Hans Dominik
Das Buch der Chemie
Hans Dominik

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Vorwort

Der gewaltige Fortschritt unserer Naturerkenntnis im ersten Viertel unseres Jahrhunderts betrifft nicht zum wenigsten die Chemie. Der Fernerstehende wird in der Hauptsache nur die praktischen Errungenschaften wahrnehmen. Er hört täglich von der Schaffung neuer Arzneistoffe, die, in der Retorte mit Kunst und Wissenschaft gefügt, ganz spezifische Heilwirkungen gegen einzelne bisher fast unheilbare Krankheiten entfalten. Er erfährt, daß ständig neue und vollkommen lichtechte Farbstoffe geschaffen werden, deren Herstellung das Ausland uns neidet. Er vernimmt, daß unsere chemische Industrie uns von der Salpetereinfuhr unabhängig gemacht hat, daß wir alle für die Landwirtschaft und Industrie unentbehrlichen Stickstoffverbindungen unmittelbar aus dem Luftstickstoff herstellen. Man erzählt ihm von einer künstlichen Darstellung der wichtigsten Rohstoffe, wie Kautschuk, Gespinstfasern, Kampfer und dergleichen mehr. Die Hoffnung, noch viel weiterzukommen und vielleicht auch eines Tages Nahrungsmittel, wie Stärke und Eiweiß, in der Retorte zu erstellen, nimmt immer greifbarere Gestalt an.

Alle diese praktischen Errungenschaften haben zweifellos die größte Bedeutung für unsere Volkswirtschaft. Sie machen uns von einem von der Natur mehr begünstigten Ausland wirtschaftlich unabhängig und schaffen Lebensmöglichkeiten, die uns sonst fehlen würden.

Aber wir dürfen nicht vergessen, daß die reiche Ernte, welche die chemische Industrie heute in ihre Scheuern bringt, die Frucht einer Saat ist, die in Form der Strukturtheorie schon um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ausgestreut wurde. Damals schuf besonders Kekulé die Grundlagen für unsere Erkenntnis vom Aufbau und von der Struktur der Moleküle. Was damals zunächst reine Wissenschaft und im günstigsten Falle Laboratoriumspraxis war, ist heute die treibende Kraft einer gewaltigen Industrie, die Hunderttausenden Brot gibt und jährlich Milliardenwerte schafft. Nebenher aber laufen neue Entdeckungen von unerhörter Tragweite, die uns einen Blick bis in das Innerste der Natur gestatten. Kekulé nahm die Atome als die letzten, einer weiteren Erkenntnis und Ergründung nicht mehr zugänglichen Dinge der Natur und baute aus ihnen die Moleküle auf. Heute aber sind wir dabei, auch die Atome zu ergründen. Schon sind sie nach der genialen Theorie des Dänen Niels Bohr als winzige Weltsysteme erkannt, in denen die Atome der negativen Elektrizität, die Elektronen, als Planeten auf Keplerschen Ellipsen um positive elektrische Ladungen wie um eine Zentralsonne kreisen. Schon hat man auf Grund dieser Theorie den Atombau der einfachsten Elemente, des Wasserstoffes und des Heliums, erkannt, hat die Erscheinungen der radioaktiven Substanzen in wunderbarer Weise mit dieser Theorie in Einklang gebracht.

Die Ultrastrukturchemie wird uns eines Tages die Verwirklichung des alten Alchimistentraumes bringen, die Umwandlung irgendeines Elementes in ein anderes. Und dabei werden die Entdeckungen der physikalischen Chemie dazu helfen, daß hier nicht nur begehrte Stoffe aus weniger begehrten in beliebigen Mengen erstellt werden. Es wird vielmehr dabei auch noch eine Energiequelle erschlossen werden, deren theoretische Größe wir heute bereits genau kennen, und die millionenfach, ja billionenfach größer ist als die Energie der Brennstoffe, auf der unsere ganze heutige Technik und Zivilisation beruhen. An die Stelle der molekularen Energie, die wir heute in unseren Wärmekraftmaschinen auf dem Umwege über Verbrennungsvorgänge nutzbar machen, wird die unendlich viel größere Atomenergie treten, die uns die Ultrastrukturchemie erschließen soll.

Heute sind wir hier noch beim Säen. Noch sind die reinen Wissenschaftler an der Arbeit, der Natur die letzten Geheimnisse zu entreißen. Doch schon heute können wir uns ein ungefähres Bild von den praktischen Folgen machen, die diese theoretische Erkenntnis einmal haben muß. Hier aber eröffnen sich Zukunftsaussichten von einer märchenhaften Schönheit. Ein Zeitalter scheint uns zu winken, welches sich zu unserer heutigen Zeit der Technik und Zivilisation ungefähr verhalten dürfte, wie sich unsere Zeit zu der Epoche der Steinkultur oder der Bronzetechnik verhält. Schon heute haben wir die sichere Gewißheit, daß es bestimmt keinen Stillstand in unserer Entwicklung geben wird, daß vielmehr auf Neues und Großes immer noch Neueres und Größeres folgen muß und wird.

Neben den wirtschaftlichen und praktischen Leistungen der chemischen Industrie unserer Tage behandelt das vorliegende Buch daher auch diese theoretischen Arbeiten, die heute in der Hauptsache nur wissenschaftliches Interesse haben, die sich aber zweifellos im Leben unserer Kinder und Kindeskinder auch in gewaltigster Weise praktisch auswirken werden. Das Buch will dem, der sich für diese Dinge interessiert, die Kenntnis davon möglichst leicht und angenehm übermitteln. Wer tiefer in die eigentliche chemische Wissenschaft eindringen will, wird daneben die Lektüre anderer chemischer Werke und zum mindesten diejenige eines guten Schulbuches für Chemie nicht missen können. Diesen Werken will das vorliegende Buch keine Konkurrenz machen. Wollte es bringen, was diese Bücher bringen und bringen müssen, so wäre kein Raum für die Ausführungen geblieben, die hier gemacht werden. Aber der Leser, der den Ausführungen des vorliegenden Buches gefolgt ist, wird vielleicht danach aus freiem Entschlusse zu umfangreicheren Werken greifen, um sich noch genauer über die Dinge zu informieren, die hier vorgetragen wurden.

Berlin-Zehlendorf.

Der Herausgeber.



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