Felix Dahn
Die Bataver
Felix Dahn

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XIX.

Der Altpriester – der »Sinnist« – trat jetzt vor den Richterstuhl und winkte den Fronboten, die, zwölf an der Zahl, lange Stäbe und starke, aus Weiden gedrehte Schlingen in den Händen, hinter dem Stuhl sich aufgestellt hatten.

Zwei von ihnen – ebenfalls altersgraue Männer – schritten an des Priesters Seite: der eine hob einen vorzeitlichen Rundschild von Auerstierhaut, in der Mitte mit starkem Erzbeschlag gefestigt, am linken Arm in die Höhe: nun führte der zweite mit der Steinspitze eines altertümlichen Speeres drei Schläge auf jenes Erz, daß es weithin dröhnend scholl.

Sofort entstand in dem ganzen Dingkreise lautlose Stille: das begonnene Wort ward nicht zu Ende gesprochen, keine Waffe klirrte mehr.

Der Priester aber hob an:

»Fronboten, ihr freien,
Ihr vor andern seit alters
Kundige Kenner
Des Richtsteigs des Rechtes, –
Fronboten, ich frage:
Weist mir die Wahrheit!
Ziemet die Zeit,
Ein echtes Allding
Der breitbrünnigen Bataver
Und kahnkundiger Kannenefaten
Zu halten und hegen?
Das weiset mir wohl.
Nicht weigert die Wahrheit.«

Da antworteten die beiden ältesten Fronboten, den Schild und den Speer hoch gen Himmel reckend, genau zusammen sprechend wie aus Einem Mund:

»Es taugt der Tag,
Es stimmt die Stunde,
Zu halten und hegen
Ein echtes Allding
Der biedern Bataver und der Blutsbrüder
Und aller andern,
Die da stolz entstammen
Tius dem Tapfern.«

»Warum weiset ihr so? Wißt ihr ein »Weil« eurem Wort?«

Da antwortete der mit dem Schilde:

»Weil gestern ging
Zu Sedel des Sommers selige Sonne.«

Und der mit dem Speere fuhr fort:

»Weil gestern – noch glüht und glimmt
    Die übrige Asche –
Geschichtet in Scheitern
    Ward Paltars prasselnder Brand.«

Und wieder sprach der erste:

»Weil noch klimmt die klare,
    Die sehende Frau Sunna,
Sinthgunds schöne Schwester,
    Weit noch vom Westen,
    Fern ihrem Fall.«

Und der zweite schloß ab:

»Weil gestern gerade der gute,
Der milde Herr Mond
Sich in Fülle vollendet.«

Der Priester aber begann aufs neue:

    »So ziemt denn die Zeit! –
Nun frag' ich euch, freie Fronboten, fürder:
Ist hier der Ort, ein echtes Allding zu öffnen:
    Stimmet die Stätte,
    Ist richtig der Raum?«

Einstimmig gaben die beiden Bescheid:

»Richtig ist der Raum, des Rechtes ein Ring,
Der geweihte Warf
Unter der lieben Frau Linde,
Des hehren Heiligtums,
Schattendem Schutz
Und weithin wogenden Wipfeln.«

Da mahnte der Sinnist:

»So hebet denn hoch
An dem Schafte den Schild,
Des schützenden Schirmes
Gerechten Gerichts
Ziemendes Zeichen
Und blinkendes Bild.«

Die beiden Fronboten schoben den Speer innen durch die beiden Haltriemen des Schildes, knüpften ihn hier mit roten Schnüren fest und stießen dann den hohen Schaft hinter dem Richterstuhl in den weichen moosigen Waldgrund.

Der Priester wandte nun das Gesicht dem Platz des Richters zu und begann:

»Leer noch und ledig
Steht der stolze Stuhl:
Sagt an: wer soll ihn besetzen?«

Da antwortete der erste Fronbote:

»Ihn soll besetzen
Nicht Gunst, nicht Gewalt« –

Der zweite fuhr fort:

»Wen die freudigen Freien
Sich wollen wählen,« –

Und beide zusammen schlossen:

»Der allein ist im Allding
Der rechte Richter.«

Der Priester fragte weiter:

»Nun wohlan, das weiset mir wahrhaft!
Nach welcherlei Recht soll der Richter richten?
Nach Satzung, so Er sich ersann?
Oder nach solcher, so wir selbst uns gesetzt?«

