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Das Leben in Wildenfels ging scheinbar seinen alten Gang. Der eigentliche Herr von Wildenfels war nun Lothar, aber bis zu seiner Mündigkeit war er unter die Vormundschaft seiner Mutter gestellt.
Gräfin Thea und ihre Schwiegertochter hatten einige Konferenzen mit dem Rendanten und den Verwaltern. Es waren erprobte Leute, die in ihrem Amte verblieben. Es würde alles seinen geregelten Gang gehen. Die Vermögensverhältnisse waren glänzend. Nicht nur, daß die ausgedehnten Güter bedeutende Einkünfte brachten, es lag auch ein großes Barvermögen in der Schatzkammer des Schlosses, wohlverborgen, in sichern Papieren angelegt. Gräfin Thea besaß allein ein eigenes Vermögen von anderthalb Millionen Mark. Ihre Schwiegertochter hatte allerdings kein nennenswertes Heiratsgut eingebracht, aber als Witwe des Grafen Wildenfels bezog sie ein glänzendes Einkommen. Lothar würde einst der Herr eines ausgedehnten Besitzes und eines großen Vermögens sein. Aber damit begnügte sich Gräfin Susannes Ehrgeiz noch nicht. Sie strebte danach, ihren Sohn draußen in der großen Welt eine Rolle spielen zu sehen. Deshalb bestimmte sie, daß er sich der diplomatischen Laufbahn widmen sollte.
Es war ihr unangenehm, daß ihr verstorbener Gatte den Kandidaten Wetzel für Jahre hinaus zum Lehrer und Erzieher Lothars bestimmt hatte. Wetzel war ihr zu selbstbewußt, seine aufrechte Art und sein freier Ton erschienen ihr zu demokratisch, sie hätte ihn gern von Wildenfels entfernt. Aber neben ihres Mannes Bestimmungen hielt ihn auch noch die Vorliebe ihrer Schwiegermutter, die »merkwürdig milde« über den »Demokraten« urteilte und ihn mehr als nötig zur Familie hinzuzog.
Als Susanne ihr eines Tages sagte:
»Es ist mir unangenehm, in so intime Berührung mit dem Kandidaten zu kommen,« hatte Gräfin Thea mit ihrem unerträglich ruhigen Blick erwidert: »Ich meine im Gegenteil, wir müssen uns so familiär wie möglich mit ihm stellen, denn er hat Geist und Seele deines Kindes in seinen Händen – er darf uns nicht nur ein bezahlter Untergebener sein.«
Damit war Susanne ein für alle Mal zum Schweigen gebracht. Aber im stillen war ihr der Kandidat sehr [zuwider], weil er Lothar stets darauf hinwies, daß es viel mehr sei, ein guter, tüchtiger Mensch zu sein, als ein Graf Wildenfels. –
Es war eine Woche seit Graf Joachims Beisetzung vergangen, als die beiden Damen mit Lothar nachmittags den Tee auf der Terrasse einnahmen. Die Türen zu den reich und vornehm ausgestatteten Räumen standen alle offen, um der warmen Sommerluft Einlaß zu gewähren. Sie mündeten alle auf die große Terrasse, welche die ganze Front des Schlosses begrenzte.
Die Damen sprachen nur wenig miteinander. Lothar hielt die Hand seiner Großmutter fest in der seinen und streichelte sie zuweilen, als müsse er sie trösten.
Susanne bemerkte es, aber es tat ihr nicht weh. Sie war nicht für Zärtlichkeiten eingenommen.
Nach einer ziemlich langen Gesprächspause sagte Gräfin Thea plötzlich:
»Ich reise morgen vormittag nach Berlin, Susanne – hast du irgend etwas zu besorgen?«
Susanne sah erstaunt auf.
»Du – nach Berlin, Mama, jetzt mitten im Sommer?«
Gräfin Theas Stirn rötete sich ein wenig unter dem kalt forschenden Blicke.
