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Viertes Kapitel

Die Lahme

1

Schatow erwies sich dieses Mal als nicht widerspenstig und erschien, meiner schriftlichen Bitte zufolge, gegen Mittag bei Lisaweta Nikolajewna. Wir traten fast gleichzeitig ein; auch ich war gekommen, um meinen ersten Besuch zu machen. Sie alle, das heißt Lisa, ihre Mutter und Mawrikij Nikolajewitsch, saßen in dem großen Salon und stritten miteinander. Die Mutter hatte verlangt, daß Lisa ihr einen gewissen Walzer auf dem Klavier vorspiele; als diese aber den verlangten Walzer angefangen hatte, meinte die alte Dame, es wäre nicht der richtige. Mawrikij Nikolajewitsch ergriff in seiner Schlichtheit und Offenherzigkeit Lisas Partei und versicherte, daß es wirklich der gewünschte Walzer gewesen wäre; da ärgerte sich die Alte so sehr, daß sie zu weinen begann. Sie war krank und konnte kaum gehen. Ihre Füße waren geschwollen, und so hatte sie denn seit einigen Tagen nichts weiter getan als Grillen gefangen und mit anderen Händel gesucht, obwohl sie vor Lisa immerhin etwas Furcht hatte. Über unser Kommen waren sie sehr erfreut. Lisa errötete vor Freude, bedankte sich bei mir dafür, daß ich Schatow zum Herkommen veranlaßt hatte, trat dann zu ihm und betrachtete ihn neugierig.

Schatow war ungelenk an der Türe stehengeblieben. Nachdem sie auch ihm für sein Kommen ihren Dank ausgesprochen hatte, führte sie ihn zu ihrer Mutter.

»Das ist Herr Schatow, von dem ich Ihnen bereits erzählt habe, und das ist Herr G...w, ein guter Freund von mir und von Stepan Trofimowitsch. Mawrikij Nikolajewitsch hat schon gestern seine Bekanntschaft gemacht.«

»Und welcher von den beiden ist der Professor?«

»Ein Professor ist überhaupt nicht da, Mama.«

»Doch. Du hast mir selbst gesagt, daß ein Professor kommen wird. Gewiß ist es der«, meinte sie, indem sie geringschätzig auf Schatow hinwies.

»Ich habe Ihnen nie gesagt, daß ein Professor zu uns kommen werde. Herr G...w ist Beamter, und Herr Schatow ein ehemaliger Student.«

»Ob Student oder Professor, das ist doch einerlei, die kommen beide von der Universität. Du willst nur immer streiten. Der in der Schweiz hatte einen Vollbart.«

»Mama meint den Sohn von Stepan Trofimowitsch. Sie nennt ihn immer Professor«, sagte Lisa und führte Schatow nach dem anderen Ende des Salons zu einem Sofa hin.

»Wenn ihre Füße geschwollen sind, benimmt sie sich immer so; Sie verstehen wohl: sie ist krank«, flüsterte sie Schatow zu und fuhr dabei fort, ihn und besonders den auffallenden Haarbüschel auf seinem Kopf mit größter Neugier zu betrachten.

»Sind Sie Offizier?« wandte sich die Alte an mich, mit der mich Lisa so erbarmungslos allein gelassen hatte.

»Nein, gnädige Frau, ich bin Beamter ...«

»Herr G...w ist ein sehr guter Freund von Stepan Trofimowitsch«, ließ sich sofort Lisa vernehmen.

»Sie sind bei Stepan Trofimowitsch angestellt? Aber er ist doch auch Professor?«

»Ach, Mama, Sie träumen gewiß selbst in der Nacht nur von Professoren!« rief Lisa ärgerlich.

»Ich habe genug davon auch im wachen Zustande. Du mußt nur immer der Mutter widersprechen. Waren Sie hier in der Stadt, als Nikolaj Wsewolodowitsch vor etwa vier Jahren herkam?«

Ich gab eine bejahende Antwort.

»War da ein Engländer mit Ihnen zusammen?«

»Nein, ein Engländer war nicht hier.«

Lisa begann zu lachen.

»Siehst du wohl, es ist gar kein Engländer dagewesen, also ist das erlogen. Sowohl Warwara Petrowna als auch Stepan Trofimowitsch schwindeln. Überhaupt alle lügen.«

»Die Tante und Stepan Trofimowitsch hatten nämlich eine Ähnlichkeit zwischen Nikolaj Wsewolodowitsch und dem Prinzen Harry in Shakespeares ›Heinrich IV‹ gefunden,« sagte Lisa erklärend, »und Mama will aus diesem Grunde feststellen, daß überhaupt kein Engländer dagewesen ist.«

»Wenn kein Harry dagewesen ist, dann war auch kein Engländer hier. Dann hat Nikolaj Wsewolodowitsch seine Torheiten ganz allein getrieben.«

»Ich versichere Ihnen, daß Mama absichtlich so spricht«, hielt es Lisa für nötig, Schatow zu erklären. »Sie weiß sehr gut über Shakespeare Bescheid. Ich habe ihr selbst den ersten Akt von ›Othello‹ vorgelesen. Aber sie leidet jetzt sehr unter ihrer Krankheit. Mama, hören Sie, es schlägt zwölf, es ist Zeit, das Sie Ihre Medizin einnehmen.«

»Der Arzt ist gekommen«, meldete das Stubenmädchen, das in der Türe erschien.

Die Alte stand auf und rief ihr Hündchen: »Semirka, Semirka, komm du wenigstens mit mir.«

Das kleine, alte, häßliche Hündchen Semirka wollte nicht gehorchen und kroch unter das Sofa, auf dem Lisa saß.

»Du willst nicht? Dann will ich dich auch nicht haben! Leben Sie wohl, Väterchen – ich kenne Ihren Vor- und Vatersnamen leider noch nicht«, wandte sich die Alte an mich.

»Anton Lawrentjewitsch ...«

»Nun, das ist einerlei, bei mir geht so etwas in ein Ohr hinein und aus dem anderen wieder hinaus. Sie brauchen mich nicht zu begleiten, Mawrikij Nikolajewitsch; ich hatte nur Semirka gerufen. Gott sei Dank kann ich noch allein gehen, und morgen will ich spazieren fahren.«

Und sie verließ ärgerlich den Salon.

»Anton Lawrentjewitsch, unterhalten Sie sich solange mit Mawrikij Nikolajewitsch; ich kann Ihnen die Versicherung abgeben, daß Sie beide nur gewinnen werden, wenn Sie sich gegenseitig näher kennenlernen«, sagte Lisa, indem sie Mawrikij Nikolajewitsch freundlich zulächelte. Dieser schien sich unter ihrem Blick förmlich zu verklären.

Es blieb mir nichts weiter übrig, als mit Mawrikij Nikolajewitsch ein Gespräch anzuknüpfen.

2

Es stellte sich zu meiner Verwunderung heraus, daß Lisaweta Nikolajewna mit Schatow wirklich nur über eine literarische Angelegenheit sprechen wollte. Ich weiß nicht, wie das kommt, aber ich hatte mir eingebildet, sie hätte ihn aus anderen Gründen zu sich rufen lassen. Da wir, das heißt Mawrikij Nikolajewitsch und ich, sahen, daß die beiden vor uns keine Geheimnisse hatten und laut sprachen, begannen wir zuzuhören; dann wurden auch wir zu Rate gezogen. Die ganze Sache bestand darin, daß Lisaweta Nikolajewna schon seit langer Zeit die Herausgabe eines ihrer Meinung nach nützlichen Buches plante, aber infolge ihrer vollkommenen Unerfahrenheit eines Mitarbeiters und Helfers bedurfte. Der Ernst, mit dem sie sich daran machte, Schatow ihren Plan auseinanderzusetzen, erregte geradezu meine Bewunderung. »Wahrscheinlich ist sie auch eine von den Neuen,« dachte ich, »sie scheint nicht umsonst in der Schweiz gewesen zu sein.« Schatow hörte ihr aufmerksam zu, hatte den Blick auf den Boden gerichtet und schien keineswegs darüber erstaunt zu sein, daß ein zerstreutes Fräulein aus den höheren Gesellschaftskreisen sich mit solchen, wie es scheinen mochte, für sie ganz unpassenden Dingen abgab.

Das literarische Unternehmen war von folgender Art: Es erscheinen in Rußland eine ganze Menge von Zeitungen sowohl in den Hauptstädten als auch in der Provinz und außerdem noch eine ganze Menge Zeitschriften, in denen täglich über sehr viele Ereignisse berichtet wird. Das Jahr geht zu Ende, die Zeitungen werden überall entweder in Schränke gepackt, oder beschmutzt und zerrissen, oder zum Einwickeln oder zu Lampenschirmen verwandt. Manche der veröffentlichten und besprochenen Tatsachen machen einen Eindruck und bleiben eine Weile im Gedächtnis haften, aber auch die werden dann im Laufe der Zeit vergessen. Viele Leute möchten sich dann gern über verschiedene Ereignisse informieren, aber es ist doch eine gar zu große Arbeit, in diesem Meere von Blättern etwas zu suchen, wenn man oft weder den Tag noch den Monat des betreffenden Ereignisses kennt. Und doch, wenn man all diese Tatsachen für ein ganzes Jahr in einem einzigen Buche, nach einem bestimmten Plan und einer von gewissen Ideen ausgehenden Ordnung vereinigen und mit Inhaltsverzeichnissen und Anmerkungen und einer Einteilung nach Monaten und Tagen versehen würde, dann könnte ein solches zusammenfassendes Werk eine vollständige Charakteristik des gesamten russischen Lebens für ein ganzes Jahr bieten, trotzdem von allen Tatsachen, die sich wirklich begeben, nur ein verhältnismäßig sehr kleiner Teil in die Presse kommt.

»Statt einer Menge von Blättern kommen dann ein paar dicke Bücher zustande und nichts weiter«, bemerkte Schatow.

Aber Lisaweta Nikolajewna verteidigte eifrig ihr Vorhaben, obwohl sie unerfahren war und es ihr große Mühe machte, sich richtig auszudrücken. Es sollte nur ein einziges Buch werden, versicherte sie, und dabei nicht einmal ein sehr dickes. Und wenn es selbst dick würde, so müßte man es doch klar und übersichtlich machen, denn die Hauptsache wäre und bliebe die Darlegung und der Charakter der Darstellung der Tatsachen. Natürlich dürfte man nicht alles aufnehmen und abdrucken. Kaiserliche Erlasse, Verfügungen der Regierung, Anordnungen der örtlichen Behörden, Gesetze, all das wären zwar sehr wichtige Tatsachen, könnten aber in der beabsichtigten Ausgabe vollkommen weggelassen werden. Man müßte überhaupt vieles fortlassen und sich lediglich auf eine Auswahl von Tatsachen beschränken, die das sittliche, persönliche Leben, eben die Individualität des russischen Volkes mehr oder weniger klar wiedergäben. Natürlich dürfte man dabei nach Belieben verfahren: es könnten Anekdoten, Feuersbrünste, Spenden, gute und schlechte Handlungen, Aussprüche und Reden aller Art, vielleicht sogar auch Nachrichten von Überschwemmungen aufgenommen werden. Vielleicht sogar auch einige Verfügungen der Regierung, aber man müßte sich dabei nur darauf beschränken, was der Zeit ihr Spiegelbild vorhalte. Alles sollte vom Gesichtspunkt einer gewissen Idee durchgesiebt, von Kommentaren begleitet und von einem Gedanken getragen werden, der das Werk, die ganze Sammlung durchleuchten müßte. Und schließlich hatte das Buch auch eine interessante leichte Lektüre zu bieten, ganz abgesehen davon, daß es als Nachschlagewerk geradezu unentbehrlich werden müßte! So ein Buch würde sozusagen ein Bild des geistigen, sittlichen, innern russischen Lebens innerhalb eines ganzen Jahres sein. »Es muß so gemacht werden, daß alle es kaufen; es muß ein unentbehrliches Handbuch werden«, beteuerte Lisa. »Ich begreife sehr wohl, daß dabei alles auf den richtigen Gedanken, auf den Plan ankommt, und deshalb wende ich mich auch an Sie«, schloß sie. Sie war sehr in Eifer geraten, und obwohl sie sich nur unklar und unvollständig ausgesprochen hatte, begann sie Schatow doch zu verstehen.

»Also es wird etwas mit einer Tendenz sein, eine in einer bestimmten Richtung hin getroffene Auswahl von Tatsachen«, murmelte er, immer noch zu Boden blickend.

»Durchaus nicht, die Auswahl darf nicht tendenziös sein; wir brauchen so etwas nicht. Sachlichkeit und Unparteilichkeit sind die einzige Tendenz, an die ich denke.«

»Aber eine Tendenz wäre noch gar kein Übel,« erklärte Schatow, der nun in Bewegung geriet, »und sie läßt sich auch gar nicht vermeiden, sobald man eben eine Auswahl treffen will. Schon in dieser Auswahl der Tatsachen wird der Hinweis darauf liegen, wie sie zu verstehen sind. Ihre Idee ist gar nicht so schlecht.«

»Also ist ein solches Buch doch möglich?« fragte Lisa erfreut.

