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Zweiter Teil

 

Erstes Kapitel

Die Nacht

1

Es vergingen acht Tage. Jetzt, da alles vorüber ist und ich diese Geschichte niederschreibe, sind wir bereits vollkommen im Bilde; damals aber ahnten wir die Zusammenhänge noch nicht, und so erschienen uns manche Dinge recht sonderbar. Wenigstens wir beide, Stepan Trofimowitsch und ich, hatten uns in der ersten Zeit ganz zurückgezogen und die Entwicklung der Ereignisse angstvoll von weitem beobachtet. Ich ging allerdings noch von Zeit zu Zeit in die Stadt und brachte ihm wie früher allerlei Nachrichten mit, ohne die er gar nicht auskommen konnte.

Es braucht erst gar nicht gesagt zu werden, daß in der Stadt die sonderbarsten Gerüchte in Umlauf waren in bezug auf die Ohrfeige, auf Lisaweta Nikolajewnas Ohnmacht und alles andere, was sich an jenem Sonntag zugetragen hatte. Was uns aber wunderte, war der Umstand, daß es so schnell und mit solchen Einzelheiten in die Öffentlichkeit dringen konnte, und wir fragten uns erstaunt, wer wohl geplaudert haben mochte. Man hätte doch meinen sollen, daß keine einzige der damals anwesenden Personen irgendein Interesse daran haben konnte, das Geheimnis des Vorgefallenen preiszugeben. Dienstboten waren nicht dabei gewesen; nur Lebiadkin allein hätte einiges ausplaudern können und nicht etwa aus Bosheit, da er doch damals in größter Angst weggegangen war, und die Furcht vor dem Feinde auch den Haß gegen ihn zu vernichten imstande ist, – sondern einzig und allein, weil er eben nicht fähig war, seine Zunge im Zaume zu halten. Aber Lebiadkin war mitsamt seiner Schwester schon gleich am nächsten Tage spurlos verschwunden; im Filippowschen Hause war er nicht mehr zu finden; er mußte wohl weggezogen sein, ohne daß jemand wußte wohin, und war wie verschollen. Schatow, bei dem ich mich nach Maria Timofejewna erkundigen wollte, schloß sich ein und saß, glaube ich, diese ganzen acht Tage in seiner Wohnung; er hatte sogar seine Beschäftigung in der Stadt unterbrochen. Mich empfing er nicht. Ich wollte ihn am Dienstag aufsuchen und klopfte an die Tür. Ich erhielt keine Antwort. Da ich aber aus einigen untrüglichen Anzeichen die Überzeugung gewann, daß er zu Hause sei, klopfte ich zum zweitenmal. Da hörte ich, wie er anscheinend vom Bett aufspringend mit kräftigen Schritten zur Tür kam und mir aus voller Kehle zurief: »Schatow ist nicht zu Hause!« So mußte ich denn wieder abziehen.

Stepan Trofimowitsch und ich dachten hin und her und blieben schließlich bei einem Gedanken stehen (die Annahme war zwar sehr gewagt, aber wir bestärkten uns gegenseitig darin): wir gelangten nämlich zu der Überzeugung, daß an den umlaufenden Gerüchten nur Piotr Stepanowitsch schuld sein konnte, obwohl er selbst einige Zeit darauf in einem Gespräch mit seinem Vater versichert hatte, er hätte die Geschichte bereits überall und namentlich im Klub in aller Leute Munde gefunden und zu seiner Überraschung festgestellt, daß auch die Gouverneurin und ihr Gatte sie bereits bis in die kleinsten Einzelheiten hinein kannten. Und noch etwas schien mir recht merkwürdig zu sein: gleich am nächsten Tage, das heißt Montag abend, traf ich Liputin, und er wußte schon alles bis auf das letzte Wort, mußte also die Sache aus erster Hand erfahren haben.

Viele Damen, darunter auch solche, die den höchsten Kreisen angehörten, interessierten sich sehr für die »rätselhafte Lahme«, wie man Maria Timofejewna genannt hatte. Es fanden sich sogar einige, die sie unbedingt sehen und persönlich ihre Bekanntschaft zu machen wünschten, so daß die Herren, die es so eilig gehabt haben, die Lebiadkins zu verstecken, anscheinend recht gut daran getan hatten. Aber im Vordergrund stand dennoch Lisaweta Nikolajewnas Ohnmacht, und dafür interessierte sich »die ganze Welt«, schon weil diese Angelegenheit unmittelbar die Gouverneurin Julia Michajlowna als Lisaweta Nikolajewnas Verwandte und Gönnerin anging. Und was wurde da nicht alles zusammengeredet! Dem Geschwätz gab reichliche Nahrung auch das Geheimnisvolle der nachfolgenden Umstände: beide Häuser waren fest verschlossen; Lisaweta Nikolajewna, hieß es, sei an einem heftigen Fieber erkrankt; das gleiche wurde auch von Nikolaj Wsewolodowitsch behauptet, wobei man noch ganz häßliche Einzelheiten hinzufügte, über einen ihm angeblich ausgeschlagenen Zahn und die dadurch hochaufgeschwollene Backe. In verschwiegenen Ecken tuschelte man sogar darüber, daß es bei uns vielleicht einen Mord geben würde, daß Stawrogin nicht der Mann sei, um eine solche Beleidigung zu ertragen und Schatow unbedingt töten werde, jedoch im geheimen, wie bei der korsischen Blutrache. Dieser Gedanke gefiel; aber die Mehrzahl unserer vornehmen jungen Leute hörte dem allem mit Nichtachtung und mit einer Miene geringschätzigster, natürlich erkünstelter Gleichgültigkeit zu. Überhaupt trat die alte feindselige Stimmung unserer Gesellschaft Nikolaj Wsewolodowitsch gegenüber wieder klar zutage. Sogar gesetzte Leute suchten ihm irgendeine Schuld in die Schuhe zu schieben, obwohl sie eigentlich nicht recht wußten, was für eine. Flüsternd erzählte man sich, er habe Lisaweta Nikolajewna die Unschuld geraubt, und es habe zwischen ihnen beiden in der Schweiz ein ränkevolles Verhältnis gegeben. Natürlich verhielten sich vorsichtige Leute dabei sehr zurückhaltend, jedoch hörten alle mit Genuß zu. Es gab auch noch andere Darstellungen, die man aber nicht öffentlich, sondern recht vorsichtig in privaten Kreisen und ganz heimlich äußerte, die sehr seltsam waren, und von deren Vorhandensein ich nur erzähle, um den Leser im Hinblick auf die weiteren Ereignisse, die ich schildern werde, rechtzeitig vorzubereiten. Es sagten nämlich manche Menschen in unserer Stadt mit finsterer Miene und Gott weiß aus welchem Grunde, daß Nikolaj Wsewolodowitsch eine besondere Mission in unserem Gouvernement zu erledigen habe, daß er durch den Grafen K. in Beziehungen zu ganz hochstehenden Kreisen getreten war, und daß er vielleicht ein Amt bekleide oder von irgendeinem hohen Würdenträger mit irgendwelchen besonderen Aufträgen betraut sei. Wenn aber gesetzte und ernste Menschen über dieses Gerücht lächelten und vernünftigerweise bemerkten, daß ein Mann, der geradezu von Skandalgeschichten lebe und sich bei uns mit einer geschwollenen Backe einführe, keineswegs einem Beamten ähnlich sei, dann antwortete man ihnen im Flüsterton, daß er ja nicht offiziell angestellt wäre, sondern sozusagen konfidentiell, so daß diese Art Dienst es gerade erfordere, daß der ihn Ausübende so wenig wie möglich einem Beamten gleiche. Dieser Einwand machte stets Eindruck; es war bei uns bekannt, daß die Regierung in der Hauptstadt den Landständen unseres Gouvernements eine gewisse besondere Aufmerksamkeit zuwendete. Ich wiederhole, daß diese Gerüchte nur flüchtig auftauchten und spurlos verschwanden, sobald Nikolaj Wsewolodowitsch wieder erschien; ich will aber gleich bemerken, daß die Ursachen vieler Gerüchte zum Teil in einigen kurzen, aber boshaften Ausführungen lagen, die der erst seit einiger Zeit aus Petersburg zurückgekehrte pensionierte Gardehauptmann Artemij Pawlowitsch Gaganow undeutlich und recht wortkarg im Klub hatte fallen lassen. Dieser Herr war ein sehr vermögender Gutsbesitzer unseres Gouvernements und Kreises, mit guten Beziehungen zu der höchsten Gesellschaft der Hauptstadt und ein Sohn des verstorbenen Pawel Pawlowitsch Gaganow, jenes hochgeachteten Klubvorstehers, mit dem Nikolaj Wsewolodowitsch vor mehr als vier Jahren einen plötzlichen und durch seine Roheit ungewöhnlichen Zusammenstoß gehabt hatte, von dem ich bereits am Anfang meiner Erzählung gesprochen habe.

Allen wurde es sofort bekannt, daß Julia Michajlowna bei Warwara Petrowna einen außergewöhnlichen Besuch gemacht hatte, daß man ihr aber an der Haustür erklärt habe, man könne sie »wegen Unwohlseins« nicht empfangen. Auch wußte man, daß Julia Michajlowna zwei Tage darauf sich durch einen besonderen Boten nach Warwara Petrownas Befinden hatte erkundigen lassen. Schließlich begann sie Warwara Petrowna überall »in Schutz zu nehmen«, natürlich nur im höchsten Sinne, das heißt in möglichst unbestimmter Weise. Alle anfänglichen, hastigen Anspielungen auf die Vorfälle vom Sonntag hörte sie mit strenger, kalter Miene an, so daß man es später nicht mehr wagte, in ihrer Gegenwart davon zu sprechen. Auf diese Weise entstand und festigte sich überall die Vorstellung, daß Julia Michajlowna nicht nur diese äußerst rätselhafte Geschichte kannte, sondern auch mit ihrem ganzen geheimnisvollen Sinn bis in die kleinsten Einzelheiten hinein vertraut war, und zwar nicht als eine Fernstehende, sondern als eine Teilnehmerin. Ich will hier beiläufig bemerken, daß sie bereits anfing, bei uns allmählich jenen hohen Einfluß zu gewinnen, nach dem es sie so sehr gelüstete, und daß sie sich schon als »umgeben und umworben« sah. Ein Teil unserer Gesellschaft erkannte ihren praktischen Verstand und ihr gesundes Taktgefühl ... aber darüber später. Durch ihre Gönnerschaft sind auch zum Teil die sehr raschen Erfolge Piotr Stepanowitschs in unserer Gesellschaft zu erklären, Erfolge, die damals besonders Stepan Trofimowitsch verblüfften.

Vielleicht aber war unsere Ansicht auch etwas übertrieben. Erstens gelang es Piotr Stepanowitsch fast augenblicklich, schon in den ersten vier Tagen nach seiner Ankunft, die Bekanntschaft der ganzen Stadt zu machen. Am Sonntag war er erschienen und Dienstag sah ich ihn bereits in der Equipage mit Artemij Pawlowitsch Gaganow, der trotz seiner weltmännischen Gewandtheit stolz, leicht reizbar und hochmütig war, und mit dem es schon wegen dieser Charaktereigenschaften fast unmöglich erschien, näher zusammenzukommen. Auch beim Gouverneur fand Piotr Stepanowitsch eine sehr gute Aufnahme, so daß er dort sogar sofort die Stelle eines nahen Freundes oder sozusagen eines Günstlings einnahm; fast täglich speiste er bei Julia Michajlowna zu Mittag. Er hatte sie bereits in der Schweiz kennengelernt, aber dennoch war sein rascher Erfolg im Hause Seiner Exzellenz tatsächlich etwas merkwürdig. Er hatte doch immerhin seinerzeit den Ruf eines im Auslande wohnenden Revolutionärs und sollte sich an irgendwelchen ausländischen Verlagen und Kongressen beteiligt haben, »was sich sogar aus den Zeitungen beweisen läßt«, wie sich einmal bei einer Begegnung der verärgerte Alioscha Teliatnikow mir gegenüber ausgedrückt hatte, der jetzt leider ein kleiner, verabschiedeter Beamter war und früher einmal ebenfalls die Rolle eines Günstlings im Hause des alten Gouverneurs gespielt hatte. Indessen lag hier eine unleugbare Tatsache vor: der ehemalige Revolutionär bewegte sich im lieben Vaterlande nicht nur unbehelligt, sondern schien sogar Förderung zu finden; also hatte vielleicht doch nichts gegen ihn vorgelegen. Liputin flüsterte mir einmal zu, daß einem Gerüchte zufolge Piotr Stepanowitsch bei einer maßgebenden Stelle über sein früheres Benehmen Reue ausgesprochen und noch einige Mittäter genannt hatte und auf diese Weise nicht nur allein Verzeihung erlangt, sondern vielleicht sogar schon sein früheres Verschulden gutgemacht habe. Außerdem, sagte mir Liputin, hätte er versprochen, auch in Zukunft dem Vaterlande nützlich sein zu wollen. Ich überbrachte diese giftigen Äußerungen Stepan Trofimowitsch, und obwohl dieser nunmehr fast gar nicht mehr in der Lage war, sich etwas überlegen zu können, wurde er dennoch nachdenklich. Später stellte sich heraus, daß Piotr Stepanowitsch mit sehr wertvollen und wichtigen Empfehlungsbriefen zu uns gekommen war. Jedenfalls hatte er einen solchen der Frau Gouverneurin gebracht, und zwar von einer außerordentlich hochgestellten alten Dame aus Petersburg, deren Gatte einer der einflußreichsten alten Herren in der Residenz war. Diese alte Dame, eine Patin Julia Michajlownas, erwähnte in ihrem Schreiben, daß auch Graf K. durch Nikolaj Wsewolodowitschs Vermittlung Piotr Stepanowitsch gut kenne, ihn mit Wohlwollen aufgenommen habe, und ihn »trotz seiner früheren Verirrungen für einen sehr würdigen jungen Mann« halte. Julia Michajlowna schätzte über alles ihre so spärlichen und mit großer Mühe unterhaltenen Beziehungen zu der »höchsten Gesellschaft« und war natürlich über den Brief der wichtigen alten Dame außerordentlich erfreut; und dennoch blieb in dem von ihr bekundeten Interesse für Piotr Stepanowitsch immerhin noch etwas Unbegreifliches. Selbst ihren Gatten brachte sie zu Piotr Stepanowitsch in beinah familiäre Beziehungen, so daß Herr von Lembke sich darüber sogar beklagte ... aber darüber ebenfalls später. Um es nicht zu vergessen, will ich gleich sagen, daß auch der große Schriftsteller sich mit Wohlwollen Piotr Stepanowitschs angenommen und ihn sogleich zu sich eingeladen hatte. Ein solcher Eifer seitens eines so dünkelhaften Menschen berührte Stepan Trofimowitsch besonders schmerzlich, aber ich erklärte mir die Sache ganz anders: indem Herr Karmasinow einen Nihilisten zu sich einlud, dachte er dabei natürlich an dessen Beziehungen zu den fortschrittlichen jungen Männern der beiden Hauptstädte. Der hervorragende Schriftsteller zitterte geradezu in krankhafter Angst vor der neuesten, revolutionären Jugend, und da er sich infolge seiner Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse einbildete, daß sie den Schlüssel zu Rußlands Zukunft in ihren Händen habe, so suchte er sich in der unwürdigsten Weise bei ihr einzuschmeicheln, hauptsächlich schon deswegen, weil sie ihn gar nicht beachtete.

2

Piotr Stepanowitsch hatte auch seinem Vater zwei kurze Besuche abgestattet, zu meinem Bedauern aber beide Male in meiner Abwesenheit. Zum erstenmal besuchte er ihn am Mittwoch, also am vierten Tage nach seiner Ankunft, und zwar nur geschäftlich. Übrigens: die Abrechnung über das Gut wurde zwischen ihnen irgendwie ganz still und sozusagen unsichtbar erledigt. Warwara Petrowna hatte alles auf sich genommen und alles bezahlt, natürlich, indem sie das kleine Gut erwarb. Stepan Trofimowitsch hatte sie nur benachrichtigt, daß alles erledigt sei, und ihr Bevollmächtiger, der Kammerdiener Alexej Jegorowitsch, brachte ihm irgendein Schriftstück zur Unterschrift, unter das Stepan Trofimowitsch dann auch schweigend und mit großer Würde seinen Namen setzte. Da ich übrigens gerade über seine Würde spreche, so will ich gleich sagen, daß ich unseren lieben Alten in diesen Tagen gar nicht wiedererkennen konnte. Er benahm sich wie nie zuvor, wurde ungewöhnlich schweigsam und hatte vom Sonntag an nicht einen einzigen Brief an Warwara Petrowna geschrieben, was ich sonst für ein Wunder gehalten hätte. Am meisten überraschte mich, daß er nunmehr ganz ruhig geworden war. Allem Anschein nach war es ein in ihm fest gewordener großer und abschließender Gedanke, der ihm jetzt diese Ruhe gab. Er hatte ihn endlich gefunden und saß nun da und wartete auf etwas. Anfangs war er allerdings krank, besonders am Montag: er hatte seinen Cholerineanfall. Auch konnte er die ganze Zeit über nicht ohne Nachrichten sein; kaum aber verließ ich die äußeren Tatsachen, um zu dem eigentlichen Kern der Sache überzugehen, und sprach dabei irgendeine Vermutung aus, als er mir sofort abwinkte, ich sollte aufhören. Aber die beiden Besuche seines Söhnchens hatten auf ihn dennoch eine schmerzliche Wirkung ausgeübt, wenn sie ihn auch nicht erschüttert hatten. An diesen beiden Tagen, das heißt nach den Gesprächen mit Piotr Stepanowitsch, lag er auf dem Sofa und hatte um den Kopf ein mit Essig angefeuchtetes Tuch geschlagen; aber in einem höheren Sinne blieb er dennoch vollkommen ruhig.