Diese Frage brachte alle zwölf Fronboten in lebhafteste Bewegung: auch die zehn andern traten nun vor, so daß alle in Einer Reihe standen, und drohend, laut sprachen alle zwölf in feierlichem Zusammenklang der zwölf Stimmen:

        »Den ruchlosen Richter
        Selbstersonnener Satzung,
Den Schlauen, Schlimmen – erschlagt ihn
Mit wütenden Waffen,
Den Frevler, euerer Freiheit frechsten Feind,
Richtiges Recht ist allein, was ruhet,
Überkommen von den uralten edlen Ahnen,
In des freien Volkes
Biederer breiter Brust.
Dem Richter reicher Ruhm,
Der daraus schöpft den schimmernden Schatz,
Den quicken Quell,
Den hellen, hochheiligen Hort
Gerechten, richtigen Rechtes! –
Ihm kränzet und krönet mit köstlichem Kraut
Mit Blättern und Blüten
Die strahlende Stirne.
Und Siegvaters Sohn, Forsete selbst,
Der gute Gott gerechten Gerichts,
Setzt ihn auf den Stuhl
Und stärkt ihm den Stab.«

Jetzt schritten alle zwölf Fronboten, die Stäbe wieder senkend, hinter den Richterstuhl zurück.

Der Priester aber sprach:

»So übrigt noch Eines:
Den rechten Richter
Weise zu wählen.
Der Wahl wohl würdig
Erseh' ich vor allen andern Einen:
Häufig schon hielt er
An dieser Stätte den Stab:
Ich nenne den Namen euch nicht:
Sagt ihr mir ihn selbst,
Den Edeling aus eurer alten,
Kühnen Könige
Herrlichem Haus.«

»Civilis! Civilis! Claudius Civilis!« brauste es da durch den ganzen Dingkreis: in dem freudigen Ruf und dem Klirren der zusammengeschlagenen Waffen erstarb das murrende »Nein!« weniger, vereinzelter Stimmen.

Civilis trat aus dem Haufen seiner Gauleute hervor in die Mitte des Kreises – noch ein vergeblicher Blick nach dem Hügel, ein unterdrückter Seufzer –: dann sprach er laut:

»Gewählt ist die Wahl, –
Ich eide euch allen,
Gerecht zu richten,
Haß nicht zu hegen
Und Gunst nicht zu gönnen:
So helfen mir in Walhall die Hohen!«

Da eilten die Fronboten geschäftig auf ihn zu: der erste nahm ihm die Sturmhaube mit dem Einen drohend nach vorn gesträubten Adlerflügel ab und drückte ihm auf das Haupt einen dichten Kranz von großblätterigem Epheu; ein zweiter vertauschte ihm den braunen Kriegsmantel mit dem weitfaltigen des Richters von glänzend weißem Wollzeug, ein dritter drückte ihm den Stab in die Hand und alle vereint gaben ihm das Geleit zu dem Richterstuhl. Bevor er sich niederließ, sprach er: »Sagt mir, ihr Freien, darf diesen Sitz einnehmen, wer gegen einen der Dinggenossen nicht zwar eine Klage zu klagen, wohl aber eine Frage zu fragen hat?«

»Der Richter mag fragen, was und wen er will!« riefen die Fronboten und alle im Umstand stimmten bei.

»Zeit! Aufschub!« sprach Civilis zu sich selbst, indem er sich setzte. »So frag' ich dich – wo bist du? mein Vetter, Cajus Briganticus.«

Da lief ein Schauer der Erregung durch die Hunderte: gar mancher Bataver brach in einen Ruf der Erwartung, auch wohl des Unmuts aus.

Der Gerufene aber trat vor und erwiderte trotzig: »Hier stehe ich, dein Vetter und dein Feind.«

»Ist es wahr,« begann Civilis ruhig, »was mir glaubhafte Nachbarn berichten: du hast deine Kornäcker an der Yssel, uraltes Erbgut unserer Ahnen, die dort zuerst die Eichen gerodet, verkauft an den Getreidehändler aus der Stadt der Ubier, Lucius Longinus?« – »Das hab' ich gethan. Willst du's etwa wehren?« – »Das werd' ich.« – »Dann eile dich,« trotzte höhnend der Jüngling. »Er ist schon eingewiesen in den Besitz.« – »Wird nicht lange darin bleiben. Ich erhebe Beispruch und unterwinde mich des Erbguts: mir, deinem nächsten Schwertmag – nach deinem einzigen Bruder – mußtest du den Vorkauf bieten vor dem Ungesippen, dem Volksfremden. – Doch das gehört vor unser Gauding. Im Allding wollte ich nur allen Heerleuten zeigen, wie du, um schnöden Geldes willen, das uralte Recht unseres Volkes brichst.«

Da trat Julius zornig hervor und an des Bruders Seite. »Wir aber, wir wollen vor dem Allding ein anderes zeigen: unseren Haß, den abgrundtiefen, gegen dich Arglistigen. – Wohl ist die Sippe sonst das heiligste Band – mit ihrem Bruche bricht dereinst die Welt! – Aber an dich gebunden sein – es ist unleidlich! Und so – vor allem Volke! lösen wir, ich und mein Bruder, den Zwang der Sippe, der uns an dich band: als Fremde stehen wir fortab gegen dich, als Feinde, wie Wolf wider Hirsch. Wir verzichten dir gegenüber auf Eigen, Eidhilfe und Erbe, auf Muntschaft, Wergeld und Blutrache.«

Er holte unter dem Mantel mehrere armslange, dünne, noch grün belaubte Erlenäste hervor, gab die Hälfte davon dem Bruder und beide sprachen nun hastig durcheinander, im Zorn, so daß sie nicht, wie es der Brauch vorschrieb, den Zusammenklang der Worte einhielten:

»Wie ich dich breche,
Zähes Gezweig
Der ehrwürdigen Erle,
Aus welcher die weise Waltenden einst
Der Menschen auf Midhgardh Mutter gemacht,
Aber aus der edeln Esche
Den mutigen Mann: –
So lös' ich und laß' ich
Auf immer und alle Tage
Jedes Band und bindenden Bund
Der bis dahin mich deiner
Sippe gesellt.«

Unter diesen Worten zerbrachen sie über ihren Häuptern die Erlenzweige und warfen die Stücke nach allen vier Winden. Tiefes Schweigen hatte die Handlung begleitet, die, zwar zweifellosen Rechtes, höchst selten vorkam im Volk.

Civilis aber sprach nach einer Weile: »Die Erle zerbarst, die Sippe zersprang. – Schon mancher brach, was gar bald er bereute.« – Er hatte während des Spruches der Vettern wiederholt nach dem Hügel geblickt, den er von seinem erhöhten Sitz bequem übersehen konnte. Nichts rührte sich dort. Da winkte er einen der hinter ihm stehenden Fronboten herbei und flüsterte ihm zu: sofort verließ dieser den Speerkreis.

Der Richter fuhr fort: »Weiter geht des Dinges Gang. Ich frage: erhebt ein Freier Klage am Allding? – Der trete vor und hebe die Hand. Doch merket wohl: Gaugenossen richtet das Gauding. Nur eines Gaues Genoß wider anderen Gaues Genoß streitet im Allding.«

Da schritt der graubärtige Ferge aus der Schar seiner Gesippen, warf die Bootstange in die linke Hand, erhob die Rechte und sprach: »Ich wahre mein Recht. Ich hätte Grund, zu klagen wider die Fischer des Nordgaues: sie legen gar oft zur Nacht ihre Netze in meinem Fischwasser, südlich vom großen Röhricht der Ran. Ich will nicht klagen – jetzt. Gar oft führt solcher Streit unter Nachbargauen aus dem Rechtsgang zum Fehdegang. Jetzt aber thut Friede Not unter uns allen, so acht' ich. Nur auf daß ich mich nicht verschweige, Richter, wahr' ich mein Recht.« Er ließ die Hand sinken und trat zurück in die Reihe der Seinen.

Ein Gemurmel des Beifalls ging durch die Runde, nicht ohne manchen Blick, manchen Ausruf des Vorwurfs wider die Vettern des Civilis. Dieser aber nickte von seinem Stuhl herab dem Fischer zu und sprach: »Weise, Uffo, und wohlgethan! Erst dein Volk – dann deine Fische. Erst sein Ruhm, dann dein Recht. Keine Klage sonst?«

Die Männer schwiegen, auch solche, die gekommen waren, einen Anspruch zu verfolgen: das Beispiel wirkte stark und wohlgefällig flüsterte mancher Nachbar zum Nachbar: »Gut sprach der Richter: »Erst deines Volkes Ruhm, dann dein Recht. Erst dein Volk – dann deine Fische.« Ich merke das Wort und sag' es daheim meinem Knaben.« Und das Wort ward ein Sprichwort in ganz Niederland: von Geschlecht zu Geschlecht hat sich's vererbt: in schwerer Zeit, gegen Spanier und Franzosen, ward es angerufen und befolgt in dem mannhaften Volk.

Da nun kein Kläger mehr sich meldete, schritt Ulemer hervor aus der kleinen Schar von Friesen, die ihn begleitet hatten; sie waren kenntlich an den »gefriesten« das heißt an Halssaum und an Untersaum gefransten Mänteln, deren Farben: blau, braun, dunkelgrün und dunkelgelb sich nach den Gauen und Landschaften unterschieden. Er neigte sich dem Richter und sprach: »Zu Ende ging euer Gericht, ihr Bataver und deren Blutsverwandte. Allein nicht nur des Rechtes waltet das Allding: – auch über des Volkes Wohlfahrt, über Krieg, Frieden und Bündnis berät es und entscheidet. So sind denn wir friesischen Männer aus all' unsern Gauen – von der Ems im Aufgang bis zum Flevo im Niedergang – entsendet worden an dies euer Allding, euch vorzuschlagen, das alte Bündnis zu erneuen, das zwischen uns bestand in den Tagen der Väter – einst« – so schloß er bedeutsam »in den Tagen der Freiheit.«

»Jetzt bricht es,« sprach Civilis zu sich selbst und sah sehnsüchtig nach dem Hügel: auf diesem standen nun der Männer zwei, aber beide drehten, ohne sich zu bewegen, dem Dingplatz den Rücken. Zustimmende Worte wurden auf die Rede des Gesandten laut bei vielen Männern der Versammlung: aber nur kurze Frist ward solchem Beifall gelassen: lebhaft trat Claudius Labeo in die Mitte des Kreises und heftig rief er zu dem Richter hinauf: »verstattet Civilis noch, daß auch gegen seinen Freund gesprochen werde?«

Der würdigte ihn keines Wortes, er winkte nur stumm mit dem Stabe Gewährung. »Eine Frage vorerst an den Gesandten,« begann Labeo. »Ein Bündnis, sagst du. Nun, was für Bündnis? Für Frieden oder Krieg?« Ulemer zögerte: er sah auf Civilis: dieser hob warnend die Brauen. »Antworte, Friese!« mahnte Labeo. »Oder wagst du's nicht?« Da brach Ulemer zornig los: »Ein Waffenbündnis, treu bis in den blut'gen Tod.«

»Hört ihr's, ihr Männer?« schrie Labco. »Es ist gefallen, das kecke Wort, das verhängnisvolle, welches das lange drohende Verderben losknüpfen will von seinen weise geschmiedeten Banden. Ein Waffenbündnis! Gegen wen? Uns schützt wider alle Feinde Rom: Rom, das uns deshalb verboten hat, neben dem Bund mit ihm noch andere Bündnisse zu schließen. Gegen wen also dies Waffenbündnis? – Bataver, meeranwohnende Männer! Laßt mich zu euch reden in Worten, die ihr wie kein anderes Volk versteht, ihr, nahe der See. Wohlan, die See, die See ist – Rom. All' unser Reichtum, unser Glück und Gedeihen – die See bringt es unsrem segelfrohen Volk – die See und Rom. Aber bedenkt auch das andre. Dicht an der See, – unter deren Spiegel – liegen unsere Felder und Höfe. Was schützt sie, was schützt unser Leben? Einzig der Deich, der weise gefestigte Deich. Wohl: Rom ist auch die alles bedräuende, alles verschlingende See. Den ganzen Erdkreis hat sie sieghaft überflutet. Der Deich, der allein uns schützt, ist unser Bund mit Rom. Ein mutwilliger, ein frevler Stich in den Deich: – und die Sturmflut des Verderbens bricht über uns herein und begräbt uns alle. Jenes kecke Wort: – es war ein Stich in den Deich! Schon hör' ich sie dumpf heranbrausen von ferne, die Flut der Legionen. Aber ich stopfe den Riß, ich allein, mit meinem Leibe und gilt es mein Leben. Ich warn' euch: brecht nicht den Frieden mit Rom!«

Tiefe Stille folgte diesen Worten: das Bild, aus dem Leben des Volkes, aus des Landes Eigenart gegriffen, verfehlte nicht des Eindrucks, zumal auf die Männer der südlichen und östlichen Gaue, die den römischen Waffen in der That so nah und offen lagen wie der Strand vor der Düne der Brandung der See.