»Das muß man sich noch überlegen und erwägen. Das ist ein ganz gewaltiges Unternehmen. Aus dem Stegreif läßt sich so etwas nicht durchdenken. Man muß erst Erfahrungen haben. Selbst wenn wir das Buch herausbringen, werden wir kaum schon wissen, wie es wohl am besten gemacht wird. Vielleicht kommen wir nach mehreren Versuchen hinter die Geheimnisse der Verlagskunst. Aber der Gedanke hat angebissen. Der Gedanke ist nützlich.«

Er hob endlich die Augen, und sie leuchteten sogar vor Vergnügen. So sehr hatte ihn die Sache interessiert.

»Haben Sie sich das selbst ausgedacht?« fragte er Lisa freundlich und ein wenig schüchtern.

»Das Ausdenken ist eine Kleinigkeit, nur der Plan ist so schwer auszubauen,« erwiderte Lisa lächelnd, »ich verstehe so wenig von diesen Dingen. Ich bin auch nicht sehr klug und verfolge nur das, was mir selbst klar ist ...«

»Sie verfolgen es?«

»Es ist wohl nicht das richtige Wort?« fragte Lisa hastig.

»Man kann auch so sagen; ich habe nichts dagegen einzuwenden.«

»Schon als ich noch im Ausland war, habe ich mir gesagt, daß auch ich irgendwie nützlich sein könnte. Ich habe eigenes Geld, das zwecklos daliegt; warum sollte ich nicht ebenfalls für die gemeinsame Sache etwas tun? Zudem fiel mir diese Idee ganz von selbst ein; ich habe sie gar nicht ausgedacht und freute mich sehr über sie; aber ich sagte mir gleich, daß es ohne einen Mitarbeiter und Helfer nichts werden würde, weil ich selbst nichts davon verstehe. Mein Mitarbeiter wird selbstverständlich zugleich auch Mitherausgeber des Buches sein. Wir wollen es in zwei Hälften einteilen: Sie geben den Plan und die Arbeit her, ich als Urheberin steure den Gedanken und das nötige Geld bei. Das Buch wird sich doch sicherlich bezahlt machen?«

»Wenn wir den richtigen Plan heraussuchen, dann wird das Buch gut gehen.«

»Ich mache Sie von vornherein darauf aufmerksam, daß ich es nicht des Gewinnes wegen tue. Indessen wünsche ich dem Buche einen sehr guten Absatz und werde auf den Gewinn stolz sein.«

»Nun, und ich, was habe ich denn damit zu tun?«

»Aber ich fordere doch gerade Sie auf, mein Mitarbeiter zu werden ... Wir machen Halbpart. Sie sollen den Plan entwerfen.«

»Woher wissen Sie denn, daß ich imstande bin, einen solchen Plan zu entwerfen?«

»Man hat mir von Ihnen erzählt, und ich habe auch hier gehört ... ich weiß, daß Sie sehr klug sind und ... ernstlich arbeiten und ... viel denken. Mir hat Piotr Stepanowitsch Werchowenskij in der Schweiz viel von Ihnen erzählt«, fügte sie eilig hinzu. »Er ist doch ein sehr kluger Mann, nicht wahr?«

Schatow sah sie mit einem raschen, kaum merklichen Blick an, schlug dann aber sofort die Augen wieder nieder.

»Auch Nikolaj Wsewolodowitsch hat mir viel von Ihnen gesprochen.«

Schatow errötete plötzlich.

»Übrigens, hier sind einige Zeitungen«, fuhr Lisa fort, indem sie schnell ein bereitgelegtes, zusammengebundenes Paket mit Zeitungen von einem Stuhl nahm. »Ich habe hier versucht, einige Tatsachen, die meiner Meinung nach zur Aufnahme passen würden, auszuwählen und habe sie angestrichen und numeriert ... Sie werden schon sehen.«

Schatow nahm das Paket an sich.

»Nehmen Sie es mit nach Hause und sehen Sie es durch. Wo wohnen Sie denn?«

»In der Bogojawlenskaja, im Filippowschen Hause.«

»Ich kenne das Haus. Da wohnt ja wohl, glaube ich, neben Ihnen irgendein Hauptmann, ein Herr Lebiadkin?« fragte Lisa, die es immer noch sehr eilig zu haben schien.

Schatow, der sich schon anschickte zu gehen, blieb sitzen und saß mit dem Päckchen in der Hand eine volle Minute lang ohne zu antworten da und blickte zu Boden.

»Für diese Zwecke müßten Sie sich jemand anders suchen; ich werde Ihnen da nicht behilflich sein können«, sagte er endlich und senkte dabei die Stimme so sehr, daß es bereits wie Flüstern klang.

Lisa wurde feuerrot.

»Welche Zwecke meinen Sie denn? Mawrikij Nikolajewitsch!« rief sie. »Bitte, geben Sie mir doch den Brief von gestern.«

Zusammen mit Mawrikij Nikolajewitsch trat auch ich an den Tisch heran.

»Schauen Sie sich mal dies hier an«, wandte sie sich auf einmal an mich und schlug in großer Aufregung den Brief auseinander. »Haben Sie schon je etwas Ähnliches gesehen? Bitte, lesen Sie es laut vor; es scheint mir notwendig, daß es auch Herr Schatow hört.«

Mit nicht geringem Erstaunen las ich denn laut folgendes Schreiben:

» Der Vollkommenheit des Fräuleins Tuschina.

Gnädiges Fräulein, Jelisaweta Nikolajewna!

O, wie ist sie hübsch, o ja,
Jelisaweta Tuschina.
Wenn sie mit ihrem Verwandten im Damensattel flieget,
Und ihrer Locken Meer im Wind sich spielend bieget,
Oder wenn sie mit der Mutter in der Kirche kniet,
Und man den Glanz und die Röte der andachtsvollen Gesichter siehet.
Dann verlangt es mich nach gesetzlichen Ehegenüssen,
Und ich muß hinter ihr und ihrer Frau Mutter Tränen vergießen.

Verfaßt von einem Ungelehrten im Streit.

Gnädiges Fräulein!

Mehr als alle bedaure ich selbst, daß ich in Sewastopol nicht einen Arm um des Ruhmes willen verloren habe, da ich überhaupt nicht dort gewesen bin, sondern während des ganzen Feldzuges bei der Austeilung des gemeinen Proviants tätig war, wennwohl ich das für unwürdig hielt. Sie sind eine Göttin des Altertums, ich aber bin ein Nichts und ahne nur die Grenzenlosigkeit. Betrachten Sie das Obige als Verse, aber als nichts mehr, denn Verse sind immerhin dummes Zeug und sind lediglich geeignet, das zu entschuldigen, was in Prosa als Dreistigkeit gelten würde. Kann denn aber die Sonne einem Infusorium zürnen, wenn dieses an sie aus dem Wassertropfen schreibt, wo ihrer eine Menge ist, wenn man ein Mikroskop benutzt? Sogar jener Verein der Menschenliebe zu den großen Viechern, der sich in Petersburg in der höchsten Gesellschaft gebildet hat und so sehr mit Hunden und Pferden Mitleid empfindet, was mit Recht geschieht, verachtet das winzige Ausgußtierchen und erwähnt es gar nicht, weil es eben noch nicht groß genug ist. Auch ich bin noch nicht groß genug geworden. Der Gedanke an eine Ehe könnte zum Totlachen sein; aber bald werde ich meine früheren zweihundert Seelen besitzen, und zwar durch einen Menschenfeind, den Sie verachten müssen. Ich kann vieles mitteilen und erbiete mich auf Grund schriftlicher Beweise und Dokumente sogar nach Sibirien ... Verachten Sie meinen Antrag nicht. Den Brief des Infusoriums bitte ich als poetische Form aufzufassen.

Hauptmann Lebiadkin,
ein Freund in Ergebenheit und hat viel freie Zeit.«

»Das hat ein betrunkener Schuft geschrieben!« rief ich entrüstet. »Ich kenne den Menschen.«

»Diesen Brief habe ich gestern erhalten«, begann uns Lisa hastig zu erklären. Sie war ganz rot geworden. Ich habe sofort selbst eingesehen, daß er von irgendeinem Narren herrührt und habe maman bis jetzt noch nichts davon gesagt, um sie nicht noch mehr aufzuregen. Wenn er aber damit fortfahren wird, dann weiß ich wirklich nicht, wie ich mich dazu verhalten soll. Mawrikij Nikolajewitsch will zu ihm hingehen und es ihm verbieten. Da ich Sie als meinen Mitarbeiter betrachte,« fuhr sie fort, zu Schatow gewendet, »und da Sie in demselben Hause wohnen, so wollte ich Sie über ihn fragen, um beurteilen zu können, was von ihm noch weiter erwartet werden kann.«

»Er ist ein Trunkenbold und ein Lump«, murmelte Schatow wie mit Überwindung.

»Ist er denn immer so dumm?«

»Ach nein, er ist durchaus nicht dumm, wenn er nüchtern ist.«

»Ich kannte einen General, der genau solche Gedichte machte«, bemerkte ich lachend.

»Es ist sogar schon aus diesem Briefe zu ersehen, daß er schlau ist«, warf der bisher schweigsame Mawrikij Nikolajewitsch unerwartet dazwischen.

»Es heißt, er lebt mit einer Schwester zusammen?« fragte Lisa.

»Ja, das stimmt.«

»Man sagt, er tyrannisiere sie. Ist das auch wahr?«

Schatow blickte Lisa wieder an, machte ein finsteres Gesicht, brummte: »Was geht es mich an!« und ging zur Türe.

»Ach, warten Sie doch«, rief Lisa unruhevoll. »Wohin wollen Sie denn? Wir haben ja noch so vieles miteinander zu besprechen ...«

»Was denn? Ich werde Ihnen morgen Bescheid zukommen lassen ...«

»Wir haben noch über das Wichtigste nicht gesprochen, über die Druckerei! Sie können mir glauben, ich treibe keinen Scherz, es ist mir bitter ernst mit diesem Buch«, versicherte Lisa in immer wachsender Unruhe. »Wo werden wir es aber drucken lassen, wenn wir uns dazu entschließen, das Werk herauszugeben? Das ist doch die wichtigste Frage! Wir können doch nicht deswegen nach Moskau reisen, und in der hiesigen Druckerei ist die Herstellung eines solchen Werkes eine Unmöglichkeit. Ich habe mich schon längst dafür entschieden, eine eigene Druckerei einzurichten, wenn auch, sagen wir, auf Ihren Namen, und Mama wird es bestimmt erlauben, wenn es eben auf Ihren Namen geschieht ...«

»Woher wissen Sie denn, daß ich etwas vom Druckereiwesen verstehe?« fragte Schatow mürrisch.

»Das hat mir Piotr Stepanowitsch noch in der Schweiz gesagt und dabei versichert, daß Sie eine Druckerei leiten können und mit der Arbeit vertraut sind. Er wollte mir sogar einen Brief an Sie mitgeben; aber ich habe es vergessen.«

Wie ich mich erinnere, veränderte sich nach diesen Worten von ihr etwas in Schatows Gesicht. Er blieb noch einige Sekunden stehen und ging dann plötzlich aus dem Zimmer.

Lisa wurde ärgerlich.

»Geht er immer so weg?« fragte sie mich.

Ich hatte eben die Achseln gezuckt, als Schatow auf einmal wieder zurückkehrte, geradewegs auf den Tisch zuging und das anfangs mitgenommene Zeitungspaket darauflegte.

»Ich werde nicht Ihr Mitarbeiter sein, ich habe keine Zeit ...«

»Warum denn, warum denn? Es scheint, ab ob Sie mir wegen irgend etwas zürnen?« fragte Lisa in einem betrübten und bittenden Ton.

Dieser Klang ihrer Stimme hatte auf ihn wahrscheinlich Eindruck gemacht; ein paar Augenblicke sah er sie unverwandt an, wie wenn er in die geheimsten Winkel ihrer Seele hineinsehen wollte.

»Einerlei«, murmelte er leise. »Ich will nicht ...«

Und er ging endgültig fort. Lisa war außerordentlich verblüfft, sogar mehr, als man es hätte erwarten können. Wenigstens hatte ich diesen Eindruck.

»Ein höchst sonderbarer Mensch!« bemerkte laut Mawrikij Nikolajewitsch.

3

Gewiß war Schatow »sonderbar«, aber es lag in dieser Sache doch noch ungemein viel Unklares. Hier mußte unbedingt noch etwas dahinterstecken. Ich glaubte entschieden nicht an diese Verlagsidee; ferner war da Lebiadkins dummer Brief, in dem er sich gar zu deutlich erbot, irgendeine Denunziation auf Grund »von Dokumenten« zu machen, worüber sie jedoch alle schwiegen, da sie es anscheinend vorzogen, von etwas ganz anderem zu sprechen. Und endlich erschien mir auch die Druckerei ganz merkwürdig, wie auch der Umstand, daß Schatow plötzlich fortgegangen war, gerade weil Lisa über die Druckerei zu sprechen angefangen hatte. Das alles brachte mich auf die Vermutung, daß hier schon vorher etwas vorgefallen war, wovon ich nichts wußte, und daß ich mithin völlig überflüssig sei, und mich die ganze Sache überhaupt nichts anginge. Auch war es bereits Zeit zum Fortgehen: für einen ersten Besuch hatte ich mich da lange genug aufgehalten. Ich trat an Lisaweta Nikolajewna heran, um mich zu verabschieden.