Zuweilen winkte er mir nicht ab. Mitunter schien es mir auch, als ob seine jetzt angenommene geheimnisvolle Entschlossenheit ihn verließe und er mit einem neuen, verführerischen Ideenschwall zu kämpfen hatte. Das waren allerdings nur Augenblicke, aber ich will dennoch diese Tatsache nicht unerwähnt lassen. Ich vermutete, daß er wohl große Lust hatte, aus seiner Einsamkeit herauszugehen, sich wieder zu äußern, seinen Gegnern einen Kampf anzusagen und die letzte Schlacht zu liefern.

»Cher, ich hätte sie alle zerschmettert!« entfuhr es ihm am Donnerstag abend nach dem zweiten Besuch seines Sohnes, als er, den Kopf mit einem Handtuch umwickelt, ausgestreckt auf dem Sofa lag.

Bis zu diesem Augenblick hatte er mir noch während des ganzen Tages kein Wort gesagt.

»Fils, fils chéri, und so weiter, nun ja, ich gebe zu, daß diese Ausdrücke Unsinn sind, ein Hintertreppenwörterbuch, na ja, mögen sie es sein, ich sehe das jetzt selbst ein. Ich habe ihn weder genährt noch getränkt, ich habe ihn aus Berlin mit der Post nach dem Gouvernement ... geschickt, als er noch ein Säugling war, nun ja, und so weiter, ich gebe das zu ... ›Du‹, sagte er, ›hast mich nicht genährt, hast mich mit der Post weggeschickt und hast mich obendrein auch hier noch ausgeplündert.‹ – ›Aber, Unglückseliger,‹ rief ich ihm zu, ›mir hat doch um dich mein Herz das ganze Leben lang wehgetan, wenngleich ich dich auch mit der Post weggeschickt habe!‹ Il rit. Gut, ich gebe zu, ich gebe es zu ... das mit der Post ...«, schloß er wie im Fieberwahn.

»Passons«, begann er nach etwa fünf Minuten wieder. »Ich verstehe Turgenew nicht. Sein Basarow ist eine nicht existierende Gestalt; gerade die Neuen haben sie als erste abgelehnt, weil sie unmöglich ist. Dieser Basarow ist so eine Art unklarer Mischung des Gogolschen Nosdriow mit Byron, c'est le mot. Aber sehen Sie sich doch diese Neuen einmal aufmerksam an: sie schlagen Purzelbäume und quietschen vor Vergnügen, gerade wie junge Hunde in der Sonne; sie sind glücklich; sie sind die Sieger! Was hat Byron damit zu tun! ... Und doch welche gewöhnliche Alltäglichkeit bei alledem! Welche plebejische Reizbarkeit der Eigenliebe, was für eine unwürdige Begierde faire du bruit autour de son nom, ohne zu bemerken, daß son nom ... Oh, diese Karikatur! ›Ich bitte dich,‹ rief ich ihm zu, ›willst du dich denn wirklich, so wie du bist, den Menschen als Ersatz für Christus anbieten?‹ Il rit. Il rit beaucoup, il rit trop. Er hat ein so seltsames Lächeln. Seine Mutter hatte nicht so gelächelt. Il rit toujours.«

Es trat wieder ein Schweigen ein.

»Sie sind schlau; am Sonntag hatten sie sich verabredet ...« platzte er plötzlich heraus.

»Oh, ohne Zweifel«, rief ich und spitzte die Ohren. »Alles ist gut bedacht, aber zu durchsichtig und schlecht durchgeführt.«

»Ich meine etwas anderes. Wissen Sie wohl, daß sie absichtlich so plump auftraten, damit es diejenigen merken ... die es merken sollten. Verstehen Sie das?«

»Nein, das verstehe ich nicht.«

»Tant mieux. Passons. Ich bin heute sehr aufgeregt.«

»Aber weshalb ließen Sie sich denn auf einen Streit mit ihm ein, Stepan Trofimowitsch«, fragte ich vorwurfsvoll.

»Je voulais convertir. Sie können darüber natürlich lachen. Cette pauvre tante, elle entendra de belles choses! Oh, mein Freund, können Sie es glauben, daß ich mich vorhin als Patriot gefühlt habe? Übrigens war ich mir stets meines Russentums bewußt ... ein echter Russe kann auch gar nicht von anderer Art sein, als wir beide, Sie und ich. Il y a là dedans quelque chose d'aveugle et de louche.«

»Zweifelsohne«, antwortete ich.

»Mein Freund, die wirkliche Wahrheit ist immer unwahrscheinlich, wissen Sie das schon? Um die Wahrheit wahrscheinlich zu machen, muß man ihr unbedingt ein wenig Lüge beimischen. Die Menschen machen es immer so. Vielleicht liegt darin etwas, was wir nicht verstehen. Was meinen Sie, ist hier irgend etwas, was wir in diesem Siegesgewinsel nicht begreifen können? Ich wünsche aufrichtig, daß dem so wäre. Ich wünsche es wirklich.«

Ich gab ihm darauf keine Antwort. Auch er schwieg sehr lange.

»Man sagt, es wären Auswirkungen der französischen Denkweise ...« begann er auf einmal wie im Fieber. »Das ist eine Lüge. Das war schon immer so. Warum will man die ganze Schuld der französischen Denkweise zuschieben? Hier ist nichts weiter als die russische Faulheit, unsere unwürdige Unfähigkeit, einen eigenen Gedanken zu produzieren, unser ekelhaftes Parasitentum unter den Völkern. Ils sont tout simplement des paresseux, und das hat mit der französischen Denkweise durchaus nichts zu tun. Oh, die Russen müßten wie schädliche Parasiten zum Besten der Menschheit ausgerottet werden! In unserer Zeit haben wir nach ganz anderen Dingen gestrebt; ich begreife jetzt nichts mehr. Ich habe einfach aufgehört zu verstehen. ›Begreifst du denn nicht, begreifst du denn nicht‹, rief ich ihm zu, ›daß bei euch die Guillotine nur deshalb im Vordergrund steht, weil es das leichteste ist, Köpfe abzuschlagen, und das allerschwerste, einen eigenen Gedanken zu fassen! Vous êtes des paresseux! Votre drapeau est une guénille, une ›impuissance‹. Diese Bauernwagen, oder, wie es da heißt: ›das Rattern der Wagen, die der Menschheit Brot bringen‹, sollen nützlicher sein als die Sixtinische Madonna, oder wie sie da sagen ... une bêtise dans ce genre. – ›Aber begreifst du denn nicht, begreifst du denn nicht,‹ rief ich ihm zu, ›daß der Mensch das Unglück im gleichen Maße braucht wie das Glück?‹ Il rit. ›Du machst hier bonmots,‹ sagte er, ›und läßt deine Glieder weich auf einem Plüschsofa ruhen ...‹ Er hat sich noch viel gemeiner ausgedrückt. Und beachten Sie diese unsere Angewohnheit, derzufolge der Vater und der Sohn sich gegenseitig duzen! Sie ist ja sehr schön, wenn sich die beiden einig sind, wie aber, wenn sie sich zanken?«

Etwa eine Minute lang schwiegen wir wieder.

»Chèr,« schloß er plötzlich, indem er sich hastig aufrichtete, »wissen Sie wohl, daß dies unfehlbar noch mit etwas enden wird?«

»Daran ist nicht zu zweifeln«, antwortete ich.

»Vous ne comprenez pas. Passons. Aber ... gewöhnlich endet in der Welt fast alles mit nichts; hier aber wird es bestimmt ein Ende geben, unbedingt, unbedingt!«

Er stand auf, ging in starker Aufregung durch das Zimmer, und als er wieder zum Sofa kam, ließ er sich kraftlos darauf niedersinken.

Am Freitagmorgen reiste Piotr Stepanowitsch irgendwohin in unseren Kreis, und blieb bis Montag fort. Von seiner Abreise erfuhr ich durch Liputin, und gleichzeitig sagte er mir, da das Gespräch darauf gekommen war, daß die Geschwister Lebiadkin beide irgendwo jenseits des Flusses in der Töpfervorstadt wohnten. »Ich habe sie ja selbst hinübergebracht«, fügte Liputin hinzu, brach dann das Gespräch darüber ab und erzählte mir plötzlich, daß Lisaweta Nikolajewna sich mit Mawrikij Nikolajewitsch verheiraten werde, und wenn das auch noch nicht bekanntgegeben sei, so habe die Verlobung dennoch bereits stattgefunden, so daß man die Sache als perfekt betrachten müßte. Am nächsten Tag traf ich Lisaweta Nikolajewna, die zum erstenmal nach ihrer Krankheit in Begleitung von Mawrikij Nikolajewitsch spazieren ritt. Sie blitzte mich von weitem mit den Augen an, lachte und nickte mir freundlich zu. Als ich das alles Stepan Trofimowitsch mitteilte, schenkte er nur der Nachricht über die Lebiadkins einige Aufmerksamkeit.

Jetzt, nachdem ich unsere rätselhafte Lage während dieser acht Tage, da wir noch nichts wußten, beschrieben habe, gehe ich zur Schilderung der nachfolgenden Ereignisse über, und zwar sozusagen schon in Kenntnis des ganzen Sachverhalts und in der Form, wie es sich alles enthüllt und herausgestellt hat. Ich beginne also mit dem achten Tage nach jenem Sonntag, das heißt, mit Montag abend, denn eigentlich begann erst da die »neue Geschichte«.

3

Es war sieben Uhr abends. Nikolaj Wsewolodowitsch saß allein in seinem Arbeitszimmer, das er noch von früher her so gern hatte, da es hoch mit Teppichen belegt und mit etwas schwerfälligen, altertümlich aussehenden Möbeln ausgestattet war. Er saß in der Ecke auf dem Sofa, wie zum Ausgehen gekleidet, schien aber dennoch sein Zimmer durchaus nicht verlassen zu wollen. Auf dem Tisch vor ihm stand eine Lampe mit einem Schirm. Die Seiten und die Ecken des großen Zimmers blieben im Schatten. Sein Blick war nachdenklich und schien in sich gekehrt zu sein, war aber nicht ganz ruhig; sein Gesicht sah müde und etwas abgemagert aus. Seine Backe war tatsächlich geschwollen, aber das Gerücht von einem ausgeschlagenen Zahn beruhte dennoch auf Übertreibungen. Der Zahn hatte nur gewackelt und war jetzt wieder fest geworden; auch die Oberlippe, die auf der Innenseite durch den Schlag gespalten war, heilte bereits zusammen. Die Geschwulst aber blieb nur deshalb die ganze Woche bestehen, weil der Kranke sich weigerte, den Arzt zu empfangen und sich rechtzeitig operieren zu lassen und lieber abwarten wollte, bis das Ganze von selbst aufging. Und nicht nur den Arzt wollte er nicht sehen, selbst die Mutter ließ er nur einmal täglich zu sich, nur für einen Augenblick und nur in der Dämmerung, wenn es schon dunkel war, aber das Licht noch nicht angezündet wurde. Auch Piotr Stepanowitsch wollte er nicht sehen. Dieser aber kam zwei- bis dreimal täglich während der ganzen Zeit, die er in der Stadt verbracht hatte, zu Warwara Petrowna gelaufen. Und nun, endlich, am Montag, nachdem Piotr Stepanowitsch gegen Morgen nach seiner dreitägigen Abwesenheit zurückgekehrt war, allen in der Stadt einen Besuch abgestattet und bei Julia Michajlowna zu Mittag gegessen hatte, erschien er am Abend bei Warwara Petrowna, die ihn bereits mit Ungeduld erwartete. Das Verbot war aufgehoben, Nikolaj Wsewolodowitsch empfing wieder Besuch. Warwara Petrowna führte den Gast persönlich an die Tür des Arbeitszimmers ihres Sohnes; es war schon seit langem ihr Wunsch gewesen, daß die beiden jungen Leute einander wiedersehen möchten, zumal Piotr Stepanowitsch ihr versprochen hatte, nach seiner Unterredung mit Nicolas zu ihr zu kommen und ihr über alles Bericht zu erstatten. Schüchtern klopfte sie jetzt bei Nikolaj Wsewolodowitsch an, und, da sie keine Antwort erhielt, wagte sie es, die Türe ein wenig zu öffnen.

»Nicolas, darf ich Piotr Stepanowitsch zu dir hineinführen?« fragte sie leise und zurückhaltend, wobei sie sich bemühte, ihren Sohn hinter der Lampe zu sehen.

»Man darf, man darf, natürlich darf man!« rief Piotr Stepanowitsch selbst laut und heiter, öffnete die Tür mit eigener Hand und trat ein.

Nikolaj Wsewolodowitsch hatte das Anklopfen nicht gehört, und nur die leise und schüchterne Frage seiner Mutter vernommen, war aber gar nicht mehr dazu gekommen, ihr zu antworten. Vor ihm lag auf dem Tisch ein soeben gelesener Brief, über den er stark nachdachte. Als er den plötzlichen Ausruf Piotr Stepanowitschs vernahm, fuhr er zusammen und suchte das Blättchen schnell unter einem Briefbeschwerer, der ihm gerade unter die Hand kam, zu verbergen. Indes gelang es ihm nicht vollständig: eine Ecke des Schreibens und fast der ganze Umschlag waren sichtbar geblieben.

»Ich habe absichtlich so laut geschrien, damit Sie Zeit hätten, sich vorzubereiten«, flüsterte Piotr Stepanowitsch eilig und mit erstaunlicher Naivität, indem er rasch zum Tisch lief und seine Blicke sofort auf den Briefbeschwerer und auf die noch sichtbare Ecke des Briefes richtete.

»Und haben natürlich noch bemerkt, daß ich ein soeben erhaltenes Schreiben vor Ihnen zu verbergen suchte«, erwiderte Nikolaj Wsewolodowitsch ruhig, ohne sich vom Platz zu rühren.

»Einen Brief? Gott mit Ihnen und mit Ihrem Brief, was kümmert er mich!« rief der Gast. »Aber ... die Hauptsache ist ...« begann er wieder zu flüstern, indem er sich nach der bereits geschlossenen Tür umwandte, und mit dem Kopfe dahin deutete.

»Sie horcht nie«, bemerkte Nikolaj Wsewolodowitsch kühl.

»Das heißt, sie kann ja auch ruhig horchen! Wenn schon!« fiel ihm Piotr Stepanowitsch sofort ins Wort, wobei er bereits fröhlich die Stimme erhob und in einem Sessel Platz nahm. »Ich habe nichts dagegen; ich bin jetzt nur hergekommen, um mit Ihnen unter vier Augen zu reden. Endlich gelang es mir, zu Ihnen durchzudringen! Vor allen Dingen: wie steht es mit Ihrer Gesundheit? Ich sehe, alles geht vortrefflich, und Sie werden vielleicht schon morgen wieder in der Öffentlichkeit erscheinen, wie?«

»Vielleicht.«

»Erlösen Sie doch endlich die Leute hier, und erlösen Sie auch mich!« rief er mit heftigen Gestikulationen, aber mit einer scherzhaften und recht freundlichen Miene. »Wenn Sie nur wüßten, was ich den Herrschaften alles vorschwatzen mußte! Übrigens wissen Sie es ja.« Er lachte.

»Ich weiß nicht alles. Ich habe nur von meiner Mutter gehört, daß Sie ... sehr rührig gewesen sind.«

»Das heißt, ich habe ja nichts Bestimmtes gesagt«, rief Piotr Stepanowitsch, der auf einmal in Eifer geriet, wie wenn er sich gegen einen schrecklichen Angriff verteidigen müßte. »Ich habe, wissen Sie, Schatows Frau in Bewegung gesetzt, das heißt die Gerüchte von Ihrem Verhältnis mit ihr in Paris, wodurch natürlich jener Vorfall am Sonntag ohne weiteres erklärt wird ... Sie sind doch nicht böse?«

»Ich bin überzeugt, daß Sie sich die erdenklichste Mühe gegeben haben.«

»Das war meine einzige Sorge. Übrigens, was bedeutet das: ›sich die erdenklichste Mühe gegeben haben?‹ Das klingt ja wie ein Vorwurf. Indessen wünschen Sie die Sache offenbar einzurenken und geradezustellen, und ich habe mich auf dem Wege hierher am meisten davor gefürchtet, daß Sie es nicht wollen werden.«

»Ich will auch in der Tat durchaus nichts einrenken«, erwiderte Nikolaj Wsewolodowitsch mit einer gewissen Gereiztheit in der Stimme. Jedoch lächelte er sofort wieder.

»Das meine ich ja gar nicht, das meine ich ja gar nicht, irren Sie sich nicht, mißverstehen Sie mich nicht!« rief Piotr Stepanowitsch, indem er wie abwehrend mit den Händen umherzufuchteln begann und seine Worte wie einen Erbsenhagel aus dem Munde rollen ließ. Die Reizbarkeit des Hausherrn erregte seine Freude. »Ich will Sie durchaus nicht mit unserer Angelegenheit aufregen, besonders in Ihrem jetzigen Zustande. Ich bin nur wegen des Vorfalls am Sonntag hierhergekommen und auch nur für ganz kurze Zeit, denn es geht wirklich nicht anders. Ich komme, um Ihnen ganz offen einige Erklärungen abzugeben, an denen ich selbst das größte Interesse habe und nicht Sie. Das sage ich, um Ihrer Eigenliebe willen, zu gleicher Zeit aber ist es die Wahrheit. Ich bin hierher geeilt, um Ihnen mitzuteilen, daß ich von nun an immer aufrichtig sein werde.«

»Also waren Sie es früher nicht?«

»Das wissen Sie ja selbst! Ich habe oft den Schlauberger gespielt ... Sie lächeln; ich freue mich sehr über dieses Lächeln, das mir Anlaß gibt, meine Erklärung zu entwickeln; ich habe ja dieses Lächeln durch das prahlerische Wörtchen ›Schlauberger‹ absichtlich hervorgelockt, damit Sie sich sofort ärgern sollten, und zwar darüber, daß ich mir einbilden konnte, ich wäre imstande, Ihnen gegenüber den Schlauen zu spielen. Und gleich daran wollte ich meine Erklärung anknüpfen. Sehen Sie, sehen Sie wohl, wie aufrichtig ich jetzt geworden bin? Nun, wollen Sie mich also anhören?«

Auf dem Gesicht Nikolaj Wsewolodowitschs, das bisher ruhig, geringschätzig und sogar spöttisch war, trotz der offenkundigen Bemühungen des Gastes, seinen Wirt durch absichtlich vorbereitete Frechheiten und ebenso absichtlich plump-naive Bemerkungen zu reizen, drückte sich jetzt endlich eine gewisse unruhige Neugier aus.

»Also hören Sie zu«, fuhr Piotr Stepanowitsch fort und drehte sich noch mehr als zuvor hin und her. »Als ich mich vor etwa zehn Tagen hierher, das heißt überhaupt hierher in diese Stadt begab, da nahm ich mir natürlich vor, eine Rolle zu spielen. Das beste wäre wohl gewesen, ganz ohne Rolle aufzutreten, sich so zu geben, wie man eben ist, nicht wahr? Es gibt nichts Schlaueres, als sich selbst zu mimen, weil dann einem doch niemand glaubt. Aber offengestanden wollte ich die Rolle eines Dummkopfes wählen, denn es ist viel leichter, einen Dummian zu spielen als sich selbst. Da indessen ein Dummkopf immerhin ein Extrem ist und Neugierde erregen kann, so bin ich schließlich doch endgültig bei meiner eigenen Person stehengeblieben. Nun, was bin ich denn, und was stelle ich eigentlich vor? Ich gehöre zur goldenen Mitte: bin weder klug noch dumm, ziemlich unbegabt und vom Monde heruntergesprungen, wie hier verständige Leute sagen, nicht wahr?«

»Nun, vielleicht ist es in der Tat der Fall«, erwiderte Nikolaj Wsewolodowitsch mit einem kaum merklichen Lächeln.

»Ah, Sie sind einverstanden, das freut mich! Ich wußte im voraus, daß es Ihre eigenen Gedanken sind ... Seien Sie unbesorgt, seien Sie unbesorgt, ich nehme es Ihnen durchaus nicht übel, und habe mich durchaus nicht in diesem Licht gezeigt, um Ihnen entgegengesetzte Lobsprüche zu entlocken, wie etwa: ›Nein, Sie sind nicht unbegabt, nein, Sie sind klug‹ ... Ah, Sie lächeln wieder! ... Ich bin wieder hineingefallen. Sie hätten gar nicht gesagt, daß ich klug sei, na, allerdings, ich nehme es dennoch an. Passons, wie mein Herr Papa sagt, und nehmen Sie mir, nebenbei bemerkt, meine Redseligkeit nicht übel. Übrigens, da haben wir wieder ein Beispiel: ich rede immer viel, das heißt, ich mache viel Worte und haste dabei, und es kommt doch nichts heraus. Weshalb spreche ich soviel, ohne daß dabei etwas zustande kommt? Nun, weil ich eben nicht zu reden verstehe. Wer reden kann, der spricht kurz. Da haben wir also schon ein Beispiel meiner Unbegabtheit, nicht wahr? Da aber diese Gabe der Unbegabtheit bei mir ganz natürlich ist, warum sollte ich sie da nicht künstlich ausnutzen? Also tue ich es eben. Allerdings dachte ich, als ich mich hierherzureisen anschickte, anfangs zu schweigen. Aber erstens gehört zum Schweigen ein großes Talent, und somit ist es nichts für mich, und zweitens ist Schweigen immerhin auch gefährlicher. Also beschloß ich denn endgültig, daß es schon besser sei, zu reden, aber eben nach der Art eines Unbegabten, das heißt: wirklich viel zu sprechen, sich stets zu beeilen, immer etwas zu beweisen und sich dabei schließlich so zu verwickeln, daß der Zuhörer die Hände über den Kopf zusammenschlagen und fortgehen sollte, ohne zu Ende gehört zu haben und am liebsten noch ausspucken würde ... Das Ergebnis ist dann, daß man erstens diesen Zuhörer von seiner Einfalt überzeugt, zweitens ihn sehr gelangweilt hat und drittens ihm unverständlich bleibt! Da hat man also drei Vorteile mit einemmal! Ich bitte Sie, wer wird einen da daraufhin noch irgendwelcher geheimer Pläne verdächtigen? Ja, jedermann hier wird es für eine persönliche Beleidigung halten, wenn ihm jemand sagt, ich gebe mich mit solchen geheimnisvollen Plänen ab. Außerdem bringe ich die Menschen hier mitunter zum Lachen, und das ist auch viel wert. Sie werden mir jetzt alles schon allein deshalb verzeihen, weil es sich herausstellt, daß ich, der Überschlaue, der dort im Auslande Proklamationen verfaßt haben soll, hier dümmer bin als sie es selbst sind, nicht wahr? Ich sehe schon Ihrem Lächeln an, daß Sie meine Ansicht teilen.«

Nikolaj Wsewolodowitsch hatte übrigens gar nicht gelächelt, sondern hörte im Gegenteil mit finsterer Miene und sogar ungeduldig zu.

»Wie? Wie? Ich glaube, Sie riefen soeben: ›einerlei‹?« legte Piotr Stepanowitsch von neuem los, obwohl Nikolaj Wsewolodowitsch gar nichts gesagt hatte. »Natürlich, selbstverständlich; seien Sie überzeugt, daß ich das durchaus nicht erzähle, um Sie durch meine Kameradschaft zu kompromittieren. Aber wissen Sie, Sie sind heute furchtbar empfindlich; ich komme zu Ihnen mit heiterer und offener Seele, und Sie legen jedes meiner Worte auf die Goldwage. Seien Sie überzeugt, daß ich heute kein kitzliges Thema berühren werde. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf und bin im voraus mit allen Ihren Bedingungen einverstanden!«

Nikolaj Wsewolodowitsch schwieg hartnäckig weiter.

»Nun, wie beliebt? Sie haben etwas gesagt? Ich sehe, ich sehe schon, daß ich auch hier wieder, wie es scheint, Unsinn geplappert habe. Sie haben mir keine Bedingung gestellt und werden mir auch keine stellen; ich glaube es Ihnen, ich glaube es, beruhigen Sie sich. Ich weiß ja selbst, daß es sich kaum der Mühe lohnt, mir Bedingungen zu stellen, nicht wahr? Sie sehen, ich antworte mir selbst an Ihrer Statt, im voraus, – und natürlich lediglich infolge meiner Unbegabtheit; bei mir ist auf Schritt und Tritt meine Unbegabtheit zu erkennen ... Sie lachen? Wie? Warum?«

»Aus gar keinem Grunde«, erwiderte Nikolaj Wsewolodowitsch und lächelte endlich wirklich. »Es ist mir soeben eingefallen, daß ich Sie tatsächlich einmal als unbegabt bezeichnet habe, aber in ihrer Abwesenheit ... Also mußte man es Ihnen hinterbracht haben ... Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie möglichst schnell zur Sache kommen würden.«

»Aber ich bin ja gerade bei der Sache, ich sage das ja alles nur in bezug auf die Vorgänge am Sonntag!« rieselte Piotr Stepanowitsch von neuem los. »Nun, was bin ich denn Ihrer Meinung nach am Sonntag gewesen? Doch nichts anderes, als gerade ein Vertreter der mittelmäßigen, sich überstürzenden Unbegabtheit! Und ich habe mich auch auf die abgeschmackteste Weise mit Gewalt des Gesprächs bemächtigt. Aber man hat mir alles verziehen, weil es hier erstens jetzt vollkommen festzustehen scheint, daß ich ›vom Monde herkomme‹ und zweitens, weil ich ein nettes Geschichtchen erzählt und dadurch allen aus der Patsche geholfen habe, nicht wahr? Nicht wahr?«

»Das heißt, Sie haben absichtlich so erzählt, daß bei den Zuhörern ein Zweifel bleiben und der Glaube entstehen mußte, daß wir beide das Ganze verabredet hatten, obwohl nichts Derartiges geschehen war und ich Sie um rein gar nichts gebeten habe.«

»Ganz richtig, ganz richtig!« fiel ihm Piotr Stepanowitsch wie begeistert ins Wort. »Ich habe das gerade so gemacht, damit Sie die Sprungfeder dahinter merken sollten; ich habe doch hauptsächlich Ihretwegen die ganze Komödie gespielt, denn gerade Sie wollte ich fangen und kompromittieren. Es lag mir hauptsächlich daran, zu erfahren, in wie hohem Grade Sie sich fürchten.«

»Ich möchte wissen, warum Sie jetzt so offenherzig sind?«

»Seien Sie nicht böse, seien Sie nicht böse, funkeln Sie nicht so mit den Augen ... Übrigens tun Sie das ja gar nicht. Sie möchten wissen, warum ich so offenherzig bin? Ja, weil jetzt alles anders geworden ist! Das Alte ist zu Ende, vergangen und mit Sand verschüttet. Ich habe meine Meinung über Sie plötzlich geändert. Den alten Weg werde ich nicht mehr beschreiten. Jetzt werde ich Sie nie wieder auf die alte Weise kompromittieren, sondern nur noch auf eine neue Art.«

»Sie haben also Ihre Taktik geändert?«

»Von einer Taktik kann hier gar nicht die Rede sein. Ich lasse Ihnen jetzt in allen Dingen freien Willen: das heißt, wenn Sie wollen, können Sie ›ja‹ sagen, und wenn Sie nicht wollen, sagen Sie eben ›nein‹. Da haben Sie diese ganze neue Taktik. Von unserer Angelegenheit aber werde ich keinen Ton sagen, ehe Sie es nicht selbst befehlen. Sie lachen? Wohl bekomm's! Ich lache auch. Aber ich meine es jetzt ernst, ganz ernst, obwohl jemand, der so hastet, natürlich unbegabt ist, nicht wahr? Aber das ist ja auch einerlei, mag ich auch unbegabt sein, aber ich meine es jetzt ernst, ganz ernst.«

Er sprach jetzt in der Tat in einem ganz anderen Tone und in einer besonderen Erregung, so daß Nikolaj Wsewolodowitsch ihn sogar mit lebhaftem Interesse ansah.

»Sie sagen, daß Sie Ihre Meinung über mich geändert haben?« fragte er.

»Ja, das habe ich, und zwar seit dem Augenblick, als Sie die Hände von Schatow zurückzogen. Aber, bitte, genug, genug davon und fragen Sie mich bitte nicht weiter, ich werde jetzt nichts mehr darüber sagen.«

Er sprang auf und fuchtelte mit den Händen in der Luft umher, wie wenn er weitere Fragen abwehren wollte. Da aber keine Fragen erfolgten, und er noch nicht an das Fortgehen dachte, ließ er sich etwas beruhigt wieder in den Sessel nieder.

»Übrigens, beiläufig gesagt,« schwatzte er sofort von neuem los, »hier wollen sich verschiedene Herrn einreden, daß Sie ihn töten werden; sie wetten sogar darauf, so daß Lembke beinah die Polizei in Bewegung setzen wollte. Aber Julia Michajlowna hat ihm das verboten ... Nun, genug, genug davon; ich wollte Sie nur benachrichtigen. Übrigens noch etwas: ich habe die beiden Lebiadkins noch am gleichen Tage hinübergeschafft; Sie wissen; haben Sie meine Zuschrift mit der neuen Adresse erhalten?«

»Ja, gleich darauf.«

»Das habe ich nicht infolge meiner ›Unbegabtheit‹, sondern aus eifriger Dienstfertigkeit gemacht. Wenn es vielleicht auch unbegabt herausgekommen ist, so war es dennoch wirklich gut gemeint.«

»Nun, das macht nichts, vielleicht ist es sogar gut so ...« erwiderte Nikolaj Wsewolodowitsch. nachdenklich. »Aber ich bitte Sie dringend, mir keine Briefe mehr zu senden.«

»Es ging nicht anders, ich habe ja nur den einen geschrieben.«

»Also Liputin ist im Bilde?«

»Das ließ sich nicht umgehen; aber Liputin wird, wie Sie selbst wissen, nichts wagen ... Übrigens müßten wir auch mal zu den Unsrigen gehen, das heißt zu den anderen und nicht zu den ›Unsrigen‹; legen Sie dieses Wort nicht auf die Wagschale. Und beunruhigen Sie sich nicht, ich meine nicht jetzt gleich, sondern später einmal. Jetzt regnet es draußen. Ich will die Leute vorher benachrichtigen, sie werden sich versammeln, und dann können wir sie abends aufsuchen. Sie warten schon mit aufgesperrten Mäulern, wie junge Dohlen im Neste, um zu erfahren, was für einen schönen Brocken wir ihnen mitgebracht haben. Ein hitziges Völkchen. Sie haben da allerlei Bücher hervorgesucht und beabsichtigen zu disputieren. Wirginskij schwärmt von der Menschheit als solcher, Liputin ist Fourierist mit einer starken Neigung zur Polizeispitzeltätigkeit. Er ist, will ich Ihnen sagen, in dieser Beziehung ein sehr wertvoller Mensch, bedarf aber in jeder anderen Hinsicht einer außerordentlich strengen Behandlung. Und endlich ist da noch der mit den langen Ohren, der trägt sein eigenes System vor. Und, wissen Sie, die Leutchen fühlen sich gekränkt, weil ich sie von oben herab behandle und sie sozusagen mit kaltem Wasser begieße, hä, hä! Aber hingehen müssen wir unbedingt einmal.«

»Sie haben mich da wohl als eine Art Chef bezeichnet?« fragte Nikolaj Wsewolodowitsch möglichst lässig. Piotr Stepanowitsch sah ihn mit einem raschen Blick an.

»Übrigens,« fiel er Stawrogin ins Wort, wie wenn er ihn nicht gehört hätte und bemüht wäre, dieses Thema niederzudrücken, »ich bin hier zwei- bis dreimal täglich zu der hochverehrten Warwara Petrowna gekommen und mußte ebenfalls sehr viel sprechen.«

»Das kann ich mir lebhaft vorstellen.«

»Nein, stellen Sie sich nichts vor, ich habe ihr einfach gesagt, Sie würden niemand töten, na, und noch mehr solcher süßen Worte. Und denken Sie sich: sie wußte schon am nächsten Tage, daß ich Maria Timofejewna auf das andere Ufer des Flusses hinübergebracht habe. Haben Sie ihr das gesagt?«

»Ist mir nicht eingefallen.«

»Ich dachte mir schon, daß Sie es nicht gewesen sind. Wer aber könnte es gewesen sein, außer Ihnen. Das ist interessant.«

»Nun, natürlich Liputin.«

»N–nein, Liputin nicht«, murmelte Piotr Stepanowitsch und machte ein finsteres Gesicht. »Ich werde es schon herausbringen, wer es gewesen ist. Das Ganze sieht Schatow sehr ähnlich ... Übrigens – Unsinn, lassen wir das! Aber es ist sehr wichtig ... Nebenbei gesagt habe ich immer erwartet, daß Ihre Frau Mutter plötzlich mit der Hauptfrage herausrücken würde ... Ach ja, alle diese Tage war sie furchtbar mürrisch, und heute sehe ich, daß sie förmlich strahlt. Wie kommt das?«

»Sie freut sich, weil ich ihr heute mein Wort gab, mich in fünf Tagen um Lisaweta Nikolajewnas Hand zu bewerben«, erwiderte Nikolaj Wsewolodowitsch plötzlich mit überraschender Offenherzigkeit.

»Ah, nun ... ja, selbstverständlich«, murmelte Piotr Stepanowitsch auf einmal etwas verlegen. »Man spricht in der Stadt, sie würde sich mit einem anderen verloben. Wissen Sie das schon? Es stimmt indessen. Aber Sie haben recht, sie würde auch vom Traualtar weglaufen, wenn Sie sie nur rufen wollten. Sie nehmen es mir doch nicht übel, daß ich das so offen sage?«

»Nein, das tue ich nicht.«

»Ich stelle fest, daß es heute sehr schwer ist, Sie zu ärgern und beginne, Sie zu fürchten. Ich bin sehr neugierig darauf, wie Sie sich morgen in der Öffentlichkeit zeigen werden. Sie haben sicherlich viel schöne Streiche vorbereitet. Sie sind mir doch nicht böse, daß ich es sage?«

Nikolaj Wsewolodowitsch gab diesmal gar keine Antwort und brachte Piotr Stepanowitsch dadurch ganz aus der Fassung.

»Übrigens haben Sie Ihrer Mutter das von Lisaweta Nikolajewna im Ernst versprochen?« fragte er.

Nikolaj Wsewolodowitsch sah ihn kalt und unverwandt an.

»Ah, ich begreife, nur zur Beruhigung! Nun, ja.«

»Und wenn ich es im Ernst versprochen hätte?« fragte Nikolaj Wsewolodowitsch in festem Tone.

»Nun, dann mit Gott, wie man in solchen Fällen zu sagen pflegt. Der Sache wird es nichts schaden ... Sie sehen, ich habe nicht gesagt ›unserer Sache‹, da ich ja weiß, daß Sie das Wörtchen ›unser‹ nicht leiden können ... Und ich ... nun, ich stehe zu Ihren Diensten, das wissen Sie selbst.«

»Meinen Sie?«

»Ich meine gar nichts, rein gar nichts,« erwiderte Piotr Stepanowitsch hastig und lachte dabei, »weil ich weiß, daß Sie alles, was Ihre Angelegenheiten betrifft, selbst im voraus überlegt und zurechtgelegt haben. Ich wollte nur sagen, daß ich Ihnen allen Ernstes zu Diensten stehe, überall und immer, in jedem Fall, das heißt wirklich in jedem, verstehen Sie wohl?«

Nikolaj Wsewolodowitsch gähnte.

»Sie sind wohl meiner bereits überdrüssig geworden«, rief Piotr Stepanowitsch, sprang plötzlich auf, ergriff seinen runden, fast ganz neuen Hut, tat so, als ob er fortgehen wollte, blieb aber dabei doch noch im Zimmer und redete, wenn auch stehend, ununterbrochen weiter. Mitunter schritt er sogar auf und ab, und bei den lebhaftesten Stellen des Gespräches schlug er sich mit dem Hut auf das Knie.

»Ich wollte Sie eigentlich noch mit einigen Mitteilungen über die Lembkes erheitern«, rief er vergnügt.

»Nein, jetzt nicht, später, ein andermal. Wie ist übrigens das Befinden Julia Michajlownas?«

»Was Sie doch alle für gute Manieren haben! Das Befinden der Gouverneurin ist Ihnen genau so gleichgültig wie das Befinden irgendeiner grauen Katze, und dennoch erkundigen Sie sich danach. Ich lobe das. Sie ist gesund, und sie verehrt Sie geradezu abergläubisch! Auch was sie von Ihnen erwartet, grenzt bereits an Aberglauben. Über die Vorfälle am Sonntag schweigt sie und ist überzeugt, daß Sie alle Hindernisse aus dem Wege räumen und alle Ihre Feinde besiegen werden, schon allein durch Ihr bloßes Erscheinen. Bei Gott, sie bildet sich ein, daß Sie unglaublich viel vermögen. Im übrigen sind Sie jetzt noch mehr als je zuvor eine rätselhafte, romantische Persönlichkeit geworden, also Sie sind in einer außerordentlich vorteilhaften Lage. Alle erwarten Sie mit einer fast übernatürlichen Spannung. Schon als ich wegfuhr, fieberte alles förmlich, und jetzt ist es noch ärger geworden. Übrigens möchte ich mich noch einmal für Ihren Brief bedanken. Die Leutchen hier haben vor dem Grafen K. eine Heidenangst. Man hält Sie hier scheinbar für einen Spion! Ich bestätige diese Gerüchte. Sind Sie mir deshalb böse?«

»Nein, das macht nichts.«

»Das schadet in der Tat nichts; es ist für die Zukunft sogar notwendig; hier herrscht eine althergebrachte Ordnung. Ich ermuntere die Leutchen natürlich; an der Spitze steht Julia Michajlowna und Gaganow ... Sie lachen? Aber ich mache es ja gar nicht ohne Taktik: ich schwatze, schwatze und sage dann plötzlich ein kluges Wort, und zwar gerade in dem Augenblick, wo alle danach suchen. Man umringt mich sofort, und da beginne ich wieder Unsinn zu reden. Mich haben sie alle bereits aufgegeben: ›der Mann ist wohl nicht ohne Fähigkeiten,‹ sagen sie, ›aber so naiv, wie wenn er vom Monde gekommen wäre.‹ Lembke fordert mich auf, in den Staatsdienst einzutreten, damit sich mein innerer Mensch aufrichte. Ich behandle ihn ganz schrecklich, wissen Sie, das heißt ich kompromittiere ihn so, daß er nur noch die Augen aufreißen kann. Julia Michajlowna ist mit meinem Vorgehen durchaus einverstanden. Ja, übrigens, Gaganow ist Ihnen furchtbar böse. Gestern hat er sich in Duchowo ganz abscheulich über Sie geäußert. Ich habe ihm sofort die volle Wahrheit dargestellt, das heißt natürlich durchaus nicht die volle Wahrheit. Ich habe bei ihm in Duchowo einen ganzen Tag verlebt. Ein sehr nettes Gut, ein schönes Haus.«

»Ja, ist er denn auch jetzt noch in Duchowo?« rief Nikolaj Wsewolodowitsch erregt, wobei er beinah aufsprang und eine heftige Bewegung machte, als ob er sich nach vorne stürzen wollte.

»Nein, er hat mich ja heute morgen hierhergebracht, wir sind zusammen in die Stadt zurückgekehrt«, erwiderte Piotr Stepanowitsch ruhig, wie wenn er Nikolaj Wsewolodowitschs plötzliche kurze Erregung gar nicht bemerkt hätte. »Was ist das, ich habe da ein Buch umgeworfen«, sagte er und bückte sich, um das von ihm heruntergestreifte illustrierte Buch aufzuheben. »›Die Frauen‹, von Balzac, mit Illustrationen –« rief er, indem er den Band aufschlug, »kenne ich nicht. Lembke schreibt auch Romane.«

»So?« fragte Nikolaj Wsewolodowitsch, wie wenn er Interesse dafür hätte.

»In russischer Sprache und natürlich ganz heimlich. Julia Michajlowna weiß es und erlaubt es ihm. Er ist eine Schlafmütze, weiß sich aber zu benehmen. Das hat sich bei ihm im Laufe der Zeit gut herausgebildet. Diese Strenge der Formen, diese Beharrlichkeit und Konsequenz! Wie nett wäre es, wenn wir etwas in dieser Art hätten!«

»Sie loben die Verwaltung?«

»Wie sollte ich auch nicht! Es ist doch das einzige, was in Rußland natürlich ist und wirklich erreicht wurde ... Ich sage schon nichts mehr, ich bin schon still«, unterbrach er sich plötzlich. »Ich wollte ganz etwas anderes sagen, von diesen heiklen Dingen wird kein Wort mehr über meine Lippen kommen. Aber nun, leben Sie wohl, Sie sind im Gesicht ja ganz grün.

»Ich habe Fieber.«

»Es sieht auch danach aus. Legen Sie sich lieber ins Bett. Übrigens gibt es hier im Kreise auch Skopzen, ein interessantes Völkchen ... Davon übrigens ein anderes Mal. Ja, da haben Sie noch ein kleines Anekdötchen: hier im Kreis ist jetzt ein Infanterieregiment stationiert. Freitagabend habe ich mit den Offizieren in B...zy gekneipt. Wir haben unter ihnen drei Freunde, vous comprenez? Es wurde über den Atheismus gesprochen, wobei der liebe Gott natürlich abgesetzt und entlassen wurde. Sie freuten sich, kreischten sogar vor Vergnügen. Übrigens behauptet Schatow, daß, wenn man in Rußland einen Aufruhr organisieren will, die Sache unbedingt mit dem Atheismus begonnen werden müsse. Vielleicht hat er recht. Mit uns saß so ein alter, grauhaariger Hauptmann. Die ganze Zeit über schwieg er. Da aber erhob er sich plötzlich, stellte sich mitten im Zimmer hin und sagte laut, aber doch so, wie wenn er mit sich selbst spräche: ›Wenn es keinen Gott gibt, was bin ich denn dann für ein Hauptmann?‹ und nahm seine Mütze, breitete die Hände aus, wie wenn er nichts verstünde und ging hinaus.«

»Da hat er einen ziemlich klaren und lebensfähigen Gedanken ausgedrückt«, meinte Nikolaj Wsewolodowitsch und gähnte zum drittenmal.

»So? Ich hatte ihn nicht verstanden und nahm mir vor, Sie danach zu fragen. Nun, was wollte ich Ihnen noch erzählen? Ja, interessant ist die Fabrik der Schpigulins; da arbeiten, wie Sie wohl wissen, fünfhundert Arbeiter; das Ganze ist ein richtiger Choleraherd; seit fünfzehn Jahren sind die Werke nicht gereinigt, und den Arbeitern wird der Lohn gekürzt; die Besitzer sind bereits Millionäre. Ich versichere Ihnen, daß unter den Arbeitern manche einen Begriff von der Internationale haben. Wie? Sie lächeln? Sie werden es bald selbst sehen; lassen Sie mir nur ein wenig, ein ganz klein wenig Zeit! Ich habe Sie schon einmal um eine kurze Frist gebeten und bitte jetzt wieder darum und dann ... verzeihen Sie übrigens, ich bin schon still, ich will nicht mehr davon reden, kein Wort mehr, machen Sie doch kein solches Gesicht. Nun, leben Sie wohl! Ach, was mache ich da?« rief er plötzlich, wieder umkehrend, aus. »Ich habe ja gerade die Hauptsache vergessen: es wurde mir soeben mitgeteilt, daß unsere Kiste aus Petersburg angekommen ist.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Nikolaj Wsewolodowitsch und sah ihn dabei verständnislos an.

»Nun, ich meine Ihre Kiste, Ihre Sachen, die Fracks, die Beinkleider und die Wäsche. Ist es wahr, daß die Sachen angekommen sind?«

»Ja, es wurde mir vorhin so etwas gesagt.«

»Ach, könnte ich denn vielleicht jetzt gleich ...«

»Fragen Sie Alexej.«

»Aber morgen, morgen ginge es doch wohl? Es sind ja da mit Ihren Sachen auch einige Kleidungsstücke von mir angekommen: ein Frack und drei Paar Beinkleider, die ich, wie Sie sich wohl noch erinnern, auf Ihre Empfehlung hin bei Scharmer anfertigen ließ.«

»Es ist mir zu Ohren gekommen, daß Sie hier den Gentleman spielen«, entgegnete Nikolaj Wsewolodowitsch lächelnd. »Ist es wahr, daß Sie sich von einem Stallmeister Reitunterricht erteilen lassen?«

Piotr Stepanowitschs Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln.

»Wissen Sie was,« begann er dann hastig, aber mit einer bebenden und oft stockenden Stimme, »wissen Sie was, Nikolaj Wsewolodowitsch, wir wollen doch alles Persönliche ein für allemal aus dem Spiel lassen? Sie können mich natürlich verachten, soviel es Ihnen beliebt, wenn Ihnen mein Benehmen lächerlich erscheint; aber es wäre doch besser, wenn Sie das Persönliche für eine Zeitlang ausschalten würden, nicht wahr?«

»Gut, ich werde es nicht wieder tun«, entgegnete Nikolaj Wsewolodowitsch. Piotr Stepanowitsch lächelte in sich hinein, schlug sich mit dem Hut auf das Knie, trat von dem einen Fuß auf den anderen und nahm seine frühere Miene an.

»Hier halten mich manche sogar für Ihren Nebenbuhler bei Lisaweta Nikolajewna; wie sollte ich da mein Äußeres vernachlässigen?« lachte er. »Wer trägt Ihnen aber alle diese Dinge zu? Hm! Genau acht Uhr; nun, da muß ich gehen; ich habe allerdings versprochen, noch Warwara Petrowna aufzusuchen, werde es aber lieber unterlassen. Und Sie tun am besten, wenn Sie sich ins Bett legen. Dann fühlen Sie sich morgen munterer. Draußen ist es dunkel, und es regnet; ich habe mir sogar eine Droschke gemietet, weil es hier auf den Straßen nachts nicht sicher ist ... Ach ja, übrigens noch etwas: hier in der Stadt und in der Umgebung treibt sich jetzt ein gewisser Fedka umher, ein aus Sibirien entlaufener Sträfling, ein Mann, der früher zu meinem Hofgesinde gehörte, denken Sie sich das nur! Vor etwa fünfzehn Jahren hat ihn mein Papa für Geld unter die Soldaten gesteckt. Eine sehr interessante Persönlichkeit.«

»Sie ... haben Sie mit ihm bereits gesprochen?« fragte Nikolaj Wsewolodowitsch und sah ihn scharf und durchdringend an.

»Ja, vor mir versteckt er sich nicht. Ein zu allem bereites Individuum, er ist wirklich zu allem bereit; für Geld natürlich; aber er hat trotzdem auch Überzeugungen, selbstverständlich in seiner Art. Ach ja, da fällt mir noch etwas ein: wenn Sie vorhin im Ernst von Ihren Plänen gesprochen haben, wissen Sie noch, in bezug auf Lisaweta Nikolajewna, so erkläre ich Ihnen hiermit noch einmal, daß auch ich ein zu allem bereites Individuum bin und stets und ständig, in jeder Art und Weise, durchaus zu Ihren Diensten stehe ... Was soll das, weshalb greifen Sie nach dem Stock? Ach, nein, Sie tun es ja gar nicht ... Denken Sie sich nur, es war mir soeben, als ob Sie nach dem Stock suchten?«

Nikolaj Wsewolodowitsch suchte nichts und sagte auch kein Wort; jedoch stand er tatsächlich auf einmal auf, und zwar mit einem ganz eigentümlichen Gesichtsausdruck.

»Und wenn Sie auch in bezug auf Herrn Gaganow mich irgendwie benötigen sollten,« platzte Piotr Stepanowitsch auf einmal heraus und deutete dabei ganz unverhohlen mit dem Kopf nach dem Briefbeschwerer hin, »so kann ich natürlich alles bewerkstelligen und bin überzeugt, daß Sie mich nicht übergehen werden.«

Er ging plötzlich hinaus, ohne eine Antwort abzuwarten, schob aber, als er schon draußen war, den Kopf noch einmal durch die Türspalte hinein:

»Ich sage das nur,« rief er in aller Hast, »weil Schatow doch auch durchaus nicht berechtigt war, damals am Sonntag, als er zu Ihnen herantrat, so leichtfertig sein Leben aufs Spiel zu setzen, nicht wahr? Es wäre mir sehr erwünscht, daß Sie das beachten.«

Und er verschwand abermals, ohne eine Antwort abzuwarten.

4

Vielleicht dachte er, während er sich aus dem Staube machte, daß Nikolaj Wsewolodowitsch, allein geblieben, sofort anfangen würde, mit den Fäusten gegen die Wand zu schlagen, und er hätte sich sicherlich gefreut, diese Szene mitanzusehen, wenn es nur irgendwie möglich gewesen wäre. Aber er hätte sich sehr getäuscht! Nikolaj Wsewolodowitsch blieb ganz ruhig. Etwa zwei Minuten lang stand er noch am Tisch in derselben Haltung, anscheinend tief in Gedanken versunken. Bald aber erschien ein mattes, kaltes Lächeln auf seinen Lippen. Er setzte sich langsam auf seinen früheren Platz in der Ecke des Sofas und schloß wie vor Müdigkeit die Augen. Der Brief schaute noch wie vorher unter dem Briefbeschwerer hervor, aber Stawrogin rührte sich gar nicht, um ihn fortzunehmen.

Bald schweiften seine Gedanken weit ab und er vergaß die Wirklichkeit vollends. Warwara Petrowna, der die schweren Sorgen den Tag über gar zuviel Pein gemacht hatten, hielt es nicht länger aus und wagte es nach dem Weggehen Piotr Stepanowitschs, der ihr zwar versprochen hatte, sie aufzusuchen, aber sein Wort nicht einhielt, ihren Nicolas selbst zu besuchen, obwohl sie sich bewußt war, daß sie es in einer ungeeigneten Stunde tat. Sie hoffte noch immer irgendwie, daß er ihr doch endlich etwas Bestimmtes sagen würde. Leise, wie schon kurz zuvor, klopfte sie an die Tür und da sie wieder keine Antwort erhielt, öffnete sie diese. Als sie des völlig regungslos dasitzenden Nicolas gewahr wurde, näherte sie sich mit stark klopfendem Herzen dem Sofa. Es schien sie zu befremden, daß er so schnell eingeschlafen war und daß er überhaupt so schlafen konnte, so kerzengrade und unbeweglich dasitzend, wobei selbst sein Atem kaum noch wahrnehmbar war. Sein Gesicht erschien blaß und finster, aber gänzlich unbeweglich, gleichsam erstarrt; die Augenbrauen waren ein wenig zusammengezogen; er glich entschieden einer leblosen Wachsfigur. Warwara Petrowna stand ungefähr drei Minuten lang über ihn gebeugt da. Sie wagte kaum noch zu atmen. Plötzlich befiel sie eine große Angst; sie trat auf den Zehenspitzen aus dem Zimmer hinaus, blieb für einen Augenblick an der Tür stehen, bekreuzte den Sohn von weitem und entfernte sich unbemerkt, mit einem neuen schweren Gefühl und einem neuen Kummer im Herzen.

Er schlief lange, über eine Stunde, und nicht für einen Augenblick veränderte sich sein an Erstarrung erinnernder Zustand; kein Muskel seines Gesichts zuckte und der scheinbar leblose Körper machte nicht die geringste Bewegung; selbst die Brauen blieben noch ebenso finster zusammengezogen. Wäre Warwara Petrowna noch drei Minuten länger da geblieben, so hätte sie wahrscheinlich das erdrückende Gefühl, das diese lethargische Unbeweglichkeit hervorrief, nicht länger ertragen können und würde ihn geweckt haben. Aber nun öffnete er plötzlich selbst die Augen. Doch blieb er etwa zehn Minuten lang noch ebenso unbeweglich sitzen, wie wenn er neugierig und beharrlich irgendeinen Gegenstand anblickte, der ihn in der Zimmerecke verblüfft hätte, obwohl da überhaupt weder etwas Neues noch etwas Besonderes vorhanden war.

Endlich ertönte der leise, dumpfe Klang der großen Wanduhr, die einmal schlug. Mit einer gewissen Unruhe wandte Nikolaj Wsewolodowitsch seinen Kopf um und sah nach dem Zifferblatt, aber fast im selben Augenblick öffnete sich die nach dem Korridor hinausgehende Hintertür, und es erschien der Kammerdiener Alexej Jegorowitsch. Er trug in einer Hand einen warmen Mantel, ein Halstuch und einen Hut, und in der anderen ein silbernes Tellerchen, auf dem ein Brief lag.

»Es ist schon halb zehn«, verkündete er leise, legte die mitgebrachten Sachen in einer Ecke auf einen Stuhl nieder und überreichte seinem Herrn auf dem Teller den Brief – ein kleines unversiegeltes Blättchen, auf dem zwei Zeilen mit Bleistift geschrieben standen. Nachdem Nikolaj Wsewolodowitsch die Mitteilung durchgelesen hatte, ergriff er ebenfalls einen Bleistift vom Tisch, schrieb am unteren Ende des Zettels zwei Worte und legte diesen wieder auf das Tellerchen.

»Sobald ich weggegangen bin, soll es abgegeben werden. Jetzt will ich mich anziehen«, sagte er und erhob sich vom Sofa.

Als er bemerkte, daß er eine leichte Samtjacke anhatte, dachte er einen Augenblick nach und Heß sich dann einen anderen Rock reichen, aus Tuch, wie man ihn bei Abendvisiten anzieht, bei denen auf Form etwas mehr Wert gelegt wird. Als er endlich ganz angekleidet war und den Hut aufgesetzt hatte, schloß er die Tür, durch die Warwara Petrowna zu ihm hereingekommen war, nahm unter dem Briefbeschwerer den bis dahin versteckten Brief hervor und ging in Begleitung Alexej Jegorowitschs, ohne ein Wort zu sagen, in den Korridor hinaus. Von da gelangten die beiden auf eine schmale, steinerne Hintertreppe, stiegen diese hinab und betraten einen Flur, der unmittelbar in den Garten hinausführte. In einer Flurecke waren schon ein großer Regenschirm und eine Laterne bereitgestellt.

»Dem außerordentlich starken Regen zufolge ist der Schmutz auf den hiesigen Straßen geradezu unerträglich«, meldete Alexej Jegorowitsch. Es war sein letzter, weit ausholender Versuch, den Herrn noch im letzten Augenblick von seinem Vorhaben zurückzuhalten. Aber dieser spannte den Schirm auf und trat schweigend in den nassen und wie ein Kellerloch dunklen, durchfeuchteten alten Garten hinaus. Der Wind pfiff und lärmte und schüttelte die Wipfel der halbkahlen Bäume; die schmalen Sandwege waren glitschig. Alexej Jegorowitsch folgte ihm so wie er war, im Frack und barhaupt und erleuchtete mit seiner Laterne den Weg etwa drei Schritte voraus.

»Wird man uns auch nicht bemerken?« fragte plötzlich Nikolaj Wsewolodowitsch.

»Aus den Fenstern kann uns niemand sehen; außerdem habe ich alle nötigen Vorkehrungen getroffen«, erwiderte der Diener leise und gemessen.

»Schläft meine Mutter?«

»Die gnädige Frau haben sich auch heute, wie schon an allen letzten Abenden genau um zehn Uhr eingeschlossen, und es ist ein Ding der Unmöglichkeit, daß sie etwas in Erfahrung bringen könnten. Zu welcher Stunde befehlen Sie mir, Sie zu erwarten?« fügte er hinzu, indem er es wagte, selbst eine Frage zu stellen.

»Um eins, um halb zwei, spätestens um zwei.«

»Zu Befehl.«

Nachdem sie auf gewundenen Wegen den ganzen Garten, den sie beide sehr gut kannten, durchschritten hatten, erreichten sie die steinerne Gartenmauer und fanden hier ganz in der Ecke ein kleines Pförtchen, das in eine enge und stille Gasse hinausführte. Dieses Pförtchen war fast immer geschlossen, aber der Schlüssel befand sich jetzt auf einmal in Alexej Jegorowitschs Hand.

»Wenn bloß die Tür nicht knarren wollte«, meinte wieder Nikolaj Wsewolodowitsch.

Aber Alexej Jegorowitsch berichtete, er habe sie noch gestern geölt, und heute ebenfalls. Er war schon ganz durchnäßt. Nachdem er das Pförtchen aufgeschlossen hatte, reichte er den Schlüssel Nikolaj Wsewolodowitsch.

»Falls Sie einen weiten Weg zu machen gedenken, so erlaube ich mir zu melden, daß ich dem hiesigen Völkchen nicht traue, namentlich in den stillen Gäßchen und insbesondere jenseits des Flusses«, konnte er sich abermals einer Bemerkung nicht enthalten. Er war ein alter Diener, der ehemals den kleinen Nikolaj Wsewolodowitsch beaufsichtigt und ihn oft auf den Armen getragen hatte, ein ernster und in seinen Grundsätzen strenger Mann, der sehr gern religiösen Gesprächen zuhörte und fromme Bücher las.

»Sei unbesorgt, Alexej Jegorowitsch.«

»Gott segne Sie, gnädiger Herr, aber nur bei Ausführung guter Vorhaben.«

»Wie?« fragte Nikolaj Wsewolodowitsch und blieb stehen, nachdem er schon einen Schritt in die Gasse hinein getan hatte.

Alexej Jegorowitsch wiederholte in festem Tone seinen Wunsch; nie zuvor hätte er es gewagt, ihn in dieser Form und dazu noch in Gegenwart seines Herrn laut auszusprechen.

Nikolaj Wsewolodowitsch schloß das Pförtchen ab, steckte den Schlüssel in die Tasche und ging die Gasse hinunter, wobei er bei jedem Schritt bis an die Knöchel in den Schmutz trat. Endlich erreichte er eine lange, menschenleere, aber gepflasterte Straße. Er kannte die Stadt wie seine fünf Finger; aber die Bogojawlenskaja war noch ziemlich weit. Es war schon zehn Uhr durch, als er endlich vor den geschlossenen Toren des dunklen, alten Filippowschen Hauses stehenblieb. Das untere Stockwerk stand jetzt, nachdem die Lebiadkins ausgezogen waren, ganz leer, und die Fenster waren mit Brettern vernagelt; aber in der Wohnung Schatows erblickte Nikolaj Wsewolodowitsch Licht. Da an dem Tor keine Klingel angebracht war, begann er daran mit der Faust zu klopfen. Nun wurde ein Fenster geöffnet und Schatow blickte auf die Straße hinaus; es war furchtbar dunkel und fast ganz unmöglich, jemanden zu erkennen; lange, wohl eine Minute lang, blickte Schatow hinaus.

»Sind Sie es?« fragte er plötzlich.

»Ja wohl, ich bin es«, antwortete der ungebetene Gast.

Schatow schlug das Fenster zu, kam herunter und schloß das Tor auf. Nikolaj Wsewolodowitsch trat über die hohe Schwelle und ging, ohne ein Wort zu sagen, an Schatow vorbei, geradeswegs nach dem Seitengebäude hin, zu Kirillow.

5

Hier stand alles weit offen, die Türen waren nicht einmal angelehnt. Der Flur und die beiden ersten Zimmer lagen im Dunkel, aber im letzten Raum, in dem Kirillow wohnte und seinen Tee trank, war Licht. Nikolaj Wsewolodowitsch vernahm ein Gelächter und ein sonderbares Kreischen. Er ging auf das Licht zu, blieb aber, ohne einzutreten, auf der Schwelle stehen. Auf dem Tisch stand Tee. Mitten im Zimmer erblickte er die alte Frau, die Verwandte des Hauswirts, mit bloßem Kopf, nur im Unterrock, in Schuhen, aber ohne Strümpfe und in einer Hasenfellweste. In den Armen hielt sie ein etwa anderthalbjähriges Kind im bloßen Hemdchen, mit nackten Beinchen, mit ganz heißen Bäckchen und flachsblonden wirren Härchen, das anscheinend soeben erst aus der Wiege genommen war. Das Kind hatte offenbar vor kurzem geweint, denn es standen ihm noch Tränchen in den Augen; in diesem Augenblick aber streckte es die Ärmchen aus, klatschte mit den Händchen und lachte, wie eben kleine Kinder lachen, so daß es beinah wie Schluchzen klang. Vor ihm spielte Kirillow mit einem großen roten Gummiball, den er gegen den Boden warf; der Ball sprang bis zur Decke hinauf, fiel wieder herunter, und das Kind schrie: »Baa, Baa!« Kirillow fing den »Baa« auf und reichte ihn dem Kinde, das ihn dann selbst mit seinen ungeschickten Händchen warf, und Kirillow lief hin, um ihn wieder aufzuheben. Schließlich rollte der »Baa« unter einen Schrank. »Baa, Baa!« schrie das Kind. Kirillow legte sich auf den Fußboden, streckte sich lang aus und versuchte, den »Baa« mit dem Arme unter dem Schrank hervorzuholen. Nikolaj Wsewolodowitsch trat ins Zimmer; als das Kind ihn erblickte, drückte es sich an die Alte und brach in ein langgezogenes Kinderweinen aus; die Frau ging sofort mit ihm hinaus.

»Stawrogin?« fragte Kirillow, indem er sich mit dem Ball in der Hand wieder erhob. Er schien sich über den unerwarteten Besuch keineswegs zu wundern. »Wollen Sie Tee?«

Er richtete sich vollständig auf.

»Sehr gern sogar, wenn er warm ist«, erwiderte Nikolaj Wsewolodowitsch. »Ich bin ganz durchnäßt.«

»Warm ist er schon, sogar heiß«, versicherte Kirillow vergnügt. »Setzen Sie sich. Das macht nichts, daß Sie schmutzig sind. Ich werde den Fußboden nachher mit einem nassen Lappen aufwischen.«

Nikolaj Wsewolodowitsch setzte sich und trank die ihm eingegossene Tasse beinah mit einem Zuge aus.

»Wollen Sie noch mehr?« fragte Kirillow.

»Ich danke.«

Kirillow, der bis dahin gestanden hatte, setzte sich nun sofort dem Gast gegenüber und fragte:

»Weshalb kommen Sie?«

»Ich habe ein Anliegen. Hier, lesen Sie diesen Brief von Gaganow; Sie erinnern sich doch wohl noch seiner; ich habe Ihnen von ihm schon in Petersburg erzählt.«

Kirillow nahm den Brief, las ihn durch, legte ihn auf den Tisch und sah den Gast erwartungsvoll an.

»Diesem Gaganow«, begann Nikolaj Wsewolodowitsch seine Erklärung, »bin ich, wie Sie schon wissen, vor einem Monat etwa in Petersburg zum erstenmal in meinem Leben begegnet. Wir haben uns an die dreimal in Gesellschaft getroffen. Ohne sich mir vorstellen zu lassen und ohne mit mir je ein Gespräch begonnen zu haben, fand er doch die Möglichkeit, sich mir gegenüber einige Dreistigkeiten zu erlauben. Ich habe Ihnen das bereits damals erzählt; aber hier ist etwas, was Sie noch nicht wissen: als er damals früher als ich aus Petersburg abreiste, sandte er mir plötzlich einen Brief, der, wenn er auch nicht im selben Maße auffallend war, wie dieser hier, dennoch höchst unanständig wirkte und um so sonderbarer erschien, als sich darin überhaupt keine Erklärung der Gründe seiner Abfassung und Zusendung finden ließen. Ich antwortete ihm sofort, ebenfalls schriftlich, äußerte ganz offenherzig die Vermutung, daß er mir wahrscheinlich wegen jenes Vorfalls grolle, den ich hier mit seinem Vater vor vier Jahren im Klub gehabt habe und teilte ihm gleichzeitig mit, daß ich meinerseits bereit sei, ihn in jeder Form um Entschuldigung zu bitten, da doch meine Handlung damals unbeabsichtigt gewesen und in krankhaftem Zustande begangen worden sei. Ich bat ihn, meine Entschuldigung nicht unbeachtet zu lassen. Er antwortete mir nicht und reiste ab; und jetzt finde ich ihn bereits in einer wahren Raserei. Es sind mir mehrere seiner Äußerungen hinterbracht worden, die er in aller Öffentlichkeit über mich getan hat und die grobe Beschimpfungen und ganz sonderbare Beschuldigungen enthalten. Endlich kommt heute dieser Brief; so einen hat sicherlich noch nie jemand erhalten. Auch dieser ist voller Schimpfwörter und enthält Ausdrücke wie: ›Ihre geohrfeigte Visage‹. Ich kam hierher in der Hoffnung, daß Sie sich nicht weigern werden, mein Sekundant zu sein.«

»Sie sagten, niemand hätte je einen solchen Brief bekommen«, bemerkte Kirillow. »In großer Wut ist alles möglich; da schreibt man oft so. Puschkin hat ähnlich an Heckereen geschrieben. Gut, ich werde Ihr Sekundant sein. Sagen Sie mir Ihre Bedingungen.«

Nikolaj Wsewolodowitsch erklärte, daß er die Sache schon am nächsten Tage erledigt haben möchte; allerdings müßte man wieder von neuem mit den Entschuldigungen beginnen und sogar einen neuen Entschuldigungsbrief in Aussicht stellen, wobei sich jedoch auch Gaganow verpflichten müsse, keine Briefe mehr zu schreiben. Das bereits empfangene Schreiben soll überhaupt als nicht empfangen betrachtet werden.

»Das ist zuviel Nachgiebigkeit; er wird nicht einverstanden sein«, meinte Kirillow.

»Ich bin vor allen Dingen hergekommen, um zu erfahren, ob Sie bereit sind, ihm diese Bedingungen zu übermitteln.«

»Das tue ich schon. Ist ja Ihre Sache. Aber er wird nicht einverstanden sein.«

»Das weiß ich selbst.«

»Er will sich schlagen. Sagen Sie mir, wie Sie sich das Duell denken?«

»Mir liegt es hauptsächlich daran, daß die ganze Sache morgen schon erledigt wird. Gegen neun Uhr morgens werden Sie bei ihm sein. Er wird Sie anhören und auf unsere Bedingungen nicht eingehen. Statt dessen wird er Sie aber mit seinem Sekundanten zusammenbringen, – so etwa gegen elf Uhr. Mit diesen besprechen Sie dann alles Nähere, und dann können wir alle um ein oder zwei Uhr an Ort und Stelle sein. Ich bitte Sie, darauf zu dringen und es so einzurichten. Als Waffen kommen natürlich nur Pistolen in Frage, und ich bitte Sie sehr, das Duell folgendermaßen zu arrangieren: die Barrieren wollen Sie bitte zehn Schritte voneinander festsetzen; dann stellen Sie uns jeden zehn Schritt von seiner Barriere auf, und auf ein gegebenes Zeichen müssen wir gegeneinander losgehen. Jeder hat unbedingt bis an seine Barriere heranzukommen, doch darf er auch schon vorher im Gehen schießen. Das wäre dann meiner Ansicht nach alles.«

»Zehn Schritt zwischen den Barrieren ist zu nah«, bemerkte Kirillow.

»Nun, dann zwölf, aber nicht mehr; Sie müssen doch berücksichtigen, daß er sich ernstlich schlagen will. Können Sie eine Pistole laden?«

»Ja. Ich besitze Pistolen; ich werde mein Wort geben, daß Sie aus ihnen noch nie geschossen haben. Sein Sekundant muß gleichfalls ein Ehrenwort in bezug auf seine Pistolen abgeben; wir haben dann zwei Paar und werden auslosen, ob meine oder seine benutzt werden sollen.«

»Vorzüglich.«

»Wollen Sie sich die Pistolen ansehen?«

»Meinetwegen.«

Kirillow kauerte sich in der Ecke vor seinem Koffer nieder; dieser war immer noch nicht ausgepackt, aber es wurden aus ihm nach Bedürfnis die Sachen hervorgeholt. Er zog einen unten auf dem Boden des Koffers stehenden Kasten aus Palmenholz heraus, dessen Innenwände mit rotem Samt ausgeschlagen waren, und entnahm ihm ein Paar reich verzierter, sehr kostbarer Pistolen.

»Ich habe alles: Pulver, Kugeln, Patronen. Ich habe auch noch einen Revolver. Warten Sie.«

Er kramte wieder in seinem Koffer und holte dann ein anderes Kästchen heraus, in dem ein sechsläufiger amerikanischer Revolver lag.

»Sie haben ja eine ganze Menge Waffen und lauter kostbare Stücke.«

»Ja, sehr kostbar. Außerordentlich.«

Der arme, fast bettelarme Kirillow, der übrigens niemals seine Armut zu bemerken schien, zeigte jetzt offenbar beinah prahlend seine kostbaren Waffen, die er sicherlich nur unter den größten Opfern angeschafft haben konnte.

»Tragen Sie sich immer noch mit demselben Gedanken?« fragte Stawrogin etwas vorsichtig nach einem kurzen Schweigen.

»Ja«, antwortete Kirillow kurz, da er sogleich am Tone erraten hatte, worauf sich die Frage bezog. Dann begann er die Waffen wieder vom Tisch wegzuräumen.

»Wann denn?« fragte Nikolaj Wsewolodowitsch noch vorsichtiger, wieder nach einer Pause.

Kirillow hatte inzwischen beide Kästchen wieder im Koffer untergebracht und setzte sich nun auf seinen früheren Platz.

»Das hängt, wie Sie wissen, nicht von mir ab; sobald man mir eben sagen wird«, murmelte er. Allem Anschein nach schien ihm dieses Thema ungelegen zu sein, obwohl er gleichzeitig durchaus bereit war, auf alle anderen Fragen zu antworten. Ununterbrochen blickte er auf Stawrogin mit seinen schwarzen, glanzlosen Augen, und es leuchtete aus ihnen ein ruhiges, aber gutherziges und freundliches Gefühl.

»Ich begreife natürlich, daß man sich erschießen kann«, begann Nikolaj Wsewolodowitsch mit etwas finsterem Gesichtsausdruck wieder, nachdem er wohl an die drei Minuten lang nachdenklich geschwiegen hatte. »Ich habe es mir mitunter selbst vorgestellt und hatte dabei immer einen neuen Gedanken: wenn man eine böse Tat beginge, oder sich mit Schmach und Schande bedecken würde, das heißt mit so einer niederträchtigen und ... lächerlichen Schande, daß die Leute tausend Jahre lang daran denken und tausend Jahre deswegen ausspucken würden, dann käme auf einmal der Gedanke: ›ein einziger Schuß in die Schläfe, und es wird nichts dergleichen vorkommen, und alles ist vorbei.‹ Was gingen einen dann die Menschen an, und daß sie tausend Jahre lang ausspucken werden, nicht wahr?«

»Sie nennen das einen neuen Gedanken?« fragte Kirillow nach einem kurzen Nachdenken.

»Ich ... nenne es nicht so ... Als ich einmal darüber nachdachte, da fühlte ich in mir einen ganz neuen Gedanken.«

»Sie sagen, Sie hätten diesen Gedanken ›gefühlt‹?« fragte Kirillow. »Das ist gut. Es gibt viele Gedanken, die immer da sind und dann plötzlich neu vorkommen. Das stimmt. Vieles erscheint auch mir so, als ob ich es zum erstenmal sähe.«

»Nehmen wir an, Sie hätten vorher auf dem Mond gelebt,« unterbrach ihn Stawrogin, ohne auf seine Worte zu hören und seinen eigenen Gedanken weiter spinnend, »und nehmen wir an, daß Sie dort allerlei lächerliche Schandtaten begangen haben ... Sie wissen genau von hier aus, daß man dort tausend Jahre lang über Sie lachen und bei der Erwähnung Ihres Namens ausspucken wird, und zwar auf dem ganzen Mond. Aber jetzt sind Sie hier und betrachten den Mond von hier aus: was kümmert Sie denn hier alles, was Sie dort angerichtet haben, und was schert Sie die Tatsache, daß die dortigen Bewohner tausend Jahre lang bei der Erwähnung Ihres Namens ausspucken werden, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht,« erwiderte Kirillow, »ich bin noch nie auf dem Mond gewesen«, fügte er hinzu, aber ohne jede Ironie, lediglich zur Feststellung der Tatsache.

»Wem gehört denn das Kind, das vorhin hier war?«

»Die Schwiegermutter der Alten ist angekommen ... nein, das heißt die Schwiegertochter ... ist ja einerlei. Seit drei Tagen. Sie liegt krank mit dem Kind; nachts schreit es sehr; der Magen. Die Mutter schläft; die alte Frau aber bringt es her; ich tröste es mit dem Ball. Der Ball ist aus Hamburg. Ich habe ihn in Hamburg gekauft, um damit zu spielen; das stärkt die Rückenmuskeln. Das Kind ist ein kleines Mädchen.«

»Haben Sie Kinder gern?«

»Ja«, erwiderte Kirillow, jedoch ziemlich gleichgültig.

»Also lieben Sie auch das Leben?«

»Ja, ich liebe auch das Leben. Warum?«

»Na, wenn Sie doch beabsichtigen, sich zu erschießen.«

»Was ist denn dabei? Warum bringen Sie das zusammen? Das Leben ist eine Sache für sich und das andere ebenfalls. Ein Leben gibt es, einen Tod aber gibt es überhaupt nicht.«

»Sie glauben jetzt wohl an ein künftiges, ewiges Leben?«

»Nein, nicht an ein künftiges, ewiges Leben, sondern an ein ewiges Leben hier. Es gibt solche Augenblicke. Sobald man zu diesen gelangt, bleibt die Zeit stehen und wird zur Ewigkeit.«

»Und Sie hoffen einen solchen Augenblick zu erreichen?«

»Ja.«

»Das ist in unserer Zeit wohl kaum möglich«, erwiderte Nikolaj Wsewolodowitsch langsam, wie nachdenklich und ebenfalls ohne alle Ironie. »In der Offenbarung Sankt Johannis schwört der Engel, daß es keine Zeit mehr geben werde.«

»Ich weiß. Dort steht es ganz richtig, klar und genau. Wenn alle Menschen das Glück erreicht haben werden, wird es keine Zeit mehr geben, weil sie nicht mehr nötig sein wird. Ein sehr richtiger Gedanke.«

»Wohin wird man sie denn verstecken?«

»Gar nicht verstecken. Die Zeit ist kein Gegenstand, sondern eine Idee. Sie wird im Geist erlöschen.«

»Alte philosophische Gemeinplätze, immer dieselben seit dem Anfang der Zeiten«, murmelte Stawrogin mit einer Art von geringschätzigem Bedauern.

»Immer dieselben! Immer dieselben seit dem Anfang der Zeiten und nie und niemals andere!« fiel ihm Kirillow mit leuchtendem Blick ins Wort, wie wenn in diesem Gedanken für ihn etwas wie ein Sieg läge.

»Sie scheinen sehr glücklich zu sein, Kirillow, wie?«

»Ja, ich bin sehr glücklich«, erwiderte dieser, wie wenn er die allergewöhnlichste Antwort gäbe.

»Aber Sie haben sich doch erst neulich noch so geärgert; über Liputin?«

»Hm ... Jetzt schimpfe ich nicht. Damals wußte ich noch nicht, daß ich glücklich bin. Haben Sie jemals ein Blatt, ein Baumblatt beobachtet?«

»Ja.«

»Ich sah neulich ein gelbes Blatt, das nur noch wenig von der ursprünglichen grünen Farbe hatte; an den Rändern war es bereits vermodert. Der Wind trug es mit sich. Als ich zehn Jahre alt war, schloß ich im Winter mitunter absichtlich die Augen und stellte mir ein grünes, grelles Blatt vor, mit feinen Adern und den darauf glänzenden Sonnenstrahlen. Dann bückte ich wieder auf und traute der Wirklichkeit nicht, weil die Vision so schön war ... Und ich schloß die Augen wieder.«

»Was ist das, eine Allegorie?«

»N–ein ... Warum denn? Durchaus keine Allegorie. Ich meine einfach ein Blatt, nur ein Blatt. Das Blatt ist gut. Alles ist gut.«

»Alles?«

»Alles. Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiß, daß er glücklich ist; nur deshalb. Das ist es und nichts anderes! Wer das erkennt, wird sogleich glücklich, sofort, im selben Augenblick. Diese Schwiegermutter wird sterben, das kleine Mädchen aber wird am Leben bleiben. – Alles ist gut. Ich habe das ganz plötzlich entdeckt.«

»Und wenn jemand vor Hunger stirbt, oder wenn jemand dieses Mädchen kränkt und entehrt – ist das auch gut?«

»Jawohl. Und wenn sich jemand eines kleinen Kindes wegen den Kopf zerschmettert, so ist auch das gut; und wenn er es nicht tut, so ist es auch gut. Es ist alles gut, alles. Alles erscheint denen gut, die da wissen, daß alles gut ist. Würden die Menschen wissen, daß es ihnen gut geht, dann würde es ihnen in der Tat gut gehen; solange sie es aber nicht wissen, geht es ihnen eben schlecht. Das ist der ganze Gedanke, ja alles! Einen anderen gibt es gar nicht!«

»Wann haben Sie denn erkannt, daß Sie so glücklich sind?«

»Am vorigen Dienstag, nein, am Mittwoch, denn es war schon Mittwoch, in der Nacht.«

»Und bei welchem Anlaß?«

»Das weiß ich nicht mehr. Es kam von selbst. Ich ging im Zimmer auf und ab ... es ist ja einerlei. Ich habe die Uhr angehalten; es war zwei Uhr und siebenunddreißig Minuten.«

»Das taten Sie wohl, um symbolisch anzudeuten, daß die Zeit stehenbleiben muß?«

Kirillow gab darauf keine Antwort.

»Die Menschen sind schlecht,« begann er dann plötzlich von neuem, »weil sie nicht wissen, daß sie gut sind. Sobald sie das erkennen, werden sie kein Mädchen mehr vergewaltigen. Sie müssen nur erkennen, daß sie gut sind, und sogleich werden sie alle gut werden, alle, bis auf den letzten Mann.«

»Sie haben es doch erkannt, also sind Sie gut?«

»Ja, ich bin gut.«

»Darin muß ich Ihnen übrigens recht geben«, murmelte Stawrogin mit finsterem Gesichtsausdruck.

»Wer den Menschen begreiflich machen wird, daß sie alle gut sind, der wird die Welt zur Vollendung bringen.«

»Den, der das gelehrt hat, hat man gekreuzigt.«

»Er wird wiederkommen, und sein Name wird Menschgott sein.«

»Gottmensch?«

»Nein, Menschgott. Darin liegt ein Unterschied.«

»Zünden Sie vielleicht jetzt auch das Lämpchen vor dem Heiligenbilde an?«

»Ja, ich habe es angezündet.«

»Sie sind wohl gläubig geworden?«

»Die Alte hat es gerne, wenn das Lämpchen brennt ... und heute hatte sie keine Zeit«, murmelte Kirillow.

»Und Sie selbst? Beten Sie noch nicht?«

»Ich bete alles an. Sehen Sie, da kriecht eine Spinne an der Wand; ich sehe sie an und bin ihr dankbar dafür, daß sie kriecht.«

Seine Augen funkelten wieder. Immer noch sah er seinem Gast mit einem festen und unverwandten Blick gerade ins Gesicht. Stawrogin hörte ihm zu mit einer finsteren und geringschätzigen Miene, aber ohne jeden Spott.

»Ich möchte wetten, daß Sie, wenn ich wieder herkomme, schon an Gott glauben werden«, sagte er, indem er sich erhob und nach seinem Hut griff.

»Warum?« fragte Kirillow, der ebenfalls aufstand.

»Wenn Sie erkannt hätten, daß Sie an Gott glauben, dann würden Sie auch tatsächlich glauben; da Sie es aber noch nicht wissen, so tun Sie es eben noch nicht«, erwiderte Nikolaj Wsewolodowitsch mit einem Lächeln.

»Das ist ganz was anderes«, meinte Kirillow nach kurzem Nachdenken. »Sie haben meinen Gedanken verdreht. Ein salonmäßiger Scherz. Bedenken Sie, was Sie in meinem Leben bedeutet haben, Stawrogin.«

»Leben Sie wohl, Kirillow.«

»Kommen Sie nachts. Wann?«

»Sie haben doch nicht etwa vergessen, was wir für morgen vorhaben?«

»Ach, ja, ich habe es wirklich beinah vergessen; seien Sie unbesorgt; ich werde die Zeit nicht verschlafen; Punkt neun Uhr. Ich kann erwachen, wann ich will. Ich lege mich hin und sage mir: ›Um sieben Uhr!‹ und wache genau um sieben auf, oder: ›Um zehn Uhr!‹ und dann bin ich um zehn Uhr wach.«

»Sie besitzen ganz merkwürdige Eigenschaften«, meinte Nikolaj Wsewolodowitsch mit einem Bück auf Kirillows blasses Gesicht.

»Ich werde Ihnen das Tor aufschließen.«

»Bemühen Sie sich nicht, das wird schon Schatow tun.«

»Ah, Schatow! Gut, leben Sie wohl!«

6

Der Aufgang zum leeren Haus, in dem nur noch Schatow wohnte, stand offen; als aber Stawrogin in den Flur trat, befand er sich in vollständiger Dunkelheit und begann mit der Hand nach der Treppe zu suchen. Plötzlich wurde oben eine Tür aufgemacht, und ein Lichtstrahl drang in den Flur; Schatow selbst kam nicht heraus und hatte lediglich die Tür geöffnet. Als Nikolaj Wsewolodowitsch an der Schwelle seines Zimmers stehen blieb, erblickte er Schatow, der in der Ecke am Tisch stand und auf ihn wartete.

»Wollen Sie mich empfangen, um eine ernste Angelegenheit zu besprechen?« fragte Stawrogin von der Schwelle aus.

»Treten Sie ein und setzen Sie sich,« erwiderte Schatow, »machen Sie die Tür zu; warten Sie, ich werde es selbst tun.«

Er schloß die Tür ab, kehrte zum Tisch zurück und setzte sich Nikolaj Wsewolodowitsch gegenüber. In dieser Woche war er sehr abgemagert und schien jetzt im Fieber zu sein.

»Sie haben mich unendlich gemartert«, flüsterte er leise, mit gesenktem Blick. »Weshalb kamen Sie nicht früher?«

»Waren Sie so fest davon überzeugt, daß ich zu Ihnen kommen würde?«

»Ja, warten Sie, ich habe davon im Fieber phantasiert ... vielleicht tue ich es auch jetzt noch ... warten Sie.«

Er erhob sich und nahm vom Rande des obersten seiner drei Bücherbretter irgendeinen Gegenstand herunter. Es war ein Revolver.

»Einmal in der Nacht habe ich mir eingebildet, daß Sie kommen würden, um mich zu töten, und am nächsten Morgen kaufte ich mir bei dem Taugenichts Liamschin für mein letztes Geld einen Revolver; ich wollte mich Ihnen nicht ganz wehrlos ergeben. Dann kam ich wieder zur Besinnung ... Ich habe weder Pulver noch Kugeln; seitdem liegt er so auf dem Bücherbrett. Warten Sie ...«

Er stand wieder auf, ging zum Fenster und öffnete die Luftklappe.

»Werfen Sie ihn doch nicht hinaus; wozu?« hielt ihn Nikolaj Wsewolodowitsch zurück. »Er hat doch Geld gekostet. Und außerdem werden morgen die Leute sagen, daß bei Schatow unter dem Fenster Revolver herumliegen. Legen Sie ihn wieder hin. So ist es recht. Setzen Sie sich. Sagen Sie, wie kommt es, daß Sie mir jetzt gleichsam beichten? Sie hätten befürchtet, ich könnte hierherkommen, um Sie zu töten? Ich bin auch jetzt nicht hier, um mich mit Ihnen zu versöhnen; ich habe Ihnen vielmehr eine durchaus notwendige Mitteilung zu machen. Vor allen Dingen müssen Sie mir sagen, ob Sie mich nicht wegen meiner Beziehungen zu Ihrer Frau geschlagen haben.«

»Sie wissen selbst, daß ich es nicht deshalb getan habe«, erwiderte Schatow und sah dabei wieder zu Boden.

»Auch doch nicht etwa, weil Sie der dummen Klatschgeschichte über Darja Pawlowna glauben?«

»Nein, nein, natürlich nicht! Unsinn! Meine Schwester hat mir von Anfang an gesagt ...« unterbrach ihn Schatow ungeduldig in scharfem Ton, wobei er sogar ein wenig mit dem Fuß aufstampfte.

»Also habe ich den Grund richtig erraten. Und auch Sie haben richtig geraten«, fuhr Stawrogin ruhig fort. »Sie haben vollkommen recht: Maria Timofejewna Lebiadkina ist meine rechtmäßige Ehefrau, mit der ich mich vor etwa viereinhalb Jahren in Petersburg trauen ließ. Sie haben mich doch ihretwegen geschlagen?«

Schatow schien von dieser überraschenden Mitteilung vollkommen überwältigt zu sein, hörte zu und schwieg.

»Ich habe es erraten und konnte es doch nicht recht glauben«, murmelte er endlich und sah Stawrogin mit einem seltsamen Blick an.

»Und Sie haben mich dennoch geschlagen?«

Schatow wurde feuerrot im Gesicht und begann fast zusammenhangslos zu murmeln:

»Ich tat es, weil Sie so tief gefallen sind ... wegen Ihrer Lüge. Als ich an Sie herantrat, dachte ich noch gar nicht daran, Sie zu bestrafen; ich wußte noch nicht, daß ich Sie schlagen würde ... Ich tat es, weil Sie soviel in meinem Leben bedeutet haben ... Ich ...«

»Ich verstehe, ich verstehe schon; sparen Sie Ihre Worte! Ich bedaure sehr, daß Sie im Fieber sind; ich muß eine außerordentlich wichtige und notwendige Sache mit Ihnen besprechen.«

»Ich habe gar zu lange auf Sie gewartet«, erwiderte Schatow, am ganzen Leibe zitternd, und erhob sich ein wenig von seinem Platz. »Sagen Sie mir, was Sie mir mitzuteilen haben; ich werde auch reden ... nachher ...«

Und er setzte sich wieder.

»Diese Sache spielt auf einem anderen Gebiet«, begann Nikolaj Wsewolodowitsch, wobei er Schatow interessiert musterte. »Gewissen Umständen zufolge sah ich mich gezwungen, heute noch, sogar zu so einer Stunde, zu Ihnen zu kommen und Sie zu warnen. Es ist möglich, daß man Sie töten wird.«

Schatow sah ihn ganz verstört an.

»Ich weiß, daß mir möglicherweise eine Gefahr droht«, sagte er gemessen, »aber wie kommen Sie, gerade Sie dazu, das zu wissen?«

»Weil auch ich zu ihnen gehöre, genau so wie Sie, und weil ich ebenfalls, wie Sie, ein Mitglied ihres Bundes bin.«

»Sie ... Sie sind ein Mitglied des Bundes?«

»Ich sehe es Ihren Augen an, daß Sie von mir eher alles andere erwartet hätten als gerade dies«, erwiderte Nikolaj Wsewolodowitsch mit kaum merkbarem Lächeln, »aber gestatten Sie: Sie wußten also bereits, daß man ein Attentat auf Sie plant?«

»Ich dachte gar nicht daran. Und auch jetzt glaube ich es noch nicht, trotz Ihrer Worte, obwohl ... obwohl man eigentlich bei diesen Dummköpfen für nichts bürgen kann!« rief er plötzlich wütend und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich habe keine Angst vor diesen Leuten! Ich habe mit ihnen gebrochen. Dieser Kerl ist viermal zu mir gelaufen gekommen und sagte mir, ich könnte ... aber,« rief er von neuem und sah dabei Stawrogin gerade ins Gesicht, »was wissen Sie denn eigentlich darüber?«

»Seien Sie unbesorgt, ich täusche Sie nicht«, fuhr Stawrogin ziemlich kühl fort, mit der Miene eines Menschen, der lediglich seine Pflicht erfüllt. »Sie examinieren mich und wollen wissen, was mir bekannt ist? Es ist mir bekannt, daß Sie vor etwa zwei Jahren im Ausland diesem Bund beigetreten sind, und zwar noch zur Zeit seiner alten Organisation, kurz vor Ihrer Reise nach Amerika und wahrscheinlich gleich nach unserem letzten Gespräch, über das Sie mir soviel in Ihrem Brief aus Amerika geschrieben haben. Beiläufig bitte ich Sie, zu entschuldigen, daß ich Ihnen nicht ebenfalls mit einem Brief geantwortet, sondern mich darauf beschränkt habe ...«

»Geld zu schicken; warten Sie«, unterbrach ihn Schatow, zog hastig den Tischkasten auf und holte von da eine unter vielen Papieren liegende regenbogenfarbene Banknote hervor. »Hier, nehmen Sie die hundert Rubel zurück, die Sie mir damals geschickt haben; ohne Ihre Hilfe wäre ich wohl verloren gegangen. Ich wäre wohl noch längst nicht in der Lage Ihnen das Geld zurückzugeben, wenn mir nicht Ihre Frau Mutter geholfen hätte: diese hundert Rubel schenkte sie mir meiner Armut wegen vor etwa neun Monaten, nach meiner Krankheit. Aber fahren Sie jetzt bitte fort ...«

Er rang nach Atem.

»In Amerika haben Sie Ihre Ansichten geändert und wollten, nachdem Sie in die Schweiz zurückgekehrt waren, wieder aus dem Bund austreten. Man hat Ihnen keine bestimmte Antwort darauf gegeben, und es ist Ihnen nur befohlen worden, hier in Rußland von irgend jemand irgendeine Druckerei zu übernehmen und sie solange aufzubewahren, bis sich eine Person zur Übernahme melden würde, die im Auftrage des Bundes bei Ihnen erscheinen wird. Alle Einzelheiten sind mir nicht ganz genau bekannt, aber die Hauptsache verhält sich wohl so, nicht wahr? Sie aber haben das übernommen, und zwar in der Hoffnung oder sogar unter der Bedingung, daß dies die letzte Forderung sei, die der Bund an Sie stellte, und daß man Sie nachher aller Ihrer diesbezüglichen Pflichten entbinden würde. Das alles, mag es nun so sein, wie ich es erzähle oder auch etwas anders, habe ich nicht von den Geheimbündlern selbst erfahren, sondern ganz zufällig gehört. Aber was Sie bis jetzt offenbar noch nicht zu wissen scheinen, ist die Tatsache, daß diese Herren ganz und gar nicht beabsichtigen, sich von Ihnen zu trennen.«

»Das ist ja ein Unsinn!« schrie, ja heulte Schatow beinah auf. »Ich erklärte ihnen ehrlich, daß meine Wege sich von den ihrigen ganz und gar trennen! Daß ich mit ihnen breche. Das ist mein Recht, das Recht meines Gewissens und meines Verstandes ... Ich werde es mir nicht gefallen lassen! Es gibt keine Macht, die stark genug wäre ...«

»Wissen Sie was, schreien Sie nicht so«, unterbrach ihn Nikolaj Wsewolodowitsch sehr ernst. »Dieser Werchowenskij ist imstande, uns auch jetzt selbst oder durch fremde Ohren zu belauschen, sogar womöglich noch auf Ihrem eigenen Flur. Sogar der Trunkenbold Lebiadkin hatte wohl beinah die Aufgabe, Sie zu beobachten, und Sie mußten ihn vielleicht ihrerseits im Auge behalten, nicht wahr? Sagen Sie mir lieber: hat sich Werchowenskij jetzt mit Ihren Einwänden einverstanden erklärt oder nicht?«

»Er gab mir recht; er sagte, ich dürfte austreten und hätte ein Recht dazu ...«

»Nun, dann betrügt er Sie. Ich weiß, daß selbst Kirillow, der fast gar nicht zum Bund gehört, Nachrichten über Sie geliefert hat; und die Leute haben eine ganze Menge Agenten, sogar solche, die gar nicht ahnen, daß sie dem Bunde Dienste leisten. Sie, Schatow, sind stets und ständig beobachtet worden. Piotr Werchowenskij kam hierher, unter anderem auch, um Ihre Angelegenheit endgültig zu erledigen und hat auch die nötigen Vollmachten erhalten, nämlich: Sie in einem geeigneten Augenblick als einen, der zu viel weiß und denunzieren könnte, um die Ecke zu bringen. Ich wiederhole Ihnen, daß dies hier bestimmt auf Wahrheit beruht. Und gestatten Sie mir noch, hinzuzufügen, daß die Leute aus irgendeinem Grunde vollkommen davon überzeugt zu sein scheinen, daß Sie ein Spion sind, und, falls Sie den Bund noch nicht bereits denunziert haben, Sie es eines schönen Tages bestimmt tun werden. Beruht diese Vermutung auf Wahrheit?«

Schatow verzog den Mund, als er diese in einem so gewöhnlichen Ton an ihn gerichtete Frage vernahm.

»Wenn ich auch in der Tat ein Spion wäre, wem sollte ich denn das, was ich weiß, hinterbringen?« fragte er zornig, ohne eine direkte Antwort zu geben. »Nein, lassen Sie mich aus dem Spiele, mag mich der Teufel holen!« rief er, indem er plötzlich wieder zu dem ersten Gedanken zurückgriff, der ihn gar zu sehr erschüttert hatte, allen Anzeichen nach unvergleichlich mehr, als die Nachricht über die ihm selbst drohende Gefahr. »Sie, Sie, Stawrogin, wie konnten Sie sich nur auf so eine schamlose, talentlose, lakaienhafte Abgeschmacktheit einlassen! Sie sind Mitglied dieses Bundes! Ist das eine Tat, die eines Nikolaj Stawrogin würdig ist!« rief er beinah in Verzweiflung.

Er schlug sogar die Hände zusammen, wie wenn es für ihn nichts Bittereres und Trostloseres geben könnte als diese Entdeckung.

»Verzeihen Sie,« erwiderte Nikolaj Wsewolodowitsch, der sich in der Tat wunderte, »Sie scheinen mich da als eine Art Sonne zu betrachten und kommen sich selbst im Vergleich mit mir als ein kleines Käferchen vor. Ich habe das schon aus dem Briefe gemerkt, den Sie mir aus Amerika geschrieben haben.«

»Sie ... Sie wissen nicht ... Ach, lassen wir doch meine Person lieber ganz, ganz beiseite!« rief Schatow und brach plötzlich ab. »Wenn Sie mir etwas über sich selbst erklären können, so tun Sie es ... Antworten Sie mir auf meine Frage!« fügte er dann in starker Erregung hinzu.

»Mit Vergnügen. Sie wollen wissen, wie ich in eine solche Gesellschaft hineingeraten konnte? Nun, nach meiner Mitteilung von vorhin bin ich Ihnen sogar zu einer gewissen Offenherzigkeit in dieser Hinsicht verpflichtet. Sehen Sie, streng genommen gehöre ich diesem Bunde eigentlich gar nicht an und habe ihm auch früher nie angehört. Ich habe viel mehr Rechte darauf, mich von den Leuten loszusagen, weil ich gar nicht beigetreten bin. Ich habe ihnen sogar im Gegenteil gleich vom Anfang an erklärt, daß sie in mir keinen Genossen zu sehen haben, und wenn ich ihnen mitunter gelegentlich auch geholfen habe, so tat ich das nur aus müßiger Langeweile. Ich habe bis zu einem gewissen Grade an der Reorganisation des Bundes nach den Richtlinien des neuen Planes teilgenommen, und das ist alles. Aber sie haben sich jetzt eines besseren besonnen und bei sich entschieden, daß auch meine Entlassung gefährlich sei, so daß auch ich allem Anschein nach nunmehr verurteilt bin.«

»Oh, bei denen ist gleich die Todesstrafe verwirkt, und alles stützt sich auf Vorschriften, alles verkünden sie auf großen, besiegelten Bogen, die dreiundeinhalb Menschen unterschreiben. Glauben Sie denn wirklich, daß sie imstande sind, etwas zu vollbringen?«

»Darin haben Sie zum Teil recht und zum Teil auch nicht«, fuhr Stawrogin fort, genau so gleichgültig wie vorhin und sogar etwas matt. »Zweifelsohne wird auch da wie in allen ähnlichen Fällen viel phantasiert; der kleine Haufen übertreibt seine eigene Größe und Bedeutung. Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, so besteht der Bund überhaupt nur aus dem einen Piotr Werchowenskij, und es ist gar zu bescheiden von ihm, wenn er sich nur als Agent des Bundes hinstellt. Im übrigen ist die Grundidee bei der Sache nicht dümmer als andere Ideen dieser Art. Die Leute haben Beziehungen zu der Internationale; sie haben es verstanden, über Rußland ein Netz von Agenten zu verbreiten und sind dabei sogar auf recht originelle Methoden gekommen ... aber natürlich nur rein theoretisch. Was aber ihre hiesigen Absichten anbelangt, so ist doch die Bewegung unserer russischen Organisation eine ziemlich dunkle Sache, etwas stets dermaßen Unerwartetes, daß man bei uns in der Tat alles versuchen kann. Vergessen Sie nicht, daß Werchowenskij ein hartnäckiger Mensch ist.«

»Er ist eine Wanze, ein Analphabet, ein Dummkopf, der nichts von Rußland versteht!« rief Schatow zornig.

»Sie kennen ihn zu wenig. Es stimmt wohl, daß diese Leute im allgemeinen alle wenig von Rußland verstehen, aber doch nicht so sehr viel weniger als Sie und ich. Und außerdem ist Werchowenskij ein Feuerkopf, ein Schwärmer.«

»Werchowenskij ist ein Schwärmer?«

»Oh, ja. Es gibt so einen Punkt, wo er aufhört, ein Hanswurst zu sein und sich in einen ... Besessenen verwandelt. Ich bitte Sie, sich eines Ausspruches zu erinnern, den Sie selbst einmal getan haben: ›Wissen Sie wohl, wie stark ein einzelner Mensch sein kann?‹ Bitte, lachen Sie nicht; Werchowenskij ist sehr wohl imstande, den Hahn einer Pistole abzudrücken. Im Bunde ist man auch davon überzeugt, daß ich ebenfalls ein Spion bin. Weil diese Leute unfähig sind, ihrer Sache zum Sieg zu verhelfen, beschuldigen sie furchtbar gern andere der Spionage.«

»Aber Sie haben doch keine Angst?«

»N–nein ... Ich fürchte mich nicht allzusehr ... Aber Ihre Sache Hegt doch ganz anders. Ich habe Sie gewarnt, damit Sie sich wenigstens darauf gefaßt machen können. Meiner Meinung nach braucht man sich in diesem Falle nicht gekränkt zu fühlen, weil die Gefahr, die uns droht, von Dummköpfen ausgeht; es handelt sich hierbei gar nicht um ihren Verstand. Und sie haben schon gegen ganz andere Leute, als wir beide es sind, ihre Hand erhoben. Im übrigen ist es jetzt schon viertel nach elf,« sagte er, indem er auf die Uhr blickte und sich von seinem Stuhl erhob, »ich wollte Ihnen noch eine Frage vorlegen, die mit dieser Sache nicht das geringste zu tun hat.«

»Um Gottes willen!« rief Schatow und sprang hastig auf.

»Wie meinen Sie das?« fragte Nikolaj Wsewolodowitsch und richtete auf ihn einen forschenden Blick.

»Stellen Sie Ihre Frage, stellen Sie sie, in Gottes Namen,« wiederholte Schatow in einer unbeschreiblichen Aufregung, »aber unter der Bedingung, daß auch ich Ihnen eine Frage vorlegen darf. Ich bitte Sie flehentlich, es mir zu erlauben ... ich kann nicht ... fragen Sie!«

Stawrogin wartete ein Weilchen und begann dann:

»Es ist mir zu Ohren gekommen, daß Sie hier eine Zeitlang auf Maria Timofejewna einigen Einfluß hatten, und daß sie Sie gern hatte und Ihnen gern zuhörte. Stimmt das?«

»Ja ... sie hörte mich gern sprechen ...« erwiderte Schatow verlegen.

»Ich beabsichtige, meine Ehe mit ihr in den nächsten Tagen hier in der Stadt öffentlich bekanntzugeben.«

»Ist denn das möglich?« flüsterte Schatow in hellem Entsetzen.

»Was scheint Ihnen daran unmöglich zu sein? Ich sehe gar keine Schwierigkeiten; die Trauzeugen sind hier in der Stadt. Das alles geschah damals in Petersburg auf völlig gesetzliche Art und Weise und in aller Ruhe. Wenn es bisher auch verborgen blieb, so ist das nur dem Umstand zuzuschreiben, daß die beiden einzigen Trauzeugen, Kirillow und Piotr Werchowenskij und schließlich Lebiadkin selbst, den ich jetzt die Freude habe, zu meinen Verwandten zu zählen, damals versprochen haben, darüber zu schweigen.«

»Das meine ich gar nicht ... Sie sprechen so ruhig ... Aber fahren Sie fort! Hören Sie, man hat Sie doch nicht etwa mit Gewalt zu dieser Ehe gezwungen? Wie?«

»Nein, es hat mich niemand mit Gewalt dazu gezwungen«, erwiderte Nikolaj Wsewolodowitsch und mußte über Schatows hitzige und unüberlegte Frage unwillkürlich lächeln.

»Und was redet sie denn von ihrem Kinde?« fragte Schatow hastig und zusammenhangslos weiter.

»Von ihrem Kinde? Pah! Das wußte ich noch nicht, das höre ich zum erstenmal. Maria Timofejewna hat kein Kind gehabt und konnte auch keins haben: sie ist Jungfrau.«

»Ah! Das habe ich mir gleich gedacht! Hören Sie!«

»Was ist Ihnen, Schatow?«

Schatow bedeckte sein Gesicht mit den Händen und wandte sich ab; aber plötzlich faßte er Stawrogin fest an den Schultern.

»Wissen Sie wenigstens, wissen Sie wenigstens,« schrie er, »wozu Sie das alles gemacht haben, und wozu Sie jetzt eine solche Strafe auf sich nehmen wollen?«

»Ihre Frage ist klug und stichelnd; aber nun werde ich Sie ebenfalls ein wenig überraschen: ja, ich weiß, weshalb ich damals geheiratet habe, und weshalb ich mich entschließe, eine solche Strafe auf mich zu nehmen, wie Sie sich ausdrückten.«

»Lassen wir das ... davon später; sprechen Sie nicht; jetzt möchte ich mit Ihnen von der Hauptsache reden, von der Hauptsache: ich habe zwei Jahre auf Sie gewartet.«

»So?«

»Ich habe gar zu lange auf Sie gewartet! Unaufhörlich dachte ich an Sie. Sie sind der einzige Mensch, der imstande wäre ... Ich habe Ihnen noch aus Amerika darüber geschrieben.«

»Ich erinnere mich noch sehr gut Ihres langen Briefes.«

»Er schien Ihnen lang zum Durchlesen? Ich gebe es zu; es waren sechs Briefbogen. Schweigen Sie, schweigen Sie! Sagen Sie: können Sie mir noch zehn Minuten schenken, aber jetzt, gleich jetzt ... Ich habe gar zu lange auf Sie gewartet!«

»Schön, ich will Ihnen noch eine halbe Stunde gewähren, aber nicht mehr. Wird das genügen?«

»Aber nur unter der Bedingung,« fiel ihm Schatow wütend ins Wort, »daß Sie Ihren Ton ändern. Hören Sie, ich fordere es, wenngleich ich Sie darum anflehen müßte ... Verstehen Sie wohl, was es bedeutet, wenn man fordert, während man flehentlich bitten müßte?«

»Ich verstehe, daß Sie sich auf diese Weise über alles Gewöhnliche erheben, um Ihrer höheren Ziele willen,« erwiderte Nikolaj Wsewolodowitsch mit einem kaum merklichen Lächeln, »und gleichzeitig sehe ich zu meinem Bedauern, daß Sie fiebern.«

»Ich bitte um Achtung vor mir, ich verlange Achtung«, schrie Schatow. »Nicht vor meiner Person – die mag der Teufel holen, – sondern vor etwas anderem, und zwar nur für diese Zeit, für einige Worte ... Wir sind zwei Geschöpfe und sind in der Unendlichkeit zusammengekommen ... zum letztenmal auf der Welt. Lassen Sie diesen Ton und nehmen Sie einen menschlichen an! Reden Sie wenigstens einmal in Ihrem Leben wie ein Mensch! Nicht um meinetwillen, sondern um Ihretwillen fordere ich das. Verstehen Sie wohl, daß Sie mir diesen Schlag ins Gesicht schon allein deshalb verzeihen müssen, weil ich Ihnen dadurch Gelegenheit gegeben habe, Ihre unermeßliche Kraft zu erkennen ... Sie lachen schon wieder Ihr geringschätziges, weltmännisches Lachen. Oh, wann werden Sie mich endlich verstehen! Legen Sie doch diesen junkerhaften Herrenmenschen ab! Begreifen Sie doch, daß ich das fordere! Ich verlange es; sonst will ich nicht reden, sonst werde ich um keinen Preis sprechen!«

Seine Raserei steigerte sich zu einer Art Delirium; Nikolaj Wsewolodowitsch zog die Augenbrauen finster zusammen und schien vorsichtiger zu werden.

»Wenn ich schon eine halbe Stunde länger hiergeblieben bin,« sagte er ernst und nachdrücklich, »obwohl mir meine Zeit sehr kostbar ist, so können Sie mir ruhig glauben, daß ich Ihnen wenigstens mit Interesse zuzuhören beabsichtige und ... und überzeugt bin, von Ihnen viel Neues zu erfahren.«

Er setzte sich auf einen Stuhl.

»Setzen Sie sich!« rief Schatow und setzte sich plötzlich irgendwie ganz ungeschickt selbst.

»Gestatten Sie aber, daß ich Sie daran erinnere,« bemerkte noch einmal Stawrogin, der sich plötzlich auf seinen früheren Gedanken besann, »daß ich eine Bitte an Sie hatte, die sich auf Maria Timofejewna bezog und für diese unbedingt von großer Wichtigkeit ist ...«

»Nun?« fragte Schatow finster mit der Miene eines Menschen, der an der wichtigsten Stelle plötzlich unterbrochen wurde und der, wenngleich er einen auch ansieht, doch noch nicht verstanden hat, was man von ihm eigentlich will.

»Und daß Sie mich nicht zu Ende reden ließen«, schloß Nikolaj Wsewolodowitsch lächelnd.

»Ach was, Unsinn, später!« rief Schatow mit einer geringschätzigen Handbewegung, als er endlich begriff, worauf sich der Vorwurf Stawrogins bezog und ging dann ohne Umschweife zu seinem Hauptthema über.

7

»Wissen Sie wohl,« begann er fast drohend, wobei er sich auf seinem Stuhl nach vorn beugte, mit den Augen funkelte und, offenbar ohne es selbst zu bemerken, den Zeigefinger der rechten Hand in die Höhe hob, »wissen Sie wohl, welches Volk jetzt auf der ganzen Erde der einzige ›Gottesträger‹ ist, dem es beschieden ist, die Welt im Namen des neuen Gottes zu erneuern und zu erlösen und dem allein die Schlüssel zur Pforte des Lebens und zu den neuen Worten gegeben sind ... Wissen Sie wohl, welches Volk das ist, und wie es heißt?«

»Aus der Art, wie Sie Ihre Frage stellen, muß ich wohl unbedingt und so rasch wie möglich schließen, daß Sie das russische Volk meinen ...«

»Und Sie lachen schon! Oh, dieses Geschlecht!« fuhr Schatow auf.

»Beruhigen Sie sich! Ich bitte Sie! Ich lache gar nicht, ich habe doch gerade etwas Derartiges erwartet.«

»Sie haben etwas Derartiges erwartet? Und Ihnen selbst sind diese Worte nicht bekannt?«

»O doch, sehr sogar; ich sehe nur allzu deutlich, worauf Sie hinauswollen. Dieser ganze vorherige Satz und selbst die Bezeichnung ›Gottesträger‹ sind nur der Schluß eines Gesprächs, das wir beide vor mehr als zwei Jahren geführt haben, kurz vor Ihrer Abreise nach Amerika ... Wenigstens soweit ich mich jetzt besinnen kann.«

»Dieser Satz stammt ganz und gar von Ihnen, und ich habe ihm nichts hinzugefügt. Das sind Ihre eigenen Gedanken und nicht lediglich ein Schluß unseres Gesprächs. Von einem Gespräch, das man als ›unser‹ Gespräch bezeichnen könnte, ist gar nicht die Rede! Ein solches hat auch nie stattgefunden. Was es gab, war ein Lehrer, der gewaltige Worte verkündete, und ein Schüler, der geradezu von den Toten auferstanden war. Ich bin jener Schüler gewesen und Sie – der Lehrer.«

»Aber, wenn ich mich recht besinne, so traten Sie ja gerade nach jenen meinen Worten in den Bund ein und sind erst daraufhin nach Amerika abgereist.«

»Ja, und ich habe Ihnen darüber aus Amerika geschrieben! Über alles schrieb ich Ihnen damals. Ja, ich konnte mich zu jener Zeit nicht blutenden Herzens von allem losreißen, womit ich seit meiner Kindheit verwachsen war, von dem, was in mir alle Begeisterung des Hoffens und alle Tränen des Hasses ausgelöst hatte ... Es ist schwer, seinen Gott zu wechseln. Ich schenkte Ihnen damals keinen Glauben, weil ich Ihnen nicht glauben wollte, und klammerte mich zum letztenmal an diesen Jauchenpfuhl ... Aber der Same war dennoch auf fruchtbaren Boden gefallen und wuchs auf. Im Ernst, sagen Sie mir im Ernst, haben Sie meinen Brief aus Amerika nicht zu Ende gelesen? Vielleicht haben Sie überhaupt nicht hineingeblickt?«

»Ich habe drei Seiten davon gelesen, die beiden ersten und die letzte, und habe außerdem auch die Mitte flüchtig durchgesehen. Im übrigen hatte ich immer vor ...«

»Ach, es ist ja einerlei, lassen Sie das! Zum Teufel!« rief Schatow und wehrte mit der Hand ab. »Wenn Sie jetzt Ihre eigenen damaligen Gedanken über das Volk verleugnen, wie konnten Sie diese seinerzeit aussprechen? ... Das ist es, was mich jetzt bedrückt.«

»Ich habe doch auch damals keinen Scherz mit Ihnen getrieben; indem ich Sie zu überzeugen versuchte, bemühte ich mich um mich selbst vielleicht noch viel mehr als um Sie«, antwortete Stawrogin etwas rätselhaft.

»Sie haben nicht gescherzt! In Amerika lag ich drei Monate lang auf Stroh, neben einem ... Unglücklichen und erfuhr von ihm, daß Sie, vielleicht zur gleichen Zeit, da Sie mir ins Herz die Ideen Gott und Vaterland hineinpflanzten, vielleicht am gleichen Tage sogar ins Herz dieses Unglücklichen, dieses Halbverrückten, dieses Kirillow, Gift geträufelt haben ... Sie haben in ihm den Glauben an die Allmacht und Unbesiegbarkeit der Lüge und der Unwahrhaftigkeit gestärkt und seinen Geist beinah zur Raserei gebracht ... Gehen Sie mal hin zu ihm und sehen Sie sich ihn jetzt an: er ist Ihr Werk ... Übrigens haben Sie ihn bereits gesehen.«

»Erstens will ich Ihnen darauf erwidern, daß Kirillow mir soeben selbst gesagt hat, er sei rein, gut, herrlich und glücklich. Ihre Vermutung, daß dies alles fast zur selben Zeit vorgegangen sei, ist beinahe richtig, aber was folgt denn daraus? Ich wiederhole: ich habe weder Sie noch ihn zu täuschen gesucht.«

»Sind Sie Atheist? Sind Sie jetzt Atheist?«

»Ja.«

»Und damals?«

»Da war ich es genau so wie jetzt.«

»Ich habe Sie vor Beginn unseres Gesprächs nicht um Achtung vor meiner Person gebeten; bei Ihrem Verstand hätten Sie das begreifen können«, murmelte Schatow entrüstet.

»Ich bin nicht schon bei Ihren ersten Worten aufgestanden, ich habe das Gespräch nicht abgebrochen, bin nicht fortgegangen, sondern sitze jetzt noch hier und antworte ganz friedlich auf Ihre Fragen und auf Ihr ... Geschrei; also habe ich vorläufig keineswegs etwas getan, was Sie als Nichtachtung vor Ihrer Person auslegen könnten.«

Schatow unterbrach ihn mit einer abwehrenden Handbewegung:

»Erinnern Sie sich noch an Ihren Ausdruck: ›Ein Atheist kann niemals Russe sein‹, ›ein Atheist hört sofort auf, zu den wirklichen Russen zu zählen‹? Erinnern Sie sich noch?«

»Ja?« sagte Nikolaj Wsewolodowitsch, wie wenn er fragte.

»Sie fragen? Sie haben es vergessen? Und dennoch ist es einer der zutreffendsten Hinweise auf eine der Haupteigenschaften des russischen Geistes, die Sie richtig erraten haben. Das konnten Sie nicht vergessen haben! Ich werde Sie noch an mehr erinnern: Sie sagten zur gleichen Zeit: ›Wer nicht griechisch-katholisch ist, kann auch kein Russe sein‹.«

»Ich glaube, das ist ein slawophiler Gedanke.«

»Nein, die heutigen Slawophilen würden ihn ablehnen. Das Volk ist heute klüger geworden. Aber Sie gingen noch viel weiter: Sie glaubten, daß der römische Katholizismus schon kein Christentum mehr sei; Sie behaupteten, daß Rom einen Christus verkündet habe, der der dritten Versuchung des Teufels erlegen sei, und daß der Katholizismus schon allein dadurch, daß er gepredigt habe, Christus könne ohne ein weltliches Reich auf der Erde nicht bestehen, die Macht des Antichristes aufgerichtet und dadurch die ganze westliche Welt ins Verderben gestürzt hätte. Sie wiesen insbesondere darauf hin, daß, wenn Frankreich jetzt allerlei Qualen durchmache, es einzig und allein Schuld des Katholizismus sei, denn das französische Volk habe den stinkenden römischen Gott verworfen, aber keinen anderen, neuen gefunden. So haben Sie damals reden können! Ich erinnere mich an alles, was Sie mit mir besprochen haben.«

»Wenn ich gläubig wäre, so hätte ich zweifelsohne das alles auch jetzt wiederholt. Indessen log ich nicht, als ich wie ein Gläubiger sprach«, erwiderte Nikolaj Wsewolodowitsch sehr ernst. »Aber ich versichere Ihnen, daß diese Wiederholung und das Neuauftischen meiner früheren Gedanken in mir jetzt eine gar zu unangenehme Empfindung hervorruft. Können Sie nicht damit aufhören?«

»Wenn Sie gläubig wären?« rief Schatow, ohne auf die Bitte Stawrogins auch die geringste Rücksicht zu nehmen. »Aber haben Sie nicht selbst zu mir gesagt, daß Sie sogar dann, wenn man Ihnen mit mathematischer Genauigkeit bewiesen hätte, daß die Wahrheit außerhalb Christi liege, dennoch viel lieber mit Christus bleiben würden als bei der Wahrheit? Haben Sie mir das gesagt? Haben Sie das?«

»Aber gestatten Sie jetzt auch mir zu fragen,« versetzte Stawrogin mit ebenfalls erhobener Stimme, »wo wollen Sie mit diesem ungeduldigen und ... boshaften Examen hinaus?«

»Dieses Examen wird für alle Ewigkeit zu Ende sein, und ich werde Sie nie wieder daran erinnern.«

»Sie beharren hartnäckig darauf, daß wir uns außerhalb von Zeit und Raum befinden.«

»Schweigen Sie!« schrie Schatow plötzlich auf. »Ich bin dumm und ungeschickt; aber mag auch mein Name im Lächerlichen untergehen! Gestatten Sie mir jetzt, vor Ihnen Ihren damaligen Hauptgedanken zu schildern ... Oh, nur etwa zehn Zeilen, nur die Schlußfolgerung.«

»Schön, wiederholen Sie ihn, wenn es wirklich nur eine Schlußfolgerung ist, und es also Schluß damit sein soll ...«

Stawrogin machte beinah eine Bewegung, als wollte er nach der Uhr sehen, aber er beherrschte sich rechtzeitig und unterließ es.

Schatow bog sich wieder auf seinem Stuhl nach vorn über und hatte einen Augenblick lang sogar den Finger wieder erhoben.

»Kein einziges Volk,« begann er, als lese er das, was er sagte, ab, wobei er indessen fortfuhr, Stawrogin streng und drohend anzublicken, »kein einziges Volk hat je sein Leben auf einem Fundament von wissenschaftlichen Errungenschaften und auf der Vernunft errichtet; die Geschichte liefert uns dafür keine Beispiele, mit Ausnahme von kleinen Versuchen, die nur aus Dummheit unternommen wurden und nur eine Minute dauerten. Der Sozialismus muß schon seinem Wesen nach Atheismus sein, denn er hat von vornherