmerz darin zu finden, daß sie mit ruhiger, christlicher Hoffnung nach dem Jenseits blickte.

Ulrikas Empfindungen unterschieden sich von denen ihrer Freundin nur dem Grade nach und durch die Eigenthümlichkeit der Umstände, welche ihre mütterliche Sorge einem noch lebenden Wesen zuwandten. Dennoch hatte sie mit ihrem wohlwollenden, treuen und warmen Herzen den Verlust Berchtholds schmerzlich gefühlt, da er ihr nicht gleichgültig seyn konnte, selbst wenn kein anderer Beweggrund obgewaltet haben würde, als daß er der Sohn ihrer Freundin war. Sie hatte sich jedoch noch außerdem seit Jahren daran gewöhnt, ihn mit ihrer Meta vereinigt zu sehen, und empfand deshalb seinen Verlust fast so schmerzlich, als wenn sie über der Leiche ihres eigenen Kindes hätte trauern müssen.

Nicht so erging es Heinrich. Die kühne muthige Unterstützung, die ihm Berchthold während des Angriffs geleistet, hatte dem Jüngling um der Geistesverwandtschaft willen, die unter den Tapferen ein kräftiges Band bildet, seine Achtung gewonnen; indeß war der Bürgermeister sein Lebenlang zu sehr von der Alles verdrängenden und unheilbaren Leidenschaft der Erwerbsliebe umgarnt gewesen, um alle seine Plane und Entwürfe, einzig auf den Antrieb eines rein edelmüthigen Gefühls hin, bei Seite zu werfen. Er würde dem Jüngling gerne etwas von seinen vielgeliebten Schätzen abgegeben haben, aber Meta war in seinen Augen Alles, und seiner Betrachtungsweise zufolge mußte es ihm scheinen, er verschleudere sein Gold, ohne einen gleichen Werth dafür zu erhalten, wenn er die Hand seiner Tochter einem Mann ohne Vermögen gebe. Manche sammeln Schätze um der Vortheile willen, die sich an den Reichthum knüpfen, Andere scharren zusammen unter dem Sporne einer gedankenlosen und fast unerklärlichen Leidenschaft, während wieder Andere ihre Mittel aufhäufen, wie Knaben ihre Schneemänner – einfach, weil es ihnen Freude macht, zu sehen, welch' eine große Masse sie durch ihre Thätigkeit zusammenbringen können. Heinrich gehörte unter die letztere Klasse, fand übrigens doch auch ein Behagen an den allgemeinen Resultaten des Reichthums und war, gleich Allen, welche das Geld als Zweck, nicht aber als Mittel betrachten, gewöhnt, die letzte Maßregel seiner Politik, welche den Vorrath durch eine gute Verheirathung seiner Tochter verdoppeln sollte, als den erfreulichsten und größten Handstreich eines glücklichen und gedeihlichen Lebens zu betrachten. Und doch hatte Heinrich Frey seine Augenblicke, in denen sich das natürliche Gefühl stark aussprach, und die Art, wie Meta um Berchtholds Tod trauerte, ergriff ihn in einem Grade, daß er fast geneigt gewesen wäre, zu sagen, er beklage das Geschick seines jungen Lieutenants eben so sehr um ihrer, als um seiner selbst willen. Es ist übrigens mehr als wahrscheinlich, daß der Bürgermeister alsbald zu seiner frühem Denkweise zurückgekehrt seyn würde, wenn Berchthold plötzlich hätte wieder in's Leben gerufen werden können; denn war in einem solchen Falle nicht die Wiedererweckung des jungen Försters an sich schon zureichend, den Schmerz einer ganzen Familie zu lindern?

Heinrich und der Graf gehörten unter die Ersten, welche ihre bittende Stellung vor dem Heiligthum aufgaben. Sie hatten die ihnen auferlegte Anzahl von Gebeten gesprochen, stäubten ihre Kniee ab und gingen dann gleich Männern, die mit sich selbst wohl zufrieden sind, nach dem Kirchenschiffe zurück. Aber obgleich der Bürgermeister so bereitwillig war, seinen eigenen Knochen Erleichterung zu gönnen, hielt er doch ein wachsames Auge auf Dietrich, von dem er, als von einem gedungenen Bußgänger, verlangte, daß er Dürkheim in Kasteiungen und Aves für das bezogene Geld volle Gegenleistung zahle. Die meisten Kerzen im Chor waren ausgelöscht und die Gänge nur durch einige Lampen, die fast ohne Unterlaß vor den Altären etlicher untergeordneter Kapellen brannten, düster beleuchtet. Während sie den Hauptgang hinunterschritten, legte Emich langsam eine Hand auf die Schulter seines Begleiters, als wolle er denselben durch die ernste und bedeutungsvolle Weise dieser Geberde zu gespannter Aufmerksamkeit auffordern.

»Es wäre mir doch lieb, wenn unserem armen Berchthold von diesen Dienern unserer Frau von Einsiedeln Messen zu Gute kämen,« begann der Graf. »Wenn in solchen Gebeten überhaupt eine besondere Kraft liegt, so muß dies vornämlich der Fall seyn, wenn sie von Männern gesprochen werden, welche die Hüter eines Heiligthums sind, von dem man sich alle diese Wunder erzählt.«

»Euer Wunsch, hochgeborner Mitwallfahrer und Freund, ist nur der Ausdruck meiner eigenen Herzensgedanken. Offen gestanden, ich habe, als ich meinen Rosenkranz abzählte, an wenig Anderes gedacht, als wie sich's anfangen ließe, den hochwürdigen Herrn Abt gegen einen vernünftigen Preis zur Sinnesänderung zu bewegen, damit er der Seele des armen Jungen die Wohlthat seiner Fürbitte ehrlich zu Gute kommen lasse.«

»Dann hast Du keinen sonderlichen Bedacht auf das genommen, was Dich selbst hieher geführt hat, Freund Heinrich.«

»Sapperment, was verlangt Ihr von einem Mann in meinen Jahren und von meiner Erziehung, Herr Emich? Man wird durch das ofte Wiederholen der Worte so an sie gewöhnt, daß das Herbeten der Aves ungefähr ebenso ist, wie wenn man mit den Fingern trommelt, während das Auge eine Rechnung überfliegt. Um übrigens wieder von dem jungen Menschen zu reden – wollten wir für die Messen ein höheres Angebot thun, so könnte dies den gegenwärtigen Preis nur steigern, und wir würden nutzlos in Schaden kommen; denn wie ich die Sache verstehe, kann die geleistete Zahlung in keiner Weise den wahren Werth der Fürbitte für den Verstorbenen ändern.«

»Heinrich,« entgegnete der Graf gedankenvoll, »wie ich höre, erklärt jener Bruder Luther dergleichen Gebete nach dem Tode für eitel und unnütz.«

»Das würde die Sache sehr ändern, gnädiger Herr Graf und Mitwallfahrer. Wer nur in einer so verfänglichen Sache Gewißheit hätte – denn wenn der Mönch von Wittenberg das Recht auf seiner Seite hat, so verlieren wir unser Geld umsonst; ist er aber im Unrecht, so würde die Seele des armen Berchthold um unserer Zweifel willen nicht besser fahren.«

»Wir Laien sind in schwerer Klemme zwischen diesen beiden Ansichten, würdiger Bürgermeister, und ich möchte wünschen, daß diese Reformatoren die Frage zu einer schleunigen Entscheidung brächten. Bei der Messe! Es gibt Augenblicke, in welcher ich gerne den Rosenkranz wegwerfen und mich der Ansicht Friedrichs von Sachsen zuwenden möchte, die mir die vernünftigste und männlichste scheint. Hätte er aber Unrecht, so weißt Du wohl, Heinrich, daß uns der Vortheil der gebauten Kapellen, der gesprochenen Aves, des oft bezahlten Goldes und des hohen Schutzes von Rom entgeht. Du siehst die Noth des armen Berchthold – und dies alles wegen einiger freien Reden.«

Heinrich seufzte, denn er fühlte den ganzen Nachdruck dieser Verlegenheit, und schien sich besinnen zu wollen, ehe er antwortete. Dann schmiegte er sich näher an den Grafen, gleich einem Manne, welcher fühlt, daß er im Begriffe ist, in einer verfänglichen Lage eine gefährliche Aeußerung zu wagen, und gab seine Erwiederung in Flüstertönen ab.

»Herr Graf,« sagte er, »wir sind nur Staub und noch obendrein Staub von nicht sehr vortrefflicher Qualität. Die Töpferwaare hat ihren Nutzen, wenn sie gut gebrannt und anderweitig passend zubereitet ist; aber wozu taugt ein Mensch, wenn ihn der Athem verlassen hat? Es heißt zwar, die Seele bleibe leben, – und man müsse für sie sorgen. Ich will weder das eine noch das andere in Abrede ziehen; aber ist es vernünftig, mit klingelndem Geld ein Erlösungspatent zu kaufen für etwas Ungreifbares? Sehe man dort jenen Spitzbuben, den Schmied! – Vergebt, hochgeborner Graf – aber unsere Stadt hat den Galgenstrick gedungen, für sie Buße zu thun, und kaum sind meine Augen von ihm abgewandt, so werden seine Lippen so unbeweglich, wie die Flügel einer Windmühle in ruhiger Luft. Meine Pflicht gegen Dürkheim fordert, daß ich ihm einen Rippenstoß gebe; dann wollen wir, mit Eurer Gnaden Wohlnehmen, tiefer in die Philosophie unsers Vorhabens eingehen.«

Nach diesen Worten eilte Heinrich mit lobenswerther und ernster Aufmerksamkeit für die Interessen seiner Mitbürger den Gang hinab und auf den religiösen Miethling zu, den er vollkommen unbeweglich fand; auch bedurfte es wiederholten nachdrücklichen Rüttelns, bis es ihm gelang, den Schmied aus einem tiefen Schlummer zu wecken.

Mittlerweile ging Emich weiter, noch immer mit seinen Gedanken beschäftigt. Er hatte das Gitter des Chors erreicht, und war eben im Begriffe, wieder umzuwenden, als ihm eine dunkle Gestalt, die an der Seite der Thüre erschien, näher zu kommen winkte. Emich leistete Folge und fand, daß sein alter Nebenbuhler Bonifacius seine Ankunft erwartete.

Die Begrüßung dieser beiden alten Feinde war höflich, aber abgemessen. Nach kurzer Verhandlung jedoch zogen sie sich in Gemeinschaft zurück, und es war schon heller Tag, ehe sich der Graf von Hartenburg wieder unter den Pilgern zeigte. Die Einzelnheiten dessen, was in dieser geheimen Besprechung vorfiel, kamen nie vor die Oeffentlichkeit, obschon spätere Ereignisse Grund geben zu glauben, daß sie Beziehung hatte auf die endliche Schlichtung des langen Streits über den Fortbestand Limburgs im Jägerthal. In der Abtei war allgemein bekannt, daß der Abt Rüdiger an der Verhandlung Theil genommen hatte und das Ergebnis ein freundliches war. In späteren Tagen wurde von Leuten, die in ihren Forschungen tiefer gingen, angedeutet, daß in diesem Streite, wie in den meisten anderen, in welchen der Schwache und Demüthige sich an die Ansichten der Großen und Starken lehnt, diejenigen, für welche die Schlacht gefochten wurde und deren augenfällige, unversöhnliche Feindschaft Zwietracht unter ihren Anhang gesät hatte, plötzlich Mittel gefunden hatten, ihren gegenseitigen Groll zu beschwichtigen und den von ihnen erhobenen Sturm, in einer Weise zu bannen, daß die Folgen meistens auf die Häupter ihrer Verbündeten fallen mußten. Dieses Endergebnis, welches in den meisten Fällen alle diejenigen trifft, die so unklug waren, sich unauflöslich mit Freunden zu verbünden, in deren Hände man sein Geschick unbedingt geben muß, war vielleicht vorauszusehen; denn wenn ein Mann oder eine Gemeinschaft schwach genug ist, allzu rückhaltlos auf die Treue der Mächtigen zu bauen, dürfen sie vornweg (mögen sie nun als Individuen oder als Nationen in Betracht kommen) sich als Werkzeuge zu Förderung von Planen ansehen, die wenig mit ihren eigenen Interessen zusammenhängen. In solchen Fällen theilen die Menschen gewöhnlich das Schicksal der Orangenschaale, welche, wenn sie ausgedrückt ist, weggeworfen wird, während vielleicht ganze Gemeinschaften denselben Wechsel zu erleiden haben, der einem Rennpferde zu Theil wird: man hätschelt und liebkost es Anfangs, spannt es sodann an die Deichsel, und das Ende seiner Laufbahn ist gemeiniglich der Pflug.

Während Bonifacius und Emich ihren geheimen Vertrag in einer Weise abschloßen, wie Ersterer ihn bei dem dermaligen Zustande Deutschlands nicht besser erwarten konnte, während zugleich auch der Letztere befriedigt wurde, nahmen die Sühnungsfeyerlichkeiten ihren Fortgang. Aus seinem Schlafe aufgestört, bemühte sich Dietrich, die verlorene Zeit durch erneuten Eifer wieder einzubringen, und der Bürgermeister selbst, welcher fürchtete, die Nachlässigkeit des Miethlings könnte Unglück über die Stadt bringen, schloß sich der Partie mit so viel Emsigkeit an, als habe er bis jetzt noch gar nichts zu Erreichung ihres Wallfahrtszweckes gethan.

Die Sonne hatte sich schon weit gegen Westen gesenkt, als die Pilger wieder ihre Wanderung nach der Pfalz antraten. Pater Arnolph stellte sich abermals an ihre Spitze, und sowohl von dem Abt gesegnet, als wieder in Gnaden bei der Kirche, ging der ganze Zug, wenn auch nicht mit erleichterten Herzen, so doch mit erfrischten Körpern, neu erwachter Hoffnung und wesentlich verkleinerten Päcken seines Weges.

Als sie das Ende der Ebene erreichten, wo sie noch einmal die Abtei überblicken konnten, machten Ulrika und Lottchen Halt. Die beiden Frauen, Meta und überhaupt die meisten Theilnehmer an dem Pilgerzuge beteten hier lange und brünstig – oder schienen es wenigstens zu thun. Nachdem sie sich wieder von ihren Knieen erhoben hatten, näherte sich der Prior, der die ganze Zeit seines Aufenthalts im Kloster religiösen Uebungen geweiht und für seinen Geist eine Erfrischung geholt hatte, welche im Verhältniß zu der Aufrichtigkeit seines Glaubens stand – mit Blicken, die von heiliger Hoffnung strahlten, und einem Antlitze, das den inneren Frieden seiner Seele wiederspiegelte – der Hauptgruppe der Frauen.

»Meine Töchter,« begann er, »wir sind jetzt im Begriffe, für immer von dem Heiligthume unserer lieben Frau von Einsiedeln Abschied zu nehmen. Wenn ihr etwas gesehen habt, was geeignet wäre, der hohen Erwartung, mit welcher sich die frommen Gläubigen diesem geheiligten Altar zu nähern pflegen, Abbruch zu thun, so schreibt es auf Rechnung der Gebrechlichkeit, welche von der menschlichen Natur nicht zu trennen ist, und habt ihr aus euern Opfern und Gebeten Trost und Ermuthigung gewonnen, so mögt ihr dies mit Zuversicht der Güte Gottes beimessen. Und Du, mein Kind,« fügte er mit väterlicher Zärtlichkeit gegen Meta bei – »Du hast schon schwere Prüfungen erstanden in Deinem jungen Leben; aber Gott ist mit Dir eben so gut, als er in jenem blauen Himmelszelt, in jener Sonne geschmolzenen Goldes, in jenen Eismassen, die sich gen Himmel aufthürmen, und in allen seinen Werken ist, die unseren Augen so herrlich erscheinen. Wende Dich mit mir nach jenem Berge, der von seiner Gestalt den Namen ›Insul‹ trägt. Betrachte ihn wohl – siehst Du nichts Besonderes daran?«

»Es ist eine schroffe, traurige Felsmasse, Vater,« antwortete Meta.

»Bemerkst Du sonst nichts – dort auf dem höchsten Gipfel?«

Meta schaute aufmerksam hin, denn in Wahrheit schien sich auf der obersten Spitze ein Gegenstand zu befinden; er war aber so klein und sah so sehr einer Linie gleich, daß sie Anfangs mit der Hand über ihr Auge fuhr, um etwa ein fliegendes Haar zurückzustreifen.

»Vater,« rief das Mädchen, ihre Hände zusammenschlagend, »ich erblicke ein Kreuz.«

»Dieser Fels ist ein Bild von Gottes ewiger Gerechtigkeit – jenes Kreuz das Unterpfand seiner Gnade und Liebe. Geh Deines Weges, meine Tochter, und halte an der Hoffnung.«

Die Pilger wandten sich um und stiegen in gedankenvollem Schweigen den Berg hinan. Noch am nämlichen Abende setzten sie über den See und übernachteten in den alten Mauern der romantischen Stadt Rapperschwyl. Am folgenden Morgen brachen sie, da die Wallfahrt jetzt glücklich vollendet war, weiter nach ihren fernen Wohnstätten auf und fuhren in Booten den Rhein hinab.



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