Sie schien gänzlich vergessen zu haben, daß auch ich noch im Zimmer war, stand immer noch in Gedanken versunken auf derselben Stelle neben dem Tisch und stierte mit gesenktem Kopf auf einen bestimmten Punkt im Teppichmuster.

»Ach, Sie wollen auch schon gehen? Auf Wiedersehen!« murmelte sie in ihrem gewöhnlichen, freundlichen Ton. »Grüßen Sie bitte Stepan Trofimowitsch von mir und überreden Sie ihn, recht bald wieder zu mir zu kommen. Mawrikij Nikolajewitsch, Anton Lawrentjewitsch will schon gehen. Entschuldigen Sie, Mama kann nicht kommen, um sich von Ihnen zu verabschieden ...«

Ich ging hinaus und war schon die Treppe hinabgestiegen, als mich plötzlich an der Haustür ein Diener einholte.

»Gnädigste läßt sehr bitten, noch einmal zurückzukommen ...«

»Die gnädige Frau oder Lisaweta Nikolajewna?«

»Ganz recht, das gnädige Fräulein.«

Ich fand Lisa nicht mehr in jenem großen Salon, in dem wir soeben gesessen haben, sondern in dem anstoßenden Empfangszimmer. Die Tür nach dem Salon, in dem jetzt Mawrikij Nikolajewitsch allein zurückgeblieben war, fand ich fest zugemacht vor.

Lisa war sehr blaß, lächelte mir aber zu. Sie stand mitten im Zimmer, und es war deutlich zu sehen, daß sie mit sich kämpfte und unentschlossen war; plötzlich aber faßte sie mich bei der Hand und führte mich hastig, ohne ein Wort zu sagen, ans Fenster.

»Ich will sie unbedingt sofort sehen«, flüsterte sie mir zu, indem sie einen leidenschaftlichen, energischen, ungeduldigen Blick auf mich richtete, der nicht den geringsten Widerspruch zuließ. »Ich muß sie mit meinen eigenen Augen sehen und bitte Sie, mir dabei behilflich zu sein.«

Sie war ganz außer sich und – verzweifelt.

»Wen wollen Sie sehen, Lisaweta Nikolajewna?« erkundigte ich mich erschrocken.

»Diese Lebiadkina, diese Lahme ... Ist es wahr, daß sie lahm ist?«

Ich war im höchsten Grade verblüfft.

»Ich habe sie noch nie gesehen, aber es wurde mir gesagt, daß sie lahm sei. Noch gestern hat man es mir erzählt«, stammelte ich mit einer eiligen Dienstfertigkeit und ebenfalls im Flüsterton.

»Ich muß sie unbedingt sehen. Können Sie das noch heute bewerkstelligen?«

Ich empfand mit ihr großes Mitleid.

»Das ist unmöglich, und außerdem weiß ich durchaus nicht, wie ich das einrichten könnte«, begann ich ihr zuzureden. »Ich will Schatow aufsuchen ...«

»Wenn Sie es bis morgen nicht machen können, so gehe ich selbst zu ihr hin, und zwar ganz allein, denn Mawrikij Nikolajewitsch will nicht mitkommen. Ich hoffe nur noch auf Ihre Hilfe; außer Ihnen habe ich keinen Menschen mehr; ich habe so dumm mit Schatow gesprochen ... ich bin fest davon überzeugt, daß Sie ein durchaus ehrenhafter Mann und vielleicht mir ergeben sind. Ermöglichen Sie es nur!«

Ich spürte den leidenschaftlichen Wunsch, ihr in allem behilflich zu sein.

»Ich werde folgendes tun,« sagte ich nach kurzem Nachdenken, »ich will heute selbst hingehen und werde sie heute unter allen Umständen, also bestimmt sehen! Ich werde es schon so einrichten, daß ich sie zu sehen bekomme. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf. Gestatten Sie mir nur, daß ich mich Schatow anvertraue.«

»Sagen sie ihm, daß es sich um einen dringenden Wunsch handelt, und daß ich länger zu warten nicht mehr imstande bin. Teilen Sie ihm aber auch mit, daß ich ihn soeben durchaus nicht etwa zu täuschen versucht habe. Er ist vielleicht nur deshalb weggegangen, weil er so ehrlich ist, und weil es ihm mißfallen hat, daß ich ihn anscheinend hinters Licht zu führen versucht hatte. Er irrt sich aber, wenn er so denkt, ich will allen Ernstes das Buch herausgeben und eine Druckerei gründen ...«

»Er ist ehrlich, sehr ehrlich«, bestätigte ich eifrig.

»Wenn es sich übrigens bis morgen nicht einrichten läßt, dann will ich selbst hingehen, komme, was da kommen mag, und wenn es auch alle erfahren.«

»Vor drei Uhr kann ich aber morgen nicht bei Ihnen sein«, bemerkte ich, etwas zur Besinnung kommend.

»Dann um drei Uhr? Dann habe ich also gestern bei Stepan Trofimowitsch richtig vermutet, daß Sie mir einigermaßen ergeben sind?« sagte sie lächelnd, drückte mir eilig zum Abschied die Hand und begab sich dann schnell zu dem alleingelassenen Mawrikij Nikolajewitsch.

Ich ging fort, fühlte mich von meinem Versprechen niedergedrückt, und begriff gar nicht, was eigentlich vorgefallen war. Ich hatte eine Frau in echter Verzweiflung gesehen, eine Frau, die sich nicht davor gefürchtet hatte, sich durch eine Vertraulichkeit mit einem fast ganz unbekannten Manne zu kompromittieren. Ihr weibliches Lächeln in einem für sie so schweren Augenblick und die Andeutung, daß sie schon gestern meine Gefühle durchschaut hatte, wirkten auf mich wie ein Stich ins Herz; aber sie tat mir leid, sehr leid, – und ich empfand nichts weiter als eben Mitleid! Ihre Geheimnisse bekamen für mich plötzlich den Schein des Heiligen, und wenn mir jemand diese jetzt würde enthüllen wollen, so würde ich mir wahrscheinlich die Ohren zustopfen, um nichts weiter zu hören. Ich ahnte nur etwas ... Und doch wußte ich noch gar nicht, auf welche Weise ich ihrem Wunsche erfolgreich nachkommen könnte. Noch mehr: ich wußte noch nicht einmal, was ich eigentlich zu ermöglichen hatte! Eine Zusammenkunft? Aber was für eine Zusammenkunft? Und wie sollte ich das anfangen? Meine ganze Hoffnung beruhte auf Schatow, obwohl ich mir eigentlich im voraus sagen mußte, daß er mir nicht helfen werde. Dennoch eilte ich zu ihm.

4

Erst abends, kurz vor acht Uhr, gelang es mir, ihn zu Hause zu treffen. Zu meiner Verwunderung hatte er Besuch: Alexej Nilytsch saß bei ihm und noch ein mir nur wenig bekannter Herr namens Schigaliow, ein Bruder von Frau Wirginskaja.

Dieser Schigaliow weilte schon fast zwei Monate in unserer Stadt. Woher er gekommen war, wußte ich nicht, ich hatte über ihn nur gehört, daß er in einer fortschrittlichen Petersburger Zeitschrift eine Abhandlung veröffentlicht hatte. Wirginskij machte mich mit ihm einmal gelegentlich auf der Straße bekannt. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie einen Menschen mit einem so mürrischen, verdrossenen und finsteren Gesicht gesehen. Er blickte so um sich her, als wenn er den Weltuntergang erwartete, und zwar nicht etwa irgendwann, wie es verschiedene Prophezeiungen verkündeten, die nicht unbedingt in Erfüllung gehen mußten, sondern zu einer ganz bestimmten Zeit, sagen wir etwa übermorgen vormittags um zehn Uhr und fünfundzwanzig Minuten. Wir hatten übrigens damals kaum zwei Worte miteinander gewechselt, sondern nur wie zwei Verschwörer einander die Hand gedrückt. Am meisten fielen mir gleich seine Ohren auf, die von fast übernatürlicher Größe, lang, breit und dick waren und ganz eigentümlich abstanden. Seine Bewegungen waren ungelenk und langsam. Wenn Liputin auch mitunter davon träumte, daß seine kommunistischen Gemeindehäuser in unserem Gouvernement zur Wirklichkeit werden könnten, so mußte dieser Schigaliow wohl aufs genaueste Tag und Stunde wissen, wann dies geschehen werde. Er hatte auf mich einen ganz unheimlichen Eindruck gemacht; als ich ihn jetzt aber bei Schatow erblickte, war ich erstaunt, um so mehr, da ich wußte, daß Schatow überhaupt nicht gern Besuch bei sich sah.

Noch als ich die Treppe heraufstieg, hörte ich, wie sie alle drei zugleich sprachen und sich allem Anschein nach stritten. Kaum aber war ich in der Tür erschienen, als sie verstummten. Bis zu meinem Kommen hatten sie gestanden; nun aber setzten sie sich auf einmal alle hin, so daß auch ich mich hinsetzen mußte. Das dumme Schweigen dauerte fast volle drei Minuten lang. Obwohl Schigaliow mich wiedererkannte, tat er doch so, als kenne er mich nicht, und zwar nicht etwa aus Feindschaft, sondern wahrscheinlich ganz ohne Absicht. Mit Alexej Nilytsch wechselte ich einen leichten, stummen Gruß, aber aus irgendeinem unbestimmten Grund reichten wir uns nicht die Hand. Schigaliow begann endlich, mich streng und finster anzustieren, in dem sehr naiven Glauben, daß ich dann von selbst aufstehen und hinausgehen würde. Schließlich erhob sich Schatow von seinem Stuhle, und alle anderen sprangen plötzlich ebenfalls auf. Sie gingen fort, ohne sich zu verabschieden, und nur Schigaliow wandte sich, schon an der Tür, zu Schatow, der sie begleitete, und sagte:

»Vergessen Sie nicht, daß Sie Rechenschaft schuldig sind.«

»Ich pfeife auf Ihre Rechenschaft und bin keinem Teufel etwas schuldig«, entgegnete Schatow und legte den Haken vor die Tür.

»Die dummen Kerle!« rief er, indem er mich ansah, und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.

Sein Gesicht drückte Ärger aus, und es mutete mich seltsam an, daß er von selbst zu sprechen anfing. Wenn ich früher mal zu ihm kam, was übrigens jedoch sehr selten geschah, so setzte er sich gewöhnlich mit einer düsteren Miene in eine Ecke, gab ärgerliche Antworten, wurde erst nach längerer Zeit etwas lebhafter und begann erst dann mit Vergnügen zu sprechen. Beim Abschied machte er aber jedesmal wieder ein mürrisches Gesicht und entließ seinen Gast immer, wie wenn er sich einen persönlichen Feind vom Halse schaffte.

»Ich habe bei diesem Alexej Nilytsch gestern Tee getrunken«, bemerkte ich. »Der Atheismus scheint bei ihm zu einer fixen Idee geworden zu sein.«

»Der russische Atheismus ist noch nie über eine Wortspielerei hinausgekommen«, brummte Schatow, indem er eine neue Kerze anstatt des bisherigen Stümpfchens in den Leuchter steckte.

»Nein, dieser Mann scheint mir an Witzeleien keinen Gefallen zu haben. Er versteht nicht einmal einfach zu sprechen, geschweige denn Wortspiele zu erfinden.«

»Das sind alles Hampelmänner. Bei ihnen kommt alles von der lakaienhaften Denkweise her«, bemerkte Schatow ruhig, setzte sich in eine Ecke auf einen Stuhl und stützte sich mit beiden Händen auf die Knie.

»Haß ist auch dabei«, sagte er, nachdem er etwa eine Minute lang geschwiegen hatte. »Sie wären als erste kreuzunglücklich, wenn Rußland sich irgendwie umgestalten würde, selbst in der Art, die ihren eigenen Wünschen entspräche, und wenn es auf einmal unermeßlich reich und glücklich dastünde. Dann hätten sie keinen Menschen mehr, den sie hassen und verhöhnen, und nichts, worauf sie spucken könnten! Aus ihnen spricht nichts weiter als ein tierischer, grenzenloser Haß gegen Rußland, der sich in ihren Organismus geradezu hineingefressen hat ... und es kann hierbei von irgendwelchen ›unsichtbaren Tränen‹, die man angeblich mit einem sichtbaren Lachen verbergen will, gar keine Rede sein! Noch nie ist in Rußland etwas Verlogeneres gesagt worden als diese schönen Worte von den unsichtbaren Tränen«, rief er beinah wütend aus.

»Aber, Sie reden ja Gott weiß was!« bemerkte ich lachend.

»Und Sie sind ein gemäßigter Liberaler«, erwiderte Schatow und lächelte ebenfalls. »Wissen Sie,« fügte er plötzlich hinzu, »vielleicht habe ich da in der Tat eine Dummheit gesagt, als ich von der ›lakaienhaften Denkweise‹ sprach; Sie werden mir wahrscheinlich sofort erwidern: ›Du bist selbst als Sohn eines Lakaien geboren, ich aber bin kein Lakai.‹«

»Das wollte ich durchaus nicht sagen. Ich bitte Sie! Was reden Sie nur!«

»Sie brauchen sich gar nicht zu entschuldigen, ich fürchte Sie nicht. Seinerzeit war ich nur als der Sohn eines Lakaien geboren, jetzt aber bin ich selbst zu einem Lakaien geworden, zu einem ebensolchen, wie Sie es sind. Unser russischer Liberaler ist vor allen Dingen ein Lakai und hält ständig Ausschau, um ja jemandem die Stiefel putzen zu können.«

»Was für Stiefel? Was ist das für eine Allegorie!«

»Was heißt hier Allegorie! Sie lachen, wie ich sehe ... Stepan Trofimowitsch hat ganz recht, wenn er sagt, daß ich unter einem Stein liege, zwar zusammengequetscht, aber nicht totgedrückt, und mich krümme und winde; dieser Vergleich ist ganz vortrefflich ...«

»Stepan Trofimowitsch behauptet, daß sie ein fanatischer Deutschenhasser sind«, bemerkte ich lachend. »Wir haben doch aber vieles von den Deutschen entlehnt und in unsere Tasche gesteckt.«

»Zwanzig Kopeken haben wir genommen und hundert Rubel eigenes Geld hingegeben.«

Etwa eine Minute lang schwiegen wir.

»Das alles hat er sich beim Liegen in Amerika erworben.«

»Wer? Was erworben? Bei welchem Liegen?«

»Ich meine Kirillow. Wir beide haben dort vier Monate lang in einer Hütte auf dem Fußboden gelegen.«

»Ja, sind Sie denn auch in Amerika gewesen?« fragte ich verwundert. »Sie haben ja nie davon gesprochen.«

»Was ist davon zu erzählen! Vor zwei Jahren fuhren wir zu dritt für unser letztes Geld auf einem Auswandererdampfer nach den Vereinigten Staaten, ›um das Leben der amerikanischen Arbeiter persönlich zu studieren und auf diese Weise den Zustand des Menschen in seiner schlimmsten sozialen Lage am eigenen Leibe kennenzulernen.‹ Nur aus diesem Grunde haben wir diese Reise gemacht.«

»Herrgott,« rief ich lachend, »da hätten Sie zur Erntezeit nur in unserem Gouvernement irgendwohin als Arbeiter zu gehen brauchen, um ›am eigenen Leibe‹ das zu erfahren, was sie kennenlernen wollten. Da war doch die Fahrt nach Amerika völlig überflüssig!«

»Wir verdingten uns da als Arbeiter bei einem Ausbeuter; es waren unserer insgesamt sechs Russen: Studenten, Gutsbesitzer, die eigene Güter hatten, sogar Offiziere. Und alle waren zu demselben großartigen Zweck hingefahren. Nun, da haben wir also gearbeitet, geschwitzt, uns gequält und müde gemacht. Schließlich wurden wir beide, Kirillow und ich, krank. Wir hielten es nicht mehr aus und gingen weg. Der ausbeuterische Unternehmer übervorteilte uns bei der Abrechnung. Statt der vereinbarten dreißig Dollar bezahlte er mir acht und ihm fünfzehn; auch hatte man uns dort wiederholt geprügelt. Nun, da lagen wir denn, Kirillow und ich, vier Monate lang arbeitslos auf dem Fußboden nebeneinander; er dachte seine Gedanken und ich die meinen.«

»Ist das wirklich möglich, daß der Unternehmer Sie geprügelt hat? In Amerika? Na, da haben Sie wohl schön über ihn geschimpft!«

»Durchaus nicht. Wir haben uns, Kirillow und ich, sogar im Gegenteil, sofort gesagt, daß ›wir Russen den Amerikanern gegenüber noch kleine Kinder sind, und daß man in Amerika geboren sein oder wenigstens lange Jahre mit den Amerikanern zusammengelebt haben muß, um sich ihnen gleichstellen zu können‹. Noch mehr sogar: wenn man von uns für einen Gegenstand, der kaum eine Kopeke wert war, einen Dollar forderte, so zahlten wir ihn nicht nur mit Vergnügen, sondern sogar noch mit Begeisterung. Wir lobten alles: den Spiritismus, das Lynchgesetz, die Revolver, die Landstreicher. Einmal fuhren wir irgendwohin, da griff ein fremder Mann in meine Tasche, zog meine Haarbürste heraus und brachte damit sein Haar in Ordnung; Kirillow und ich sahen einander nur an und entschieden, daß dieses Benehmen gut sei und uns sehr gefalle ...«

»Es ist doch sonderbar, daß bei uns solche Gedanken nicht nur entstehen, sondern auch in die Tat umgesetzt werden«, bemerkte ich.

»Wir sind lauter Hampelmänner«, wiederholte Schatow.

»Jedenfalls aber ist dieses Experiment, diese Fahrt über den Ozean auf einem Auswandererschiff in ein unbekanntes Land, wenn auch mit der Absicht, etwas ›am eigenen Leibe zu erfahren‹ und so weiter, bei Gott das beste Zeugnis für eine wirklich hochsinnige Festigkeit ... Wie sind Sie denn da wieder herausgekommen?«

»Ich schrieb an jemand in Europa, und er schickte mir hundert Rubel.«

Bis dahin hatte Schatow, während er sprach, seiner Gewohnheit gemäß hartnäckig auf den Boden gestiert, selbst dann, wenn er in Eifer geriet. Jetzt aber hob er plötzlich den Kopf in die Höhe:

»Wollen Sie den Namen dieses Menschen wissen?«

»Wer war es denn?«

»Nikolaj Stawrogin.«

Er stand plötzlich auf, wandte sich zu seinem Schreibtisch aus Lindenholz und begann, auf ihm herumzukramen. Bei uns war ein dunkles, aber glaubwürdiges Gerücht im Umlauf, daß seine Frau in Paris eine Zeitlang in ganz nahen Beziehungen zu Stawrogin gestanden hatte, und zwar gerade vor zwei Jahren, also eben damals, als Schatow in Amerika war, allerdings schon lange, nachdem sie ihn in Genf verlassen hatte. »Wenn dem aber so ist, was hat ihn denn jetzt dazu veranlaßt, mir den Namen zu nennen und mir überhaupt von dieser Geschichte zu erzählen?« dachte ich.

»Ich habe es ihm bis jetzt noch nicht zurückgegeben«, fuhr er fort, indem er sich wieder zu mir umwandte; dann sah er mich unverwandt an, setzte sich auf seinen früheren Platz in der Ecke und fragte kurz und mit einer ganz veränderten Stimme:

»Sie haben doch bestimmt irgendein Anliegen; was führt Sie zu mir?«

Ich erzählte ihm sogleich alles ganz genau der Reihe nach und fügte hinzu, daß ich, obwohl ich nach meinem früheren Eifer bereits gewissermaßen zur Besinnung gekommen sei, mich doch in noch größerer Verlegenheit befände. Denn, sagte ich, ich hätte jetzt begriffen, daß es sich hier um etwas sehr Wichtiges für Lisaweta Nikolajewna handle, daß ich den dringenden Wunsch verspürte, ihr zu helfen, jedoch nicht wüßte, wie ich das ihr gegebene Wort halten sollte und mir sogar nicht mehr ganz darüber im klaren sei, was ich ihr eigentlich versprochen hatte. Darauf versicherte ich ihm nochmals mit allem Nachdruck, daß sie gar nicht daran gedacht habe, ihn zu täuschen, daß hier ein Mißverständnis vorliege und sie sehr betrübt darüber gewesen sei, daß er heute in so ungewöhnlicher Art weggegangen wäre.

Er hatte sehr aufmerksam zugehört.

»Vielleicht habe ich, wie gewöhnlich, auch heute vormittag wieder eine Dummheit gemacht ... Wenn sie aber selbst nicht begriffen hat, warum ich weggegangen bin, so ist es ... um so besser für sie.«

Er stand auf, trat zur Tür, öffnete sie ein wenig und horchte hinaus.

»Wollen Sie Fräulein Lebiadkina selbst sehen?«

»Das ist es ja gerade, was ich möchte! Aber wie soll ich das anfangen?« rief ich erfreut.

»O, wir gehen einfach hin und besuchen sie, solange sie noch allein ist. Wenn er kommt und erfährt, daß wir dagewesen sind, dann prügelt er sie. Ich gehe oft heimlich zu ihr. Ich habe ihn kürzlich verdroschen, als er wieder anfing, sie zu schlagen.«

»Tatsächlich?«

»Jawohl. Ich mußte ihn an den Haaren von ihr wegreißen; er wollte auch mich dafür durchwalken, aber ich habe ihn eingeschüchtert, und damit war die Sache zu Ende. Ich fürchte nur, daß, wenn er jetzt betrunken heimkehrt und sich daran erinnert, die Ärmste wieder viel Schläge bekommen wird.«

Wir gingen sogleich nach unten.

5

Die Tür zur Lebiadkinschen Wohnung war nur zugemacht, aber nicht verschlossen, und wir traten ungehindert ein. Sie bewohnten zwei häßliche kleine Zimmer mit verräucherten Wänden, von denen die schmutzige Tapete buchstäblich in Fetzen herunterhing. In diesen Räumen hatte der Wirt Filippow früher mehrere Jahre hindurch seine Schenke gehabt, bis er das Geschäft in sein neues Haus verlegt hatte. Die anderen Zimmer, die damals auch zur Schankwirtschaft benutzt wurden, waren jetzt verschlossen, und Lebiadkin mietete nur diese zwei. Das Mobiliar bestand aus einfachen Bänken und einfachen Brettertischen. Außerdem erblickte ich noch einen sehr alten Sessel ohne Lehne. Im zweiten Zimmer stand in der Ecke ein Bett mit einer baumwollenen Decke, in dem Fräulein Lebiadkina ihre Nächte verbrachte. Der Hauptmann selbst warf sich, wenn er sich schlafen legte, jedesmal einfach auf den Fußboden, mitunter sogar, ohne sich zu entkleiden. Überall waren Krümel, Schmutz und Feuchtigkeit zu sehen; ein großer, dicker, ganz nasser Lappen lag in dem ersten Zimmer mitten auf dem Fußboden, und gleich daneben, in der Lache, die sich gebildet hatte, erblickte ich auch einen ausgetretenen Stiefel. Es war klar, daß sich hier niemand um etwas kümmerte, daß keine Öfen geheizt und keine Speisen zubereitet wurden. Die Lebiadkins hatten, wie ich später aus der ausführlichen Erzählung Schatows erfuhr, nicht einmal einen Samowar. Der Hauptmann war, als er mit seiner Schwester in die Stadt kam, bettelarm gewesen und ging, wie Liputin erzählte, in der ersten Zeit tatsächlich zu verschiedenen Leuten betteln; als er dann aber unerwarteterweise plötzlich Geld bekommen hatte, ergab er sich sofort dem Trunk und war von dem Branntwein so aus dem Geleise geworfen worden, daß ihn sein Haushalt gar nicht mehr interessierte.

Mlle. Lebiadkina, die ich so sehr zu sehen wünschte, saß still und ruhig in einer Ecke des zweiten Zimmers auf einer Bank, an einem grob gezimmerten Küchentisch. Als wir eintraten, rief sie uns gar nicht an und rührte sich nicht einmal vom Platz. Schatow erzählte mir, daß die Türen bei ihnen nie geschlossen werden, und daß einmal die ganze Nacht über die Flurtür sperrangelweit offengestanden habe. Beim matten Licht einer dünnen Kerze, die in einem eisernen Leuchter steckte, erblickte ich ein weibliches Wesen von etwa dreißig Jahren, krankhaft mager, gekleidet in ein altes, dunkles Kattunkleid. Sie hatte einen völlig unbedeckten Hals und dünne, dunkle Haare, die im Nacken zu einem kleinen Knoten zusammengefaßt waren, der nicht dicker zu sein schien als die Faust eines etwa zweijährigen Kindes. Sie sah uns ziemlich heiter an; außer dem Leuchter hatte sie vor sich auf dem Tisch einen kleinen Spiegel, wie ihn die Bauern gebrauchen, ein altes Spiel Karten, eine abgerissene Liedersammlung und eine weiße Semmel, von der sie schon zwei- oder dreimal abgebissen hatte. Man sah deutlich, daß Mlle. Lebiadkina sich schminkte und auch die Lippen färbte. Auch malte sie sich die Augenbrauen schwarz, die allerdings auch ohnedies lang, fein und dunkel waren. Auf ihrer engen und hohen Stirn zeichneten sich trotz der weißen Schminke ziemlich deutlich drei lange Fältchen ab. Ich wußte bereits, daß sie lahm war, aber diesmal ging sie während unserer Anwesenheit nicht umher und stand nicht einmal auf. Früher einmal, in der ersten Jugend, mochte dieses abgemagerte Gesicht ganz hübsch gewesen sein; ihre klaren, freundlichen, grauen Augen waren auch jetzt noch bemerkenswert; etwas Träumerisches und Biederes leuchtete aus ihrem fast heiteren Blick. Diese stille, ruhige Fröhlichkeit, die auch in ihrem Lächeln zum Ausdruck kam, verblüffte mich nach allem, was ich von der Kosakenknute und allen Roheiten ihres Herrn Bruders gehört hatte. Und sonderbarerweise verspürte ich nichts von dem peinlichen und sogar ängstlichen Widerwillen, den man sonst in Gegenwart aller solcher von Gott gestraften Wesen empfindet, sondern es war mir gleich vom ersten Augenblick an beinah angenehm, sie anzusehen. Später bemächtigte sich meiner nur noch Mitleid, und ich hatte gar kein anderes Gefühl mehr.

»So sitzt sie nun buchstäblich tagelang ganz allein da und rührt sich nicht vom Platz. Entweder betrachtet sie sich in dem Spiegel oder sie legt Karten«, sagte mir Schatow, indem er auf sie von der Schwelle aus hinwies. »Er gibt ihr nicht einmal zu essen. Nur die Alte aus dem Seitengebäude bringt ihr hin und wieder etwas, um Christi willen. Mich wundert es nur, daß man sie so allein mit der Kerze läßt.«

Zu meiner Überraschung redete Schatow laut, wie wenn sie gar nicht im Zimmer wäre.

»Guten Abend, Schatuschka!« sagte Mlle. Lebiadkina freundlich.

»Ich habe dir einen Gast mitgebracht, Maria Timofejewna«, erklärte Schatow.

»Nun, dem Gast alle Ehre, er sei mir willkommen. Ich weiß nicht, wen du da hergebracht hast, ich kann mich so eines Mannes gar nicht erinnern«, erwiderte sie, betrachtete mich ein Weilchen unverwandt hinter dem Lichte und wandte sich sofort wieder zu Schatow. Um mich kümmerte sie sich nun während des ganzen Gespräches überhaupt nicht mehr und tat so, als ob ich gar nicht im Zimmer wäre.

»Es ist dir wohl langweilig geworden, allein auf deinen Fußböden umherzuwandern?« fragte sie lachend, wobei sie zwei Reihen herrlicher Zähne zeigte.

»Ja, einerseits langweilte ich mich, andererseits aber wollte ich dich besuchen.«

Schatow rückte eine Bank an den Tisch, setzte sich hin und veranlaßte mich, neben ihm Platz zu nehmen.

»Über ein Gespräch mit dir freue ich mich immer, aber du kommst mir doch komisch vor, Schatuschka. Es ist, als ob du ein Mönch wärest. Wann hast du dich denn zum letztenmal gekämmt? Komm, ich werde dein Haar in Ordnung bringen!« Und bei diesen Worten zog sie ein Kämmchen aus der Tasche. »Seitdem ich dich neulich frisiert habe, hast du wohl dein Haar überhaupt nicht wieder angerührt?«

»Ich habe ja nicht einmal einen Kamm«, erwiderte Schatow ebenfalls lachend.

»Wirklich nicht? Dann will ich dir meinen schenken; nicht diesen hier, sondern einen andern, du mußt mich nur daran erinnern.«

Mit dem ernstesten Gesichte begann sie ihn nun zu kämmen, zog ihm sogar einen Scheitel auf der Seite, lehnte sich dann ein wenig zurück, um zu sehen, ob ihr alles gut gelungen war, und steckte daraufhin den Kamm wieder in die Tasche.

»Weißt du was, Schatuschka,« sagte sie und schüttelte den Kopf, »du bist vielleicht sonst ein ganz vernünftiger Mensch und langweilst dich dennoch. Ich muß mich doch über euch alle wundern: ich verstehe es einfach nicht, wie sich Leute langweilen können. Gram und Sehnsucht sind doch nicht langweilig. Ich bin vergnügt.«

»Auch wenn dein Bruder da ist?«

»Meinst du Lebiadkin? Das ist mein Lakai. Und es ist mir ganz gleichgültig, ob er da ist oder nicht. Wenn ich ihm befehle: ›Lebiadkin, hole Wasser! Lebiadkin, bringe mir meine Schuhe her!‹ dann läuft er nur so. Manchmal versündige ich mich sogar, aber ich muß wirklich über ihn lachen.«

»Und das verhält sich tatsächlich genau so, wie sie es sagt«, bemerkte Schatow, indem er sich laut und ungeniert an mich wandte. »Sie behandelt ihn ganz und gar wie einen Lakaien. Ich habe selbst gehört, wie sie ihm zurief: ›Lebiadkin, bringe Wasser!‹ Und wie sie dazu lachte. Der einzige Unterschied besteht nur darin, daß er keineswegs ihren Befehlen gehorcht, sondern sie ihres Benehmens wegen schlägt. Aber sie fürchtet ihn ganz und gar nicht. Sie hat fast jeden Tag eine Art von Nervenanfällen, die ihr Gedächtnis verdunkeln, so daß sie danach alles vergißt, was sich eben erst zugetragen hat, und immer die Zeiten verwechselt. Sie denken vielleicht, daß sie sich daran erinnert, wie wir hereingekommen sind? Möglich ist es schon, aber sie hat sich bestimmt alles in ihrer Weise zurechtgelegt und hält uns jetzt wahrscheinlich für ganz andere Menschen, als wir in Wirklichkeit sind, obwohl sie noch weiß, daß ich Schatuschka bin. Daß ich laut spreche, schadet nicht. Was man nicht zu ihr sagt, hört sie gar nicht und überläßt sich lieber ihren Träumereien, in die sie ganz versinkt, statt zuzuhören. Sie ist eine erstaunliche Träumerin. Mitunter sitzt sie acht Stunden, ja, einen ganzen Tag lang auf einem Fleck. Da liegt eine Semmel; vielleicht hat sie seit dem Morgen nur ein einziges Mal hineingebissen und wird sie erst morgen zu Ende essen. Schauen Sie, jetzt hat sie wieder angefangen, sich Karten zu legen ...«

»Ich lege mir die Karten, Schatuschka, aber es kommt doch nichts Ordentliches dabei heraus«, fiel ihm auf einmal Maria Timofejewna ins Wort, da sie wahrscheinlich diesen letzten Satz gehört hatte. Es ist anzunehmen, daß sie auch seine Worte über die Semmel vernommen hatte, denn nun streckte sie, suchend ohne hinzusehen, die linke Hand nach dem Gebäck aus. Endlich erfaßte sie das Brötchen. Nachdem sie es aber eine Zeitlang in der linken Hand gehalten hatte, legte sie es, durch das neu begonnene Gespräch gefesselt, wieder auf den Tisch, ohne auch ein einziges Stückchen abgebissen zu haben und ohne sich ihrer Handlungsweise bewußt zu werden.

»Es kommt immer dasselbe heraus: eine Reise, ein böser Mensch, irgend jemands Hinterlist, ein Sterbebett, ein Brief von irgendwoher, eine unerwartete Nachricht, – ich nehme an, daß es alles nicht wahr ist, wie denkst du darüber, Schatuschka? Wenn schon die Menschen lügen, weshalb sollen es die Karten nicht tun?« erklärte sie und mischte die bereits hingelegten Karten wieder. »Ganz dasselbe habe ich einmal auch zu Mutter Praskowia gesagt; sie war eine achtbare Frau und kam immer in meine Zelle gelaufen, um sich ohne Wissen der Mutter Äbtissin Karten legen zu lassen. (Und nicht sie allein war es, die zu mir um dieses Zwecks willen kam.) Sie riefen alle ›Ach und oh!‹ schüttelten die Köpfe und redeten und berieten. Ich aber lachte: ›Wie sollten Sie,‹ sagte ich, ›Mutter Praskowia, jetzt mit einemmal einen Brief bekommen, wenn Sie zwölf Jahre lang keinen erhalten haben?‹ hatte sie eine Tochter, die ihrem Mann in die Türkei gefolgt war, und schon zwölf Jahre lang ließ diese nichts von sich hören. Am nächsten Abend sitze ich beim Tee bei unserer Mutter Äbtissin, die aus einer Fürstenfamilie stammte. Außer uns beiden war da noch eine auswärtige Dame, die sich allen möglichen Träumereien ergab, und ein Mönch vom Berge Athos, den ich für einen sehr komischen Menschen hielt. Und was denkst du dir wohl, Schatuschka, gerade dieser Mönch hatte an demselben Morgen der Mutter Praskowia einen Brief von ihrer Tochter aus der Türkei mitgebracht, – was sagst du nun zum Karobuben, der eine unerwartete Nachricht bedeutet? Wir trinken also unseren Tee, und der Mönch vom Athos sagt zur Mutter Äbtissin: ›Am meisten, ehrwürdige Mutter Äbtissin, hat Gott Ihre Siedlung dadurch gesegnet, daß er Ihnen einen so kostbaren Schatz zur Aufbewahrung in Ihren Mauern anvertraut hat.‹ – ›Was für einen Schatz?‹ fragt die Mutter Äbtissin. – ›Nun, die selige Mutter Lisaweta.‹ Diese selige Mutter Lisaweta war bei uns in der Umfassungsmauer des Klosters eingemauert, in einem Käfig von etwa einer Sashen Länge und zwei Arschin Höhe, und sie saß dort bei uns hinter einem eisernen Gitter schon das siebzehnte Jahr, Sommer und Winter, im bloßen hänfenen Hemde. Sie sprach kein Wort, stach immer mit einem Strohhalm oder einem Stöckchen in ihr Hemd und kämmte sich nicht und wusch sich nicht – die ganzen siebzehn Jahre lang. Im Winter schob man ihr einen Pelz durchs Gitter und alle Tage ein Körbchen mit Brot und einen Krug Wasser hinein. Die Wallfahrer sahen sie an, seufzten, staunten und legten Geld hin. – ›Da haben sie sich wirklich einen Schatz ausgesucht,‹ erwiderte die Mutter Äbtissin, die aufgebracht war, denn sie konnte Lisaweta gar nicht leiden, ›Lisaweta sitzt da in der Mauer nur aus Bosheit, jawohl, lediglich aus Starrsinn, und alles ist nur Verstellung.‹ Das gefiel mir nicht, denn ich wollte mich damals selbst einsperren lassen. So sagte ich denn: ›Meiner Ansicht nach ist Gott und die Natur ein und dasselbe.‹ Da riefen sie alle wie aus einem Munde: ›Nein, so was!‹ Die Äbtissin lachte, flüsterte der fremden Dame etwas zu, rief mich zu sich und streichelte mich. Die Dame aber schenkte mir ein rosa Bändchen, – wenn du willst, kann ich es dir zeigen. Nun, und der Mönch, der hielt mir sofort eine Predigt, er belehrte mich, und zwar freundlich und ruhig und wahrscheinlich auch sehr verständig. Ich saß da und hörte zu. ›Hast du verstanden‹, fragte er mich. ›Nein,‹ sagte ich, ›ich habe nichts verstanden, und lassen Sie mich bitte nur ganz in Ruhe!‹ Seitdem haben sie mich auch nicht wieder belästigt, Schatuschka. Zu jener Zeit aber, als ich einmal aus der Kirche kam, traf ich mich mit einer Nonne, die bei uns Buße tun mußte, weil sie geweissagt hatte, und diese flüsterte mir zu: ›Was, glaubst du wohl, ist die Mutter Gottes?‹ – ›Sie ist eine große Mutter,‹ antwortete ich, ›die Hoffnung des Menschengeschlechts.‹ – ›Ja,‹ sagte sie, ›die Mutter Gottes ist die kühle Mutter Erde, und es liegt eine große Freude für den Menschen darin, und jeder irdische Kummer und jede irdische Träne soll uns eine Freude sein; und wenn du mit deinen Tränen die Erde unter dir einen halben Arschin tief getränkt haben wirst, dann sollst du dich sogleich über alles freuen können. Und du wirst dann gar keinen, gar keinen Kummer mehr haben,‹ sagte sie, ›denn so lautet eine Prophezeiung.‹ – Diese Worte habe ich mir zu Herzen genommen. Seitdem fing ich an beim Gebete, wenn ich mich bis zum Boden verbeugte, jedesmal die Erde zu küssen; ich küßte sie und weinte dabei. Und nun will ich dir sagen, Schatuschka, es liegt nichts Schlechtes in diesen Tränen; und selbst wenn du gar keinen Kummer hast, so kannst du dennoch auch vor Freude weinen. Die Tränen fließen von allein, das ist sicher. Mitunter ging ich an das Seeufer: auf der einen Seite lag unser Kloster und auf der anderen unser spitzer Berg, der auch Spitzberg genannt wurde. Ich stieg auf ihn hinauf, wandte mich mit dem Gesicht gen Osten, fiel zur Erde nieder, weinte und weinte und wußte gar nicht, wie lange ich das tat, und dabei vergaß ich alles um mich. Wenn ich dann aufstand und mich umwandte, da ging schon die Sonne unter, so groß, so herrlich, so lieb ... Siehst du gern in die Sonne, Schatuschka? Es ist so schön, und es wird einem so traurig zumute. Wenn ich mich dann wieder nach dem Osten hinwandte, da sah ich, wie der Schatten, der Schatten unseres Berges wie ein Pfeil weit über den See hinlief, schmal und lang, sehr lang, über eine Werst weit, bis zu der Insel. Und diese steinerne Insel zerschnitt er dann in zwei Hälften; und wenn es soweit war, ging die Sonne ganz unter, und alles erlosch plötzlich. Da begann auch ich traurig zu werden; dann kam mir auf einmal die Erinnerung wieder, und ich fürchtete mich vor der Dunkelheit, Schatuschka. Und da weinte ich meistenteils um mein Kindchen ...«

»Hast du denn eins gehabt?« fragte Schatow, der die ganze Zeit außerordentlich aufmerksam zugehört hatte, und stieß mich mit dem Ellbogen an.

»Und ob! Ein ganz kleines, rosiges Kindchen mit ganz winzigen Nägelchen! Mein ganzer Kummer ist nur, daß ich mich nicht erinnern kann, ob es ein Knabe oder ein Mädchen gewesen war. Bald denke ich, es sei ein Knabe gewesen, und bald ist es mir, als wenn ich ein Mädchen gehabt hätte. Wie ich es aber damals geboren hatte, wickelte ich es gleich in Batist und Spitzen ein, umwand es mit rosa Bändern, bestreute es mit Blumen, verrichtete über ihm ein Gebet und trug es ungetauft weg. Durch den Wald habe ich es getragen und hatte solche Angst, allein im Walde zu sein ... Am meisten weinte ich aber darüber, daß ich es geboren hatte und meinen Mann nicht kannte ...«

»Vielleicht hast du wirklich einen gehabt?« fragte Schatow vorsichtig.

»Du kommst mir lächerlich vor, Schatuschka, mit deinen Gedanken. Ich werde wohl einen Mann geheiratet haben, aber was habe ich davon, wenn es doch genau so ist, als ob ich überhaupt nie verheiratet gewesen wäre? Da hast du gleich auch ein leichtes Rätsel zu knacken, löse es mal!« fügte sie lachend hinzu.

»Wo hast du denn dein Kind hingetragen?«

»In den Teich«, antwortete sie mit einem Seufzer.

Schatow stieß mich wieder mit dem Ellbogen an.

»Wie aber, wenn du überhaupt kein Kind gehabt und das alles nur geträumt hast? Wie?«

»Da legst du mir eine schwierige Frage vor, Schatuschka«, erwiderte sie nachdenklich, ohne über eine derartige Vermutung auch im geringsten erstaunt zu sein. »Darauf kann ich dir nichts sagen; vielleicht habe ich auch wirklich kein Kind gehabt. Aber du fragst ja nur aus lauter Neugier. Ich werde doch nicht aufhören, über das Kindchen zu weinen! Ich hab' es doch nicht nur im Traum gesehen!« Und große Tränen zeigten sich in ihren Augen. »Schatuschka, sag' mal, Schatuschka, ist es wahr, daß deine Frau dir davongelaufen ist?« fragte sie, legte ihm plötzlich beide Hände auf die Schultern und sah ihn mitleidig an. »Du mußt mir aber nicht böse sein, mir ist ja selbst so schwer ums Herz. Weißt du, Schatuschka, was ich für einen Traum gehabt habe? Es träumte mir, er wäre zu mir gekommen und riefe lockend: ›Komm her, mein Kätzchen,‹ sagte er, ›komm heraus, mein Kätzchen, komm zu mir!‹ Am meisten freute ich mich darüber, daß er mich sein ›Kätzchen‹ nannte, – also liebt er mich noch, dachte ich mir.«

»Vielleicht wird er auch in Wirklichkeit kommen«, murmelte Schatow halblaut.

»Nein, Schatuschka, das war nur ein Traum ... In Wirklichkeit wird er wohl nie kommen. Kennst du das Lied:

Ich brauch' keine neuen Gemächer,
Ich bleibe in dieser Zelle,
Ich will meinem Seelenheil leben,
Und zu Gott auch für dich will ich beten.

Ach Schatuschka, Schatuschka, mein Lieber, warum fragst du mich nie nach etwas?«

»Du wirst mir ja doch nichts sagen, deswegen frage ich dich auch nicht.«

»Nein, ich werde dir in der Tat nichts sagen, gar nichts, und wenn du mich mordest«, fiel sie ihm schnell ins Wort. »Und wenn du mich verbrennst, werde ich dir doch nichts sagen. Und mag ich noch soviel zu erdulden haben, ich werde nichts sagen! Und die Leute werden nichts erfahren!«

»Nun, da siehst du also: Jedem das Seine«, erwiderte Schatow noch leiser und senkte noch tiefer den Kopf.

»Wenn du mich aber bätest, da würde ich es dir vielleicht doch erzählen!« wiederholte sie verzückt. »Warum bittest du mich nicht darum? Bitte mich, bitte mich gut, Schatuschka, dann werde ich dir vielleicht alles ausplaudern. Flehe mich an, Schatuschka, damit ich selbst den Wunsch dazu verspüre ... Schatuschka, Schatuschka!«

Aber Schatuschka sagte kein Wort; das allgemeine Schweigen währte ungefähr eine Minute lang. Tränen flössen über ihre blassen Wangen; sie saß da, vergaß, daß sie noch ihre beiden Hände auf Schatows Schultern liegen hatte, sah ihn aber nicht mehr an.

»Ach, was gehst du mich an! Auch wäre es eine Sünde«, rief Schatow und erhob sich plötzlich von der Bank. »Stehen Sie auf!« rief er mir zu, zog ärgerlich unter mir die Bank weg und stellte sie an ihren früheren Platz.

»Damit er nichts merkt, wenn er zurückkommt. Und nun ist es Zeit zum Gehen.«

»Ach, du sprichst immer noch von meinem Lakaien!« versetzte Maria Timofejewna und begann auf einmal zu lachen. »Du hast wohl Angst vor ihm! Nun lebt wohl, liebe Gäste, aber höret einen Augenblick an, was ich euch zu sagen habe. Neulich kam dieser Nilytsch hierher mit dem Hauswirt Filippow, der einen so roten Bart hat, gerade als mein Lebiadkin sich auf mich losgestürzt hatte. Da hat ihn der Hauswirt gepackt und durch das Zimmer geschleift! Mein Lebiadkin aber schrie in einem fort: ›Nicht ich bin schuld, ich leide für fremde Sünden!‹ Wir haben uns alle, ob du es glaubst oder nicht, förmlich geschüttelt vor Lachen ...«

»Ach, Timofejewna, das bin ich doch gewesen und nicht der Rotbart; ich habe ja heute deinen Lebiadkin an den Haaren von dir weggerissen. Der Hauswirt ist doch vorgestern bei euch gewesen, um euch auszuschimpfen. Das hast du verwechselt.«

»Halt, das habe ich wirklich verwechselt, vielleicht bist du es in der Tat gewesen. Nun, wozu wollen wir uns über Kleinigkeiten streiten. Ihm kann es doch schließlich gleichgültig sein, wer ihn von mir wegschleift«, sagte sie lachend.

»Kommen Sie!« rief plötzlich Schatow und zog mich am Ärmel. »Das Tor hat geknarrt; wenn er uns hier antrifft, dann wird er sie schlagen.«

Und wir waren noch kaum die Treppe hinaufgelaufen, als unten das Geschrei eines Betrunkenen und ein wahrer Hagel von Schimpfworten hörbar wurde. Schatow ließ mich in seine Wohnung hinein und schloß die Tür zu ...

»Jetzt werden Sie hier ein Weilchen sitzenbleiben müssen, wenn Sie einem Skandal aus dem Wege gehen wollen. Hören Sie nur, wie er schreit! Wie ein Schwein! Wahrscheinlich ist er wieder über die Schwelle gestrauchelt; jedesmal fällt er da um.«

Ohne Skandal ging es jedoch nicht ab.

6

Schatow stand an seiner verschlossenen Türe und horchte nach der Treppe hin. Plötzlich aber sprang er zurück.

»Er kommt hierher! Das habe ich mir gleich gedacht«, flüsterte er in heller Wut. »Nun werden wir ihn vielleicht vor Mitternacht nicht mehr los.«

Es ertönten einige starke Faustschläge gegen die Tür.

»Schatow, Schatow, mach auf!« brüllte der Hauptmann. »Schatow, Freund! ...

Ich bin hier, um dich zu grüßen,
Dir zu sagen, daß die heißen
Sonnenstrahlen br–rrr–rünstig küssen
Und ... über den Wälderrrn gleißen.
Dir zu sagen, daß ich auf bin, daß dich der Teufel hole,
Ganz er–rrr–rwacht bin ... unter Zweigen ...

Wie unter Prügelruten, ha, ha, ha!

Jedes Vöglein ... will ein Dürstchen ...
Dir von meinem Durst zu sagen,
Weiß nicht ... was ich trinken werde ...

Na, hol' der Teufel die dumme Neugier! Schatow, begreifst du es auch, wie schön es ist, auf der Welt zu leben?«

»Antworten Sie ihm nicht«, flüsterte mir wieder Schatow zu.

»Mach doch auf! Verstehst du denn nicht, daß es etwas Höheres gibt als Prügelei ... unter der Menschheit? Es gibt Momente bei einem e–edlen Menschen ... Schatow, ich bin gut; ich will dir verzeihen ... Schatow, hol' der Teufel die Flugblätter, wie?«

Schweigen.

»Verstehst du denn nicht, du Esel, daß ich verliebt bin? Ich habe mir einen Frack gekauft, sieh ihn dir an, einen Frack der Liebe, fünfzehn Rubel hat er gekostet; die Liebe eines Hauptmanns verlangt Weltmanieren ... Mach' auf!« brüllte er auf einmal ganz wild und schlug wie rasend mit den Fäusten gegen die Tür.

»Hol' dich der Teufel!« brüllte plötzlich auch Schatow.

»K–k–knecht! Du leibeigener Knecht, und deine Schwester ist eine Magd, eine Sklavin und ... eine Diebin!«

»Und du hast deine Schwester verkauft.«

»Du lügst! Ich leide schuldlos, obwohl ich durch eine einzige Aussage ... Verstehst du wohl, wer sie ist?«

»Wer denn?« fragte Schatow und trat neugierig an die Tür heran.

»Ich frage dich, ob du es auch verstehst?«

»Ich werde es schon verstehen; sage du nur, wer sie ist?«

»Ich wage es schon, die Wahrheit zu sagen! Ich werde es immer wagen, in aller Öffentlichkeit zu erklären ...«

»Na, das wohl kaum«, spöttelte Schatow und machte mir mit dem Kopf ein Zeichen, ich solle zuhören.

»Du meinst, ich werde es nicht wagen?«

»Meiner Meinung nach wirst du es nicht!«

»Ich werde es nicht wagen?«

»Rede doch, wenn du dich vor herrschaftlichen Ruten nicht fürchtest ... Du bist ein Feigling und willst ein Hauptmann sein!«

»Ich ... ich ... sie ist ...« stammelte der Hauptmann mit zitternder und aufgeregter Stimme.

»Nun?« fiel ihm Schatow ins Wort und hielt das Ohr hin.

Es trat ein Stillschweigen ein, das mindestens eine halbe Minute dauerte.

»Schur–rrr–rke!« ertönte es endlich hinter der Tür, und wir hörten, wie der Hauptmann sich hastig zurückzog, wobei er wie ein Samowar schnaufte und auf jeder Treppenstufe geräuschvoll stolperte.

»Nein, er ist schlau und wird sich nicht einmal in seiner Betrunkenheit verplappern«, meinte Schatow und trat von der Tür zurück.

»Was bedeutet das alles?« fragte ich.

Schatow winkte ab, statt zu antworten, schloß die Tür auf und horchte wieder nach der Treppe hin. Lange lauschte er hinaus und stieg nachher sogar leise ein paar Stufen hinunter. Schließlich kehrte er zurück.

»Ich habe nichts gehört; also hat er sie nicht geprügelt; er wird sich wohl ohne weiteres zum Schlafen hingeworfen haben. Es ist Zeit, daß auch Sie gehen.«

»Hören Sie, Schatow, was soll ich denn jetzt aus all diesem schließen?«

»Ach, schließen Sie daraus meinetwegen, was Sie wollen!« antwortete er müde und angewidert und setzte sich an seinen Schreibtisch.

Ich ging fort. Ein ganz unmöglicher Gedanke faßte immer tiefere Wurzeln in meiner Einbildung. Mit Sorge dachte ich an den morgigen Tag ...

7

Dieser »morgige Tag«, das heißt gerade jener Sonntag, an dem sich Stepan Trofimowitschs Schicksal unwiderruflich entscheiden sollte, war einer der merkwürdigsten Tage in meiner Geschichte. Es war ein Tag der Überraschung, ein Tag der Lösung früherer und der Schürzung neuer Knoten, ein Tag ganz schroffer Aussprachen und Erklärungen und noch ärgerer Verwirrungen. Wie der Leser bereits weiß, mußte ich am Vormittag meinen Freund zu Warwara Petrowna begleiten, deren eigenem Wunsche gemäß, und um drei Uhr nachmittags sollte ich zu Lisaweta Nikolajewna kommen, um ihr, ich wußte selbst nicht was, zu erzählen, und ihr, ich wußte selbst nicht wobei, behilflich zu sein. Es kam aber alles so, wie es keiner von uns vorgesehen hatte. Es war mit einem Wort ein Tag des wunderbaren Zusammentreffens verschiedenster Zufälle.

Es begann damit, daß wir, das heißt Stepan Trofimowitsch und ich, Warwara Petrownas Bestimmung gemäß, Punkt zwölf in ihrem Hause erschienen und sie nicht zu Hause trafen. Sie war noch nicht aus der Kirche zurückgekehrt. Mein armer Freund befand sich in einer so schweren Stimmung oder, besser gesagt Verstimmung, daß dieser Umstand ihn sogleich niederdrückte. Fast kraftlos ließ er sich in einen Sessel im Salon nieder. Ich bot ihm ein Glas Wasser an, aber obwohl er sehr blaß war und seine Hände bebten, wies er das würdevoll zurück. Beiläufig sei bemerkt, daß sich sein Kostüm an diesem Vormittag durch ungewöhnliche Eleganz auszeichnete: er trug gestickte Batistwäsche, die er sehr wohl auch zu einem Ball hätte anziehen können, eine weiße Halsbinde, hielt in der Hand einen neuen Hut, noch nie benutzte, strohgelbe Handschuhe und hatte sich sogar ein wenig parfümiert. Kaum hatten wir uns hingesetzt, als auch Schatow von einem Kammerdiener ins Zimmer geführt wurde. Offenbar war auch er offiziell eingeladen worden. Stepan Trofimowitsch schickte sich schon an, aufzustehen und ihm die Hand zu reichen, aber Schatow sah uns beide aufmerksam an, drehte sich dann kurz um, ging in eine Ecke und setzte sich dort hin, ohne uns auch nur zuzunicken. Stepan Trofimowitsch sah mich wieder ganz erschrocken an.

So saßen wir noch einige Minuten im völligen Stillschweigen da. Stepan Trofimowitsch begann mir plötzlich etwas sehr hastig zuzuflüstern, aber ich konnte ihn nicht verstehen, und er selbst sprach vor Aufregung nicht zu Ende. Dann trat der Kammerdiener noch einmal herein, um angeblich etwas auf dem Tisch zu ordnen; wahrscheinlich aber wollte er nur nach uns sehen. Mit einemmal wandte sich Schatow an ihn mit der Frage:

»Alexej Jegorytsch, wissen Sie nicht, ob Darja Pawlowna mit ihr weggefahren ist?«

»Warwara Petrowna geruhte allein nach dem Dom zu fahren. Darja Pawlowna hat es aber vorgezogen, oben in ihrem Zimmer zu bleiben, denn das Fräulein ist nicht ganz wohl«, meldete Alexej Jegorytsch belehrend und feierlich.

Mein armer Freund sah mich wieder flüchtig und angsterfüllt an, so daß ich mich endlich von ihm abwenden mußte. Plötzlich vernahmen wir draußen das Rasseln einer vorfahrenden Equipage, und Bewegung im Hause gab uns kund, daß die Hausfrau zurückgekehrt sei. Wir sprangen alle von unseren Plätzen auf, erlebten aber wieder etwas Unerwartetes: es wurde das Geräusch vieler Schritte vernehmbar, woraus wir schließen mußten, daß Warwara Petrowna nicht allein zurückgekehrt war, was uns in der Tat etwas sonderbar vorkam, da sie uns doch selbst diese Stunde bestimmt hatte. Zuletzt hörten wir, daß jemand mit seltsamer Hast herbeikam, so daß es sich anhörte, als ob er geradezu lief; so eilig konnte doch Warwara Petrowna kaum gehen! Und auf einmal stürzte sie förmlich ins Zimmer hinein, ganz atemlos und in höchster Aufregung. Ihr folgte in einigem Abstand und bedeutend ruhiger Lisaweta Nikolajewna und mit Lisaweta Nikolajewna, Arm in Arm – Maria Timofejewna Lebiadkina! Hätte ich dieses Bild im Traume gesehen, so würde ich ihm auch da nicht geglaubt haben.

Um dieses so ganz und gar unverhoffte Ereignis zu erklären, muß man eine Stunde zurückgreifen und ausführlich das ungewöhnliche Erlebnis erzählen, das Warwara Petrowna im Dom gehabt hatte.

Erstens war zur Messe fast die ganze Stadt zusammengekommen, das heißt natürlich die höchste Schicht unserer Gesellschaft. Man wußte, daß die Gouverneurin zum erstenmal seit ihrer Ankunft bei uns in der Kirche zu erscheinen geruhen würde. Ich bemerke, daß bei uns Gerüchte umgingen, denen zufolge sie eine Freidenkerin war und »neue Ideen« hatte. Alle Damen wußten bereits, daß sie prächtig und mit ungewöhnlicher Eleganz gekleidet sein werde, und deshalb zeichnete sich auch der Aufputz aller unserer Damen diesmal durch Geschmack und Kostbarkeit aus. Nur Warwara Petrowna trug wie üblich ein schlichtes schwarzes Kleid; so zeigte sie sich in der Öffentlichkeit bereits die letzten vier Jahre hindurch. Als sie in den Dom kam, ging sie an ihren gewöhnlichen Platz links in der ersten Reihe, und ein Diener in Livree legte ein Samtkissen zum Niederknien vor ihr auf den Fußboden. Kurz, es war alles wie auch sonst immer. Aber man machte die Beobachtung, daß sie diesmal während des ganzen Gottesdienstes besonders eifrig betete; man versicherte sogar nachher, als man sich an alles wieder erinnerte, sie hätte Tränen in den Augen gehabt. Endlich war die Messe zu Ende, und unser Bischof, Vater Pawel, erschien, um eine feierliche Ansprache zu halten. Bei uns waren seine Predigten sehr beliebt und sehr hoch geschätzt. Man hatte ihn schon oft zu bewegen versucht, sie drucken zu lassen, aber er konnte sich nicht dazu entschließen. An diesem Sonntag sprach er besonders lange.

Und da, während die Predigt schon im vollen Gange war, fuhr plötzlich an dem Dom eine Dame vor, in einer Droschke alter Bauart, das heißt in einer von jenen, in denen Damen nur seitwärts sitzen konnten, sich an den Leibgurt des Kutschers festhalten mußten und beim Rütteln des Wagens gestoßen wurden und hin und her schwankten wie ein Halm im Winde. Diese alten Kutschen sind bei uns in der Stadt noch bis auf den heutigen Tag zu sehen. Der Wagen hielt an der Ecke des Domes – denn am Portal hielten schon gar zuviel Equipagen und es standen dort sogar Gendarmen – die Dame sprang heraus und gab dem Kutscher vier Silberkopeken.

»Ist das denn zu wenig, Wanja?« rief sie, als sie bemerkte, daß er ein schiefes Gesicht machte. »Es ist aber alles, was ich habe«, fügte sie in kläglichem Ton hinzu.

»Na, Gott mit dir, wir haben ja auch keinen Preis ausgemacht!« erwiderte der Kutscher mit einer verzichtenden Handbewegung und sah sie an, wie wenn er dächte: »Es wäre ja auch eine Sünde, dich zu neppen.« Dann steckte er seinen ledernen Geldbeutel vorn in die Brusttasche, trieb das Pferd an und fuhr davon, verfolgt von den Spötteleien der sich in der Nähe befindenden Droschkenkutscher. Diese Spötteleien und Ausrufe der Verwunderung begleiteten auch die Dame die ganze Zeit über, während sie sich zwischen den Equipagen und den auf die Herrschaften wartenden Lakaien zum Domportal durchdrängte. Und in der Tat lag für alle etwas Ungewöhnliches und Überraschendes in dem Erscheinen einer solchen Person. Sie war krankhaft mager, hinkte ein bißchen, sah stark weiß und rot geschminkt aus, ihr Hals war ganz bloß, sie trug kein Tuch um die Schultern und keinen Mantel, sondern nur ein altes dunkles Kleid, obwohl der allerdings helle Septembertag kalt und windig war. Ihr Kopf war ebenfalls völlig unbedeckt; in die hinten zu einem Knoten zusammengefaßten Haare war auf der rechten Seite nur eine künstliche Rose hineingesteckt, von der Art, wie sie zur Ausschmückung der Osterengel benutzt werden. Einen solchen Osterengel mit einem Kranz künstlicher Rosen habe ich gestern in der Ecke unter den Heiligenbildern im Zimmer von Maria Timofejewna bemerkt. Zur Vervollständigung des Bildes sei noch gesagt, daß die Dame zwar mit bescheiden niedergesenkten Augen daherging, zur gleichen Zeit aber heiter und fast listig lächelte. Würde sie sich noch ein wenig langsamer bewegt haben, so hätte man sie wahrscheinlich gar nicht mehr in den Dom durchgelassen ... Aber sie konnte noch rechtzeitig durchschlüpfen, und als sie die Kirche betrat, drängte sie sich unauffällig nach vorn hindurch. Obwohl die Predigt noch in vollem Gange war und die ganze, Kopf an Kopf stehende Menge ihr mit voller lautloser Aufmerksamkeit zuhörte, so schielten dennoch einige Augen neugierig und erstaunt nach der Eingetretenen hin. Sie warf sich auf den Fußboden der Kirche, beugte ihr weißgeschminktes Gesicht zu ihm hinab, lag in dieser Stellung lange da und weinte offenbar; als sie aber den Kopf wieder hob und sich von den Knien aufgerichtet hatte, faßte sie sich sehr bald wieder und ermunterte sich. Heiter und mit sichtlich großem Vergnügen ließ sie ihre Blicke über alle Anwesenden und über die Wände des Doms hin und her gleiten; mit besonderer Neugier betrachtete sie einige Damen, wobei sie sich zu diesem Zwecke zuweilen ohne weiteres auf die Fußspitzen stellte und zweimal sogar mit einem seltsamen Kichern auflachte. Aber die Predigt ging zu Ende, und nun wurde das Kreuz hinausgetragen. Die Gouverneurin begab sich als erste zum Kreuz, blieb aber, als sie noch zwei Schritt von ihm entfernt war, stehen, in der offenkundigen Absicht, Warwara Petrowna den Vortritt zu lassen, da diese ihrerseits geradeswegs auf das Symbol losging und so tat, als ob sie überhaupt keinen Menschen vor sich bemerkte. In der außerordentlichen Höflichkeit der Gouverneurin lag zweifellos eine offenkundige und in ihrer Art recht kluge Stichelei; so faßten es wenigstens alle auf, und jedenfalls war Warwara Petrowna selbst auch nicht anderer Meinung. Sie ließ sich aber dadurch nicht aus ihrer Ruhe bringen, tat nach wie vor so, als ob sie niemanden sähe, küßte mit einer Miene unerschütterlicher Würde das Kreuz und begab sich sofort zum Ausgang. Ein Diener in Livree bahnte ihr den Weg, obgleich alle auch ohnedies auseinandertraten. Aber unmittelbar am Ausgang, in der Kirchenvorhalle, verhinderte sie ein dichter Menschenhaufen für einen Augenblick am Vorwärtskommen. Warwara Petrowna blieb stehen, und auf einmal drängte sich ein sonderbares, auffallendes Geschöpf, eine Frau mit einer Papierrose im Haar, durch die Menschenmenge hindurch und kniete vor ihr nieder. Warwara Petrowna, die man nicht leicht aus der Fassung bringen konnte, besonders nicht in Gegenwart fremder Menschen, sah sie würdevoll und streng an.

Ich beeile mich, hier möglichst kurz zu bemerken, daß, obwohl Warwara Petrowna in den letzten Jahren, wie es hieß, außerordentlich sparsam und sogar geizig geworden war, sie dennoch, namentlich wenn es sich um Mildtätigkeit handelte, mit dem Geld nicht knauserte. Sie war Mitglied eines Wohltätigkeitsvereins der Hauptstadt. In dem noch nicht so weit zurückliegenden Hungerjahr hatte sie an das Petersburger Hauptkomitee zur Annahme von Unterstützungen für die durch die Mißernte Geschädigten fünfhundert Rubel geschickt, und es wurde bei uns viel darüber gesprochen. Endlich hatte sie sich in der letzten Zeit, kurz vor der Ernennung des neuen Gouverneurs, um die Gründung eines örtlichen Damenkomitees zur Unterstützung armer Wöchnerinnen in der Stadt und im Gouvernement bemüht, und dieses Werk war ihr beinah gelungen. Man warf ihr bei uns ihren Ehrgeiz vor; aber das schon bekannte Ungestüm ihres Charakters und zu gleicher Zeit ihre Ausdauer hatten bereits beinah alle Hindernisse überwunden; der Verein hatte sich schon fast konstituiert, und der ursprüngliche Gedanke zog immer weitere und weitere Kreise in der entzückten Phantasie der Gründerin: sie träumte nunmehr von der Gründung eines ebensolchen Komitees auch in Moskau und von der allmählichen Ausbreitung seiner Wirksamkeit über alle Gouvernements. Aber plötzlich, gleich mit der Ankunft des neuen Gouverneurs, geriet alles ins Stocken. Die neue Gouverneurin hatte, wie es hieß, in der Gesellschaft bereits einige spitze und, was die Hauptsache war, zutreffende und nicht von der Hand zu weisende Einwendungen gemacht in bezug auf die Unmöglichkeit eines praktischen Erfolges der Hauptidee eines solchen Komitees, was natürlich, etwas ausgeschmückt, bereits Warwara Petrowna hinterbracht war. Gott allein kennt die Tiefen des Menschenherzens, aber ich nehme an, daß Warwara Petrowna jetzt sogar mit einer gewissen Befriedigung gerade am Portal des Domes stehen blieb, da sie wußte, daß im nächsten Augenblick die Gouverneurin und mit ihr die übrigen Damen an ihr vorbeikommen mußten. Wahrscheinlich dachte sie: »Mag sie sich selbst durch Augenschein davon überzeugen, wie sehr gleichgültig mir alles ist, was sie über mich denkt, und was sie über den Ehrgeiz, der meiner Wohltätigkeit zugrunde liegen sollte, auch für Witze macht. Da könnt ihr alle zusehen, da habt ihr was!«

»Was wollen Sie, meine Liebe? Um was bitten Sie?« fragte Warwara Petrowna, indem sie die vor ihr kniende Frau aufmerksam betrachtete. Diese sah sie mit einem überaus ängstlichen, schamhaften, aber fast andächtigen Blick an und begann auf einmal ebenso loszukichern wie vorher.

»Wer ist sie? Was ist mit ihr?« Warwara Petrowna ließ ihren fragenden und zugleich befehlenden Blick über die Umstehenden gleiten. Alle schwiegen.

»Sie sind unglücklich? Sie bedürfen einer Unterstützung?«

»Ich bedarf ... ich bin gekommen ...« stammelte die »Unglückliche«, mit einer vor Erregung stockenden Stimme. »Ich bin nur gekommen, um Ihre Hand zu küssen ...« und sie kicherte wieder. Mit einem eigentümlichen Blick, wie ihn Kinder haben, wenn sie schmeicheln oder um etwas bitten, schickte sie sich an, Warwara Petrownas Hand zu ergreifen, hielt aber plötzlich erschrocken inne.

»Nur deswegen sind Sie hierhergekommen?« fragte Warwara Petrowna mit einem mitleidigen Lächeln, holte aber sofort ihr Perlmutterportemonnaie aus der Tasche, entnahm ihm einen Zehnrubelschein und gab diesen der Unbekannten. Diese nahm das Geld an. Warwara Petrowna war stark interessiert und hielt die Fremde offenbar nicht für eine gewöhnliche Bittstellerin aus den niederen Volkskreisen.

»Seht mal! Zehn Rubel hat sie ihr gegeben«, sagte jemand in der Menge.

»Gestatten Sie doch bitte, Ihre Hand zu küssen!« stammelte die »Unglückliche«, die mit den Fingern der linken Hand die empfangene Banknote an einer Ecke festhielt, so daß diese im Winde flatterte. Warwara Petrowna runzelte aus irgendeinem Grunde ein wenig die Stirn und hielt der Unbekannten mit einer ernsten und fast strengen Miene die Hand zum Kuß hin; die Fremde küßte sie ehrfurchtsvoll. In ihrem dankbaren Blick begann sogar eine Art Entzücken zu leuchten. Und gerade in diesem Augenblick kam die Gouverneurin heran und hinter ihr her im breiten Strom die ganze Schar unserer Damen und höchsten Würdenträger. Die Gouverneurin mußte im Gedränge notgedrungen ein wenig stehenbleiben und viele taten mit ihr desgleichen.

»Sie zittern! Frieren Sie?« fragte Warwara Petrowna plötzlich, warf dann auf einmal ihren Mantel ab, den ihr Diener im Fallen auffing, nahm von den Schultern ihr schwarzes, sehr kostbares Schaltuch herunter und hüllte damit eigenhändig den bloßen Hals der immer noch knienden Bittstellerin ein.

»Aber stehen Sie doch auf, erheben Sie sich doch bitte!«

Die Fremde stand auf.

»Wo wohnen Sie? Weiß denn wirklich niemand, wo sie wohnt?« fragte Warwara Petrowna ungeduldig und sah sich von neuem um. Aber der frühere Menschenhaufen war verschwunden. Warwara Petrowna erblickte lauter Bekannte, der besseren Gesellschaft angehörende Personen, die den Vorgang verfolgten, die einen mit unzufriedenem Erstaunen, die andern mit listiger Neugier und zugleich mit der unschuldigen Begierde, einen kleinen Skandal zu erleben; wieder andere begannen sogar spöttisch zu lächeln.

»Ich glaube, sie ist eine Angehörige des Hauptmanns Lebiadkin«, meldete sich schließlich ein guter Mann mit einer Antwort auf Warwara Petrownas Frage. Es war unser ehrenwerter und von vielen hochgeschätzter Kaufmann Andrejew, mit einer Brille und einem grauen Bart, in russischer Tracht und mit einem Zylinderhut, den er aber jetzt in der Hand hielt. »Sie wohnen im Filippowschen Hause in der Bogojawlenskaja.«

»Lebiadkin? Im Filippowschen Hause? Ich habe schon etwas von ihm gehört ... Ich danke Ihnen, Nikon Semionytsch; aber wer ist denn dieser Lebiadkin eigentlich?«

»Der Mann nennt sich Hauptmann und ist, muß man sagen, ein recht unsolider Mensch. Und das ist jedenfalls seine Schwester. Sie wird jetzt wahrscheinlich seiner Aufsicht entronnen sein«, fügte Nikon Semionytsch mit gesenkter Stimme hinzu und blickte dabei Warwara Petrowna vielsagend an.

»Ich verstehe Sie; ich danke Ihnen, Nikon Semionytsch. Sie sind Fräulein Lebiadkina, meine Liebe?«

»Nein, ich heiße nicht Lebiadkina.«

»Aber vielleicht ist Lebiadkin Ihr Bruder?«

»Ja, mein Bruder heißt Lebiadkin.«

»Jetzt werde ich folgendes machen, meine Liebe: ich werde Sie mit mir nehmen, in meine Wohnung also, und von dort aus wird man Sie zu Ihrer Familie bringen. Wollen Sie mit mir mitfahren?«

»Ach ja, das möchte ich schon!« rief Fräulein Lebiadkina und schlug vor Freude die Hände zusammen.

»Tante, Tante? Nehmen Sie auch mich mit!« ertönte da die Stimme Lisaweta Nikolajewnas.

Ich will gleich sagen, daß Lisaweta Nikolajewna zur Kirche zusammen mit der Gouverneurin gekommen war, während Praskowia Iwanowna unterdessen nach ärztlicher Vorschrift eine Spazierfahrt machte und zur Zerstreuung auch Mawrikij Nikolajewitsch mitgenommen hatte. Nun verließ Lisa auf einmal die Gouverneurin und näherte sich eilig Warwara Petrowna.

»Mein liebes Kind, du weißt, daß ich mich stets freue, dich bei mir zu sehen, aber was wird denn deine Mutter dazu sagen?« begann Warwara Petrowna würdevoll. Als sie aber plötzlich Lisas ungewöhnliche Aufregung bemerkte, stutzte sie und wurde verlegen.

»Tante, Tante, ich will jetzt unbedingt zu Ihnen fahren«, flehte Lisa Warwara Petrowna an und küßte sie dabei.

»Mais qu'avez vous donc, Lise!« fragte die Gouverneurin mit einem vielsagenden Erstaunen.

»Ach verzeihen Sie, Herzchen, chère cousine, ich muß zur Tante«, erwiderte hastig Lisa, drehte sich rasch zu ihrer unangenehm überraschten chère cousine um und küßte sie zweimal. »Und sagen Sie bitte maman, daß sie unbedingt sofort zur Tante kommen soll, um mich von dort abzuholen. Maman wollte ganz bestimmt, ganz bestimmt mit herankommen, sie hat es mir heute selbst gesagt; ich habe nur vergessen, es Ihnen mitzuteilen,« plapperte Lisa, »entschuldigen Sie schon, seien Sie nicht böse, Julie, chère ... cousine ... Tante, ich bin bereit!«

»Tante, wenn Sie mich nicht mitnehmen, so laufe ich hinter Ihrem Wagen her und schreie«, flüsterte sie schnell und verzweiflungsvoll dicht in Warwara Petrownas Ohr hinein; nur gut, daß es sonst niemand gehört hatte. Warwara Petrowna trat sogar einen Schritt zurück und sah mit einem durchdringenden Blick auf das wahnsinnige Mädchen herunter. Dieses kurze Mustern entschied alles: Warwara Petrowna beschloß, Lisa unter allen Umständen mitzunehmen.

»Dieser Sache muß ein Ende gemacht werden«, entfuhr es ihr. »Gut, ich nehme dich mit Vergnügen mit, Lisa,« fügte sie sofort laut hinzu, »aber selbstverständlich nur dann, wenn Julia Michajlowna bereit ist, dich fortzulassen«, meinte sie, indem sie sich mit offener Miene und natürlicher Würde unmittelbar an die Gouverneurin wandte.

»Oh, ganz gewiß, ich will sie gar nicht dieses Vergnügens berauben, um so mehr, als ich selbst ...«, begann Julia Michajlowna auf einmal mit überraschender Liebenswürdigkeit zu zwitschern, – »ich selbst ... ich weiß ja sehr wohl, was für ein phantastisches, eigenwilliges Köpfchen wir auf unseren Schultern haben.« Und Julia Michajlowna setzte ein bezauberndes Lächeln auf.

»Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar«, erwiderte Warwara Petrowna, indem sie sich höflich, aber würdevoll verneigte.

»Und es ist mir um so angenehmer,« fuhr Julia Michajlowna nunmehr ganz begeistert fort und errötete sogar vor wohltuender Erregung, »daß außer der Aussicht auf das Vergnügen, mit Ihnen zusammen zu sein, Lisa sich jetzt auch durch ein so schönes, ein so hohes, könnte man sagen, und so edles Gefühl hinreißen läßt ... durch das Mitleid ...« hier warf sie einen Blick auf die »Unglückliche«, »und ... und gerade am Eingang zum Gotteshaus ...«

»Diese Ansicht macht Ihnen Ehre«, erwiderte Warwara Petrowna beifällig in einem geradezu großartigen, fast majestätischen Ton. Julia Michajlowna streckte ihr eifrig die Hand hin, und Warwara Petrowna berührte diese bereitwillig mit ihren Fingern. Der allgemeine Eindruck war ein ausgezeichneter, die Gesichter mehrerer Anwesenden begannen vor Vergnügen zu strahlen, und es zeigte sich auf einigen von ihnen sogar ein süßes und schmeichlerisches Lächeln.

Kurz, es wurde der ganzen Stadt auf einmal klar, daß nicht Julia Michajlowna etwa aus Geringschätzung Warwara Petrowna keinen Besuch gemacht hatte, sondern daß umgekehrt gerade Warwara Petrowna »die Gouverneurin solange in einer gewissen Entfernung von sich gehalten hatte, obwohl diese vielleicht sogar zu Fuß zu Warwara Petrowna hingelaufen wäre, wenn sie nur mit Sicherheit hätte annehmen können, daß Warwara Petrowna ihr nicht die Tür weisen würde.« Das Ansehen und der Einfluß Warwara Petrownas hatten sich mit einem Schlag außerordentlich gehoben.

»Steigen Sie ein, meine Liebe«, sagte Warwara Petrowna zu Fräulein Lebiadkina, indem sie auf den vorgefahrenen Wagen wies. Die »Unglückliche« lief fröhlich zum Wagenschlag, wo ihr ein Lakai einsteigen half.

»Wie? Sie hinken?« rief Warwara Petrowna, wie wenn sie sich sehr erschrocken hätte, und wurde blaß.

Alle hatten es damals bemerkt, aber nicht verstanden ...

Der Wagen fuhr ab. Das Haus Warwara Petrownas befand sich nicht weit vom Dom. Lisa erzählte mir später, daß die Lebiadkina während der ganzen, höchstens drei Minuten dauernden Fahrt fortwährend hysterisch gelacht, während Warwara Petrowna, Lisas eigenem Ausdruck zufolge, »wie in einem magnetischen Schlaf« dagesessen habe.


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