»Ja, ich habe einige Besorgungen zu machen,« sagte sie ruhig.
»Nimm mich mit, Großmama,« bat Lothar.
»Nein, mein lieber Junge, diesmal nicht. Ich habe auch nur zwei Tage dort zu tun.«
»Soll ich dich begleiten, Mama? Du bist so angegriffen jetzt, es könnte dir etwas zustoßen,« sagte Susanne eifrig. Eine Reise nach Berlin hätte immerhin einige Abwechslung gebracht.
»Nein, nein, Susanne, ich danke dir. Grill begleitet mich, das genügt. Ich fühle mich auch körperlich kräftig genug. Bleib du nur lieber bei Lothar.«
»Mein Gott, Mama, er ist doch wahrlich alt genug, um einmal ein paar Tage allein in Wildenfels zu bleiben,« rief Susanne ärgerlich.
»Das wohl, Susanne. Aber bedenke, was jetzt Furchtbares auf ihn eingestürmt ist. Es ist mir lieber, du bleibst bei ihm.«
»Ich hätte aber auch allerlei in Berlin zu besorgen.«
»Dann kannst du vielleicht reisen, wenn ich zurück bin.«
Das war Susanne noch lieber. Sie war sehr zufrieden, daß sie nun einen Vorwand hatte, einige Zeit nach Berlin zu reisen.
Nachdem die Damen den Tee eingenommen hatten, forderte Susanne ihren Sohn zu einem Spaziergange auf. Er erhob sich sofort artig. Aber dann umfaßte er erst zärtlich Gräfin Theas Hals.
»Willst du nicht mitkommen, Großmama?«
»Nein, Lothar, ich habe noch einiges vorzubereiten für die Reise!«
»Aber ich darf doch nachher noch zu dir kommen?«
»Gern, mein Lothar.«
Mutter und Sohn schritten hinüber nach dem Parke. Lothar unterhielt sich artig mit seiner Mutter, aber es war mehr die konventionelle Plauderei zweier Menschen, die einander fernstehen, nicht ein herzliches Gespräch zwischen Mutter und Sohn.
Gräfin Thea hatte sich hinaufbegeben in ihre Zimmer. Im Vorraume saß Grill mit einer leichten Näharbeit beschäftigt.
»Bist du bald fertig, Grill?« fragte die Gräfin.
Grill hob das gutmütige Gesicht und blickte ihre Herrin über die Brillengläser hinweg an.
»Nur noch ein paar Stiche. Haben Frau Gräfin einen Befehl für mich?«
»Ja, Grill. Wenn du fertig bist, komm herein zu mir.«
Sie betrat ihr Wohnzimmer. Grill sah mit besorgtem Ausdrucke hinter ihr her und seufzte tief auf. Die treue Seele trug ihren Anteil am Leide ihrer geliebten und verehrten Herrin.
Eilig beendete sie ihre Arbeit an einem Garderobestücke Gräfin Theas. Dann trug sie es hinüber in deren Ankleideraum und verwahrte es in einem der großen Wandschränke. Sorgsam entfernte sie ein paar schwarze Fädchen von ihrer Schürze und ging hinein in das Wohnzimmer.
Gräfin Thea saß an ihrem Schreibtische, über dem das Bild ihres Sohnes hing. Sie hatte das Schmuckkästchen vor sich liegen, welches sie der Kassette entnommen hatte, die ihr Graf Joachim in seiner Sterbestunde übergeben hatte. Die Kassette hatte sie noch in derselben Nacht in ihrem Schreibtische verschlossen.
Als Grill eintrat, schreckte Gräfin Thea aus tiefem Sinnen auf.
»Komm einmal her zu mir, Grill,« sagte sie erregt.
Grill tat, wie ihr geheißen wurde.
»Frau Gräfin befehlen? Mein Gott – sind Frau Gräfin nicht wohl?«
»Nur ein wenig unruhig und erregt, Grill. Du sollst gleich erfahren, warum.«
Sie sah empor in das treue Gesicht ihrer Dienerin.
»Du bist alt geworden in meinen Diensten, liebe Grill, und warst mir immer treu ergeben. Weißt du noch, wie du vor vielen Jahren hierherkamst?«
Grill nickte. Die Augen wurden ihr feucht.
»Ich weiß es noch genau – es war auch so ein schöner klarer Sommertag. Und Frau Gräfin waren damals eine wunderschöne junge Dame und der hochselige Graf Joachim trug ein weißes Kittelchen mit einem breiten Spitzenkragen. Er lachte mich freundlich an und Frau Gräfin waren so gütig, daß ich mir gleich ein Herz faßte.«
Gräfin Thea nickte wehmütig.
»Ja – damals waren wir jung und hoffnungsfroh und wußten nichts von dem, was uns die Zukunft brachte. Nun – wir haben auch glückliche Tage zusammen verlebt, so müssen wir auch die unglücklichen mit Würde tragen.«
Grill zog schnell die Hand der Gräfin an ihre Lippen. Eine Träne fiel darauf nieder. Sie wischte sie schnell mit der Schürze ab.
»Laß doch die Träne, gute Grill – ich weiß, sie kommt aus redlichem Auge. Alte treue Seele, ich hoffe, der liebe Gott läßt dich mir bis zu meinem Ende. Aber ich wollte von etwas anderem mit dir reden. Grill – kannst du dich noch auf den Rendanten Horst besinnen?«
Grill nickte lebhaft auf.
»Ganz genau, Frau Gräfin – ganz genau. Er war ein aufrechter, stattlicher Mann und hatte eine liebe freundliche Frau. Und das Töchterchen erst – das Fräulein Annie – das war ein schönes Mädchen – so ein liebes goldiges Ding.«
Die Gräfin nickte.
»Ein süßes, blondes Kind.«
Grill war durch den Zwischenruf verstimmt und sah nun ein wenig unbehaglich aus.
»Frau Gräfin verzeihen – ich – ich sollte wohl nicht so von den Leuten sprechen. Ich hatte fast vergessen, was mir Frau Gräfin damals anvertraut hatten. Kein Mensch hatte ja von Herrn und Frau Gräfin mehr erfahren, als mein seliger Grill und ich. Wir haben es auch keinem Menschen weiter gesagt, obwohl sich alle wunderten, daß der Rendant mit seiner Familie so schnell von Wildenfels fortmußte. Es war auch gar so schwer, etwas Schlimmes zu glauben von dem Rendanten. Aber freilich – es mußte ja wahr sein. Und unser alter hochseliger Herr Graf war ein sehr gerechter Mann, wenn er auch sehr streng sein konnte. Ein anderer hätte wohl noch schlimmere Strafe über den Rendanten verhängt.«
Gräfin Thea hatte den Kopf in die Hand gestützt und seufzte tief auf.
»Erzähle mir doch einmal, wie es kam damals – daß wir das – das Halsband vermißten, ich kann mich nicht mehr so recht besinnen,« sagte sie leise.
»Oh, ich weiß es noch ganz genau. Frau Gräfin hatten das Halsband einige Wochen vorher getragen und da es ein bißchen eng war, hatten Frau Gräfin Kopfweh davon bekommen. Frau Gräfin klagten darüber, als ich es abnahm und zu den übrigen Schmucksachen legte. Ich weiß es noch ganz genau, der hochselige Graf Joachim waren zugegen und Frau Gräfin sagten ärgerlich: »Nie wieder trage ich dies dumme Halsband, das mir soviel Unbehagen schafft.« Nachher haben es Frau Gräfin selbst mit den übrigen Schmucksachen in das Rentamt getragen, damit es verschlossen wurde in den eisernen Schrank. Einige Wochen später sagten Frau Gräfin zu mir: »Grill, es ist doch zu ärgerlich, daß ich das Halsband nicht mehr tragen soll, ich mag es sonst so gerne. Weißt du, ich werde es mir einfach weiter machen lassen. Vielleicht kann der Juwelier etwas einsetzen. Geh zum Herrn Rendanten und bitte es dir aus.« Ich ging sofort ins Rentamt und richtete dem Rendanten den Auftrag der Frau Gräfin aus. Frau Gräfin können mir glauben, er war nicht die Spur verlegen, machte noch sein Späßchen mit mir und schloß den Schrank auf. Aber das Halsband war verschwunden. Wir suchten den ganzen Schrank durch – vergeblich. Ich gehe also zurück und melde es Frau Gräfin. Gleich darauf kam Rendant Horst selbst. Er war sehr bleich und aufgeregt. Ich mußte den Herrn Grafen holen und hörte von draußen noch lange erregte Stimmen. Der Herr Graf ging dann mit hinüber ins Rentamt. Da sind wohl die Schlösser genau untersucht und noch einmal das unterste zu oberst gekehrt worden. Aber das kostbare Halsband blieb verschwunden. Es hatte wohl an die fünfzigtausend Mark gekostet. Da nun kein Einbruch vorliegen konnte und nur der Herr Graf und der Rendant Schlüssel hatten, so war kein Zweifel mehr, daß der Rendant Horst das Halsband entwendet hatte. Und er mußte fort, der Herr Graf meinten, in einem solchen Amte könne er nur einen Mann gebrauchen, der über jeden Zweifel erhaben sei. Na ja – das muß wohl auch sein. Aber lieber Gott – ehrlicher als der Rendant Horst hat nie ein Mensch ausgesehen.«
Gräfin Thea hatte schweigend, den Kopf in die Hand gestützt, zugehört. Nun hob sie das blasse Gesicht langsam empor, es war starr und schmerzzerrissen. Sie faßte der Dienerin Hand.
»Grill – Rendant Horst ist auch, allem Schein zum Trotz, ein ehrlicher Mann gewesen. Da – schau her.«
Sie öffnete mit zitternden Händen das Kästchen und hielt es ihr hin.
Grill stieß einen leisen Schrei aus.
»Das Halsband – Frau Gräfin – meiner Seel – das ist ja das verschwundene Halsband.«
Die Gräfin nickte und sah mit gramvollen Augen auf das blitzende Geschmeide.
»Ja, Grill – das verschwundene Halsband. Horst ist mit Unrecht aus seinem Dienst entlassen worden. Ich« – sie zögerte einen Augenblick und ihr Gesicht rötete sich – »ich selbst bin schuld daran. In der Zerstreuung legte ich wohl das Halsband hier in das schmale Fach meines Schreibtisches, das ich sonst nie benutze, und trug nur die übrigen Schmucksachen in das Rentamt. Durch einen Zufall entdeckte ich es heute – nach mehr denn fünfzehn Jahren. Grill – kannst du dir nun meine Erregung erklären? Horst wurde unschuldig entlassen. Ich sehe noch, wie er mit seiner weinenden Frau und Tochter das Rentamt verließ. Er schritt aufrecht und stolz – mein Mann nannte es im Zorne verstockt. Und die blonde Annie – ach, Grill – sie war so blaß und traurig und sah sich mit einem verzweifelten Blicke noch einmal um – so – als warte sie noch auf – auf Hilfe in der Not – ach, Grill!«
Sie lehnte sich mühsam atmend mit geschlossenen Augen zurück. Tränen quollen zwischen den Lidern hervor. Die fromme Lüge war ihr schwerer geworden, als sie selbst sich dachte. Und zugleich kam ihr mit aller Macht die Erinnerung wieder an die letzte Stunde ihres Sohnes und an sein qualvolles Leben.
Grill beugte sich erschrocken über sie.
»Frau Gräfin sollten sich beruhigen. Ein Irrtum kann jedem Menschen begegnen – und das läßt sich wohl auch noch gutmachen. Zum Glück ist ja der Herr Rendant vor Gericht nicht angeklagt worden und sonst hat niemand etwas erfahren.«
Gräfin Thea trocknete hastig die Tränen und richtete sich auf. »Ja, Grill, gut machen will ich. Nicht wahr, das kannst du mir nachfühlen?«
»Will ich wohl meinen. So gut wie Frau Gräfin sind, werden Frau Gräfin sonst keine ruhige Stunde mehr haben. Aber wo mag Horst mit seiner Familie jetzt leben? Ich glaube, er ist damals gar nach Amerika gegangen, weil er fürchtete, hier keine Stelle wieder zu bekommen. Frau Horst hat mir, dächte ich, eine Andeutung gemacht, daß sie sich in Amerika eine Farm kaufen wollten von ihren Ersparnissen.«
Gräfin Thea erhob sich und ging im Zimmer unruhig auf und ab.
»Ich muß sie finden, Grill. Und deshalb will ich morgen nach Berlin reisen. Du sollst mich begleiten. Aber nicht ein Wort darfst du von alledem verraten. Siehst du, Grill, in Berlin gibt es nun einen berühmten Privatdetektiv, ich habe kürzlich erst von ihm gehört. Den will ich sprechen und ihn beauftragen, Horsts Aufenthalt zu ermitteln. Ich habe Wunderdinge von diesem Manne gehört. Meinst du nicht auch, daß es ihm gelingen wird, Horst aufzufinden?«
»Wenn er noch am Leben ist, wird er ihn hoffentlich finden.«
»Und wenn er nicht mehr am Leben wäre – so könnte ich doch an seiner Familie gutmachen. Ach, Grill, du ahnst nicht, wie ich mich danach sehne, es zu tun.«
Grill nickte lebhaft.
»Frau Gräfin haben nie einem Menschen weh tun können.«
Gräfin Thea blieb vor ihr stehen.
»Nun geh, Grill, rüste alles zur Reise. Morgen früh fahren wir nach Berlin.«
»Sehr wohl, Frau Gräfin sollten auch guten Mutes sein. Ein Mensch kann doch nicht so ohne weiteres verloren gehen oder gar eine ganze Familie. Der Detektiv wird es schon herausbringen. Und ich bin so froh, daß der Rendant doch ein ehrlicher Mann war.«
Grill ging hinaus.
Gräfin Thea trocknete sich den Schweiß von der Stirn und trat an ihren Schreibtisch, um das Halsband wieder in die Kassette zu legen. Dann sah sie lange zu dem Bilde ihres Sohnes empor.
»Gut machen will ich, mein Joachim, hundertfältig will ich sie entschädigen, was sie schuldlos erduldet haben. Und dadurch, daß ich den Irrtum auf mich nahm, kann ich den Namen Wildenfels vor einem Flecken bewahren. Gott wird mir helfen zu sühnen,« flüsterte sie vor sich hin. Dann sank sie in den Sessel zurück und barg weinend ihr Haupt in den Händen. Die Tränen lösten endlich die Spannung ihrer Nerven und erleichterten sie.
Kurze Zeit darauf kam Lothar zu ihr.
»Da bin ich schon zurück, Großmama!«
Sie zog ihn in [ihre] Arme.
»Warst nur kurze Zeit mit Mama spazieren?«
»Ja – Mama fand es langweilig im Parke. Und ich bin auch lieber bei dir. Willst du mich wirklich nicht mit nach Berlin nehmen? Wer soll dich denn trösten, wenn du traurig bist?«
»Ich bleibe ja nur zwei Tage, Lothar, und kann dich wirklich nicht gebrauchen. Auch müßtest du zwei Tage den Unterricht versäumen, und das sieht Herr Wetzel nicht gern.«
Lothar setzte sich zu ihren Füßen auf ein Kissen und sah zu dem Bilde seines Vaters auf. Eine lange Pause entstand. Endlich sagte Lothar aus tiefen Gedanken heraus: »Großmama, warum hat Papa nie so fröhlich ausgesehen, wie hier auf dem Bilde?«
Gräfin Thea seufzte leise.
»Damals war er noch jung und sorglos. Später drückte ihn mancherlei.«
Lothar faßte ihre Hand.
»Großmama – ich muß immerfort über die Worte nachdenken, die Papa gesprochen, als ich in der Nacht an seinem Bette stand.«
»Was waren das für Worte?« forschte die Gräfin.
Lothar sah sinnend vor sich hin. Dann sagte er fast andächtig:
»›Sei stark und fest, mein Sohn – und treu dir selbst.‹ So sagte er zu mir. Diese Worte habe ich wohl verstanden und ich will immer daran denken und danach handeln. Aber dann sprach er etwas zu dir über mich.«
»Was meinst du?«
»Er sagte: ›Wenn du das Werk nicht vollenden kannst, Mutter – dann soll Lothar alles wissen – dann soll er gutmachen.‹ Und da wollte ich dich fragen, ob ich dir nicht gleich helfen könnte bei dem Werke, das dir Papa aufgetragen hat?«
Gräfin Thea streichelte sein Haar. Ihr Blick umflorte sich wieder.
»Du bist ja noch ein Kind, mein Lothar.«
»O – ich bin schon sehr verständig, und vielleicht ist es dir allein zu schwer.«
»Nun, ich verspreche es dir, daß ich es dir sagen will, wenn du mir helfen kannst. Jetzt grüble nicht mehr darüber nach, das mußt du mir versprechen. Ein wenig kannst du mir jetzt schon helfen, aber ich fürchte, es ist vielleicht zu schwer für dich.«
Lothar richtete sich auf. Seine Augen blitzten.
»Um so besser – recht schwer soll es sein.«
»Nun also, du sollst gegen jedermann schweigen über diese Worte.«
Lothar sah enttäuscht aus.
»Ach, das ist doch nicht schwer.«
Gräfin Thea lächelte wehmütig.
»Mein lieber Junge – es gibt zuweilen nichts Schwereres, als schweigen. Und es ist sehr viel, was du damit tust. Hörst du, kein Mensch soll von diesen Worten wissen, auch Mama nicht. Es muß wie ein Geheimnis zwischen uns bleiben. Willst du mir das versprechen?«
Lothar nickte energisch und gab ihr mit einer raschen Bewegung die Hand. »Ehrenwort, Großmama!«
Sie küßte ihn, gerührt über seinen jugendhaften Eifer.
»Ich danke dir, mein Kind.«
»Nun?«
»Ich wünschte, du wärest zu schwach, das Werk zu vollenden. Ich möchte selbst furchtbar gern Papas letzten Wunsch erfüllen, weil ich ihm doch nun garnichts mehr zuliebe tun kann.«
»Mein Goldjunge, mein lieber. Werde du nur ein guter, starker Mensch, dann wirst du deinem Vater auch genug Liebe erweisen.«
»Das will ich ganz sicher. Und frage nur den Herrn Kandidaten – er ist jetzt sehr zufrieden mit mir.«
»Das freut mich sehr. Herr Wetzel ist ein prächtiger Mensch, tue nur immer, was er verlangt. Er erzieht dich ganz im Sinne deines Vaters.«
»Aber denke, Großmama, Mama ist garnicht mit ihm zufrieden. Sie sagte vorhin im Parke zu mir, er wäre nicht ehrerbietig genug ihr gegenüber. Kannst du dir so etwas denken?«
Gräfin Thea schüttelte den Kopf.
»Nein. Er ist nur ein aufrechter Mensch, der sich seines Wertes männlich bewußt ist. Mama war wohl nur ein wenig nervös und verstimmt, als sie das sagte,« erwiderte sie und nahm sich vor, ein ernstes Wort mit Susanne zu reden. Mit solchen Ausfällen gegen den Kandidaten Lothar gegenüber untergrub sie nur die Autorität des Lehrers. Das durfte nicht sein.