Civilis bemerkte scharf die Wirkung der Mahnung: er eilte sie zu bekämpfen. »Was malst du für Schreckbilder? Unsere Waffen, auch im Bündnis mit andern, wollen nur unser Recht wahren. Oder ist es verboten, unserer Rechte auch nur zu gedenken und der Tage der Freiheit?« – »Das will sagen,« rief Labeo grimmig, »der Tage, da deine Väter den Königsstab trugen! Doch ehe das wieder geschieht . . . !« Da trat Julius Briganticus vor und rief: »ich frage kurz und klar: gieb kurz und klar Bescheid: willst du, daß wir die Verträge mit Rom, die feierlich beschworenen, zerreißen?«

»Rom hat sie zerrissen,« antwortete Civilis ruhig. »Weißt du das nicht?« – »Jawohl. Aber warum?« fiel der jüngere Briganticus ein. »Weil du und dein Bruder trotzige Briefe an den Imperator geschrieben habt!« – »Nicht euch, Landsleute,« begann Julius nun wieder, »zürnt Rom. Ihn liefert aus und die Gunst des Kaisers lächelt euch wie früher.«

Aber da brauste ein unwillig grollend Gemurre durch die Versammlung. »Nie, niemals!« scholl es. »Schmach und Schande!«

»Du gingst zu weit,« raunte Labeo ihm zu, »laß mich . . . ! Und wer ist der Mann,« rief er laut, »der nun auf einmal zum Bruche drängt mit Rom? Derselbe Claudius Civilis, der jahrzehntelang wie kein andrer für Rom gesprochen und gehandelt! Wollt ihr so wankelmütigem Führer folgen?«

Der Einwurf war unleugbar: Civilis erkannte, daß er schwer wog an dem Verstummen auch seiner eifrigsten Anhänger; er sprach: »Ist der Mann weise, der bei seinem Irrsal verharrt, auch nachdem er es erkannt, nur weil es sein Irrsal?« – »Und weshalb erkannt? Seit wann?« rief Julius. – »Seit sein Bruder und sein Sohn in Rom den Tod gefunden!« fuhr Cajus fort. – »Und wie,« schloß Labeo, »wie sprachst du doch vor kurzem? ›Erst dein Volk, dann dein Recht.‹ Du aber willst nur deine Sippe rächen.«

»Das ist nicht wahr!« rief Ulemer, rasch vortretend. »Ich schwör's bei den Göttern! Ich war zugegen, als die Nachricht kam. Auch nachdem er die scheußlichen Morde vernommen, hielt er noch fest an Rom: erst als er erfuhr, wie Kaiser, Senat und Volk auch die Verträge zerrissen, ward er umgewandelt.« Das traf wohl gewaltig: allein Labeo ließ nicht zu, daß diese wichtigen Worte in den Gemütern tiefer Wurzel schlugen. »Wohlan!« rief er sofort. »Und was soll nun geschehen, nach seinem verwandelten Rat? Sprich Civilis! Brich dies Schweigen! Was zögerst, worauf wartest du? Willst du fortab dem Kaiser treu sein oder nicht?«

Aller Augen waren gespannt auf den so Gefragten gerichtet. Er spürte das: nun mußte er reden. Noch einen Blick auf den Hügel: siehe, da stand nur mehr Ein Mann auf dessen Krone, der frühere Späher: der wandte das Antlitz dem Dingkreis zu und schwenkte den Speer über dem Haupt. Da sprang Civilis vom Stuhl, richtete sich hoch auf und fragte mit lauter Stimme: »Dem Kaiser! Welchem Kaiser?«

»Es giebt nur Einen,« antwortete Labeo. »Lange tot liegt Otho, vom eignen Stahl durchbohrt,« fügte Julius bei und Cajus schloß: »Vitellius wollen wir dienen, der allein im Reiche gebeut.«

»Ihr irrt,« sprach Civilis fest. »Zwei Kaiser streiten sich um Rom und Reich. Doch nicht mir glaubt: – glaubt diesem Zeugen.« Der abgesendete Fronbote schob einen Mann durch die Ostöffnung des Speerzauns herein: es war Katwald, von Staub und den Spuren langer Wanderung bedeckt: er eilte in die Mitte des Kreises und hob, das Wort begehrend, die Hand gegen den Richter: »Hört, ihr Männer,« rief er, »ich komme von Neuß aus dem Lager des Hordeonius: wider Vitellius ist ein Gegenkaiser erhoben: Flavius Vespasianus ist sein Name. All' Morgenland fiel ihm schon zu und viele Legionen. Vitellius wankt auf seinem goldnen Stuhl.«

Brausende Erregung ging durch die Massen: die Römerfreunde erbleichten. Aber Labeo faßte sich, trat vor und sprach: »Und wär' es so . . . –«

»Es ist so, Sohn der Römerin,« rief Katwald zornig, »Ich schwör' es: – ich hab's von Hordeonius selbst. Zweifelst du?« Und er griff ans Schwert, der Richter winkte ihm mit dem Stabe: – da ließ er die Hand sinken. – »Und ist es so,« fuhr Labeo fort, »was dann? Was ändert das für uns? Mag der rechtmäßige Kaiser siegen oder dieser Anmaßer – für uns ist's gleich: denn Roma bleibt, wie sein Imperator heiße. Rom aber, das wißt ihr alle, Rom – ich wiederhol' es – ist unser Reichtum. Daß wir nicht als halbnackte Hungerleider durch die Sümpfe schweifen, wie die Barbaren überm Rhein, wir danken's Rom.«

Da stürmte Uffo der Ferge auf ihn los und schleuderte eine Hand voll Goldmünzen vor seine Füße: »Da!« schrie er, »nimm dein Römergold zurück, mit dem du meine Stimme kaufen wolltest. Besser arm und frei, als in Gold prangend ein Knecht.« Und ungestüm hob er die wuchtige Botstange.

Höhnisch erwiderte Labeo: »willst du vielleicht die Römer mit diesem Stück Holz erschlagen?«

»Alle nicht, aber viele, sehr viele. Schau' es dir genau an, dies Stück Holz und den Haken daran. Er kann was erzählen von den Römern! Im tiefsten Frieden drang der Legat – unser Beschützer! – mit seinen Scharen in meine Schilfhütte – er hatte Tags zuvor bei der Überfahrt meine blonde Ansa erspäht – und raubte die Jungfrau. Ihr Geschrei rief mich vom Fischfang herzu, ich schoß heran in dem Nachen an das Kriegsschiff der Römer: die lachten, hundert gegen einen, vom hohen Bord auf mich herunter: mein Kind streckte verzweifelnd die Hände nach mir aus: da griff ich zu – »mit diesem Stück Holz!« – schlug den Haken in ihren Gürtel und riß sie herab, – aus der Mitte der Kohorte – herunter in den Strom und tauchte sie so lang und so tief, bis sie gerettet war für immerdar vor dem Legaten. Ich zog den schönen Leib heraus, tot, aber unbefleckt. Nun wirb' noch mal um mich mit Römergold!«

Da dröhnte Zorn und Beifall durch die Reihen. Labeo fand kein Wort der Erwiderung. Der ältere der Brüder jedoch rief: »Der einzelne – so lehrte ja Civilis! – muß seine Rache dem Volk zum Opfer bringen. Unser Volk aber, es ist verloren im Kampf mit Rom. Gallien zittert unter dem ehernen Schritt von vier Legionen.« – »Und neben diesen dreißigtausend Römern,« fiel Cajus ein, »kämpfen gegen uns alle Söhne dieses Landes, die Gallier, vom Rhein bis an die Pyrenäen, viel hundert Tausende. Der wievielte Teil des Menschengeschlechts sind denn die zwölf Gaue der Bataver und der Kannenefaten, daß sie es unternehmen wollen, gegen den römischen Erdkreis anzukämpfen?« – »Nicht fünfzehntausend Speere zählen wir, und nehmen wir die Friesen dazu – unsre einzigen Bundesgenossen« – ergänzte Labeo – »und bringen wir's auf dreißigtausend Männer, – damit wollt ihr Rom und ganz Gallien trotzen?«

Die Zahlen waren richtig, die Übermacht Roms war oft erprobt: – die Warnung wirkte. Civilis schickte sich an, zu erwidern, aber noch zuvor drang von dem Hügel her ein Hornruf an sein Ohr: schwach zwar, doch unverkennbar. Er wandte sich: der Merker auf dem Hügel war's, der, nun das Gesicht dem Dingort zugewandt, noch immer blies und mit ausgestrecktem Speer auf den Schmalpfad zwischen Hügel und Weihbaum wies.

Auch die Menge vernahm nun das Horn und bald darauf das Huf-Getrappel auf dem harten, wurzelreichen Waldweg eilend nahender Rosse. Während aller Augen nun nach Osten sahen und leis und lauter Fragen, Rufe des Staunens, der Erwartung hörbar wurden, sprengte ein Reiter auf rotem Roß sausend heran; vor dem Speerzaun sprang er ab und stürmte in die Mitte der Versammlung.

»Brinno! Brinno!« scholl es ringsher ihm entgegen. »Ja, er fehlte uns sehr! Wo war er? Warum kommt er erst jetzt?«

Aber atemlos drückte der Starke die Hand auf das heftig klopfende Herz: er rang nach Luft. Civilis gönnte ihm Zeit, Atem zu gewinnen: dann rief er: »Brinno, Donarbrands Sohn, woher kommst du?« – »Von Köln!« – »Und was bringst du?« – »Die Freiheit! Die Freiheit und das Heil! Die Legionen in ganz Gallien zerfleischen sich in blut'gen Kämpfen. »Hie Vitellius! Hie Vespasian!« so tönt's in allen Lagern und Kastellen von Metz bis Toulouse. Auf allen Heerstraßen, wo sie aufeinander stoßen, fechten sie, auf jeder Seite mit römischer Kriegskunst, mit römischen Schwertern, Adler gegen Adler! Hei, gönn' ich's doch kaum diesem Raubgevögel, daß es sich selbst zerzaust! Aber es wird wohl noch einer davon übrig bleiben für meinen Hammer hier. In Nimwegen, in Xanten, in Asburg, in Neuß, in Köln, in Bonn, in Remagen, in Andernach, in Koblenz, in Bingen, in Mainz, in Trier stehen Römer wider Römer in Waffen.« – »Und Hordeonius?« fragte Labeo erbleichend.

»Ward zu Neuß erschlagen von seinen eigenen Kohorten, weil er sie für Vespasian vereidigen wollte.« – »Aber Vocula? Dillius Vocula?« forschte Julius. – »Als Sklave verkleidet entkam er mit Not den Wütenden.« – »Und die Gallier?« rief Cajus bang. – »Jawohl, die Gallier!« drängte Labeo. »Sind sie für Vitellius oder für Vespasian?«

»Die Gallier? Ei, die sind für Gallien! Ein Großreich Gallien wollen sie errichten – unter einem Kaiser oder König. Langres, Trier, Metz, Toul haben sich für frei erklärt und losgesagt von Rom. – Und ihr,« rief er ungeduldig, »ihr zögert noch? Die windigen Gallier stehen auf und greifen zu den Waffen und du, Civilis, säumst noch immer?« – Er war dicht an den Freund herangetreten und flüsterte ihm zu: »Wann schlägst du los?«

»Zu rechter Zeit,« erwiderte der ebenso leise. »Horch! Hörst du den Wechselgesang? Endlich! Darauf hatt' ich gewartet. Siehst du, des Hügels Krone ist leer. Wacker hat dein Bruder des Späheramts gewaltet.«

Und schon ganz nahe klang nun vielstimmiger Gesang zuerst von Männern, dann von Frauen und Kindern.

Das Lied der Männer lautete:

Dringend drang
An unser Ohr
In unsern weitwogenden Wäldern
Der Ruf von euch reisigen Recken:
»Kommt, ihr Kühnen!
Helft uns, ihr Helden,
Zur Rache an Rom!
Ihr findet vieles,
Des ihr gierig begehret:
Schilde zu schroten,
Feinde zu fällen,
Gold zu gewinnen
Und bunte Beute
Und – lieblicher lockend –
Reichen Ruhm.«
Und siehe wir kommen, wir kommen!
Markige, mächtige Markomannen,
Tenchtĕrer, tapfer und treu,
Und der Usipier edler Abstamm,
Chauken, und endlich Chatten
Aus der alten
Heimat, zu Hilfe
Den freudigen Vettern.«

Sowie der Gesang der Männer verstummte, fielen die hellen Stimmen ein:

»Öffnet, ihr Edeln,
Die Hallen und Herzen,
Rüstet Bereitschaft
Götterverkündendem Gast:
Streut auf die Straße
Blätter und Blüten:
Thüren und Thore
Kränzet und krönet
Mit Gewinden: es wird zum Weihtum
Das dürftigste Dach,
Welches über die Wala sich wölbt:
Ja, es gasten gütige Götter,
Da, wo Weleda weilt und wohnt.«

Auf der breiten Fahrstraße nahte ein festlicher Aufzug zu Pferd und zu Fuß: viel hundert Köpfe, Männer, Weiber und Kinder. Schon hatten die Reiter an der Spitze den Osteingang des Speerzauns erreicht: sie sprangen hier von den Rossen und zogen, nach kurzer Anmeldung durch die Fronboten bei dem Richter, paarweise geordnet in den Dingkreis. Es waren stattliche Kriegsgestalten, deren mannigfaltige Waffen und Gewandung die Gehörigkeit zu verschiedenen Völkerschaften bekundeten, doch trugen alle – mit Ausnahme der sächsischen Chauken – die Haare gegen den Wirbel hinaufgekämmt und hier in einen Knoten zusammengebunden: denn sie alle waren Sueben. Sie stellten sich nun dem Richterstuhl gegenüber in Einer Reihe auf.

Jetzt erscholl draußen vor dem Dingzaun lebhaftes Heilrufen: die batavischen Frauen und Kinder begrüßten freudig die ankommenden Frauen und Kinder und zumal ein von deren Gewoge bis dahin verdecktes wundersames Gefährt. Einen breiten und kurzen zweiräderigen Wagen, nur hinten – behufs der Besteigung – offen, auf den drei andern Seiten durch brusthohe gerundete Wandungen von glänzend weißen Ahornplatten umhegt, zogen, je zwei voreinander gespannt, vier schneeweiße Kronenhirsche, – zwei Vierzehn- und zwei Sechzehnender – um deren Geweih und stolz geschwungenen Halsbug handbreite Zügel von weißem Leder mit goldenen Säumen geschlungen waren: die edeln Tiere hielten jetzt – auf den leisesten Ruck des Zaumes – an. Auf dem Wagen aber stand, mit leichter Hand die Zügel lenkend, Weledas hochragende schlanke Gestalt: um sie her flutete ein weißer golddurchwirkter Mantel in langen schweren Falten, das gelöste silberhelle Haar fiel ihr über Schultern und Rücken herab: ein Kranz von lichtgrünen, mit den Stielchen aneinander gesteckten Buchenblättern, war der einzige Schmuck, den sie trug.

Sido und Brinnobrand, die bisher zur Rechten und zur Linken des vorderen Hirschgespanns geschritten waren, eilten nun an die offne Rückseite des Wagens, ihr bei dem Herabsteigen behilflich zu sein; doch unberührt von ihren Händen schwebte die Jungfrau in die Hände Weledamarkas, die sie mit Welo in Empfang nahm. Die Seherin, gefolgt von den drei Männern, näherte sich jetzt dem Eingang des Speerzauns.

Finstere Blicke warfen auf den ganzen Zug die drei Römerfreunde; lange hatten sie unter der Wucht der Nachrichten schweigend die Nacken gebeugt; jetzt raffte zuerst Labeo sich auf: »Auch das noch!« sprach er zu seinen Gesellen. »Dies Mädchen, das allen die Augen verblendet, noch bevor sie die Ohren bethört durch ihre Sprüche!« – »Haß wider Rom ist all' ihre Seherinnenweisheit,« erwiderte Cajus. – »Sie soll nicht herein!« drohte Labeo.

Und er eilte vor den Altar, – soeben hatte Weleda die Speerpforte erreicht – hob die Hand und rief mit lauter Stimme: »Halt, halt, Bruktrerin! Ich frage, aber nicht den Richter frag' ich, der, – man kann's mit Händen greifen! – wie all' jene Unheilsbotschaften, so diesen ganzen Aufzug sich herbestellt hat, – dich frag' ich, Altpriester, Sinnist, darf nach der Bataver Brauch und Sitte ein Weib die Dingstätte der Männer beschreiten?«

Gespannt sahen alle auf den Alten; der trat neben den Richterstuhl und sprach:

»Dem Weibe weigre den Weg
Auf den Richtort des Rechtes.«

»Also! Ihr hört es!« rief Labeo. Doch der Sinnist fuhr fort:

»Aber ein anderes ist
Ein gewöhnlich Weib,
Ein andres die weihvolle Wala:
Willst hinweg du weisen
Aus unserm Allding
Die guten Götter?
Der guten Götter
Willen und Wort weist uns die Wala:
Ihr ist offen das Allding.«

Ruhig schritt nun die Jungfrau, die einstweilen harrend stehen geblieben war, in den Dingkreis herein.

 


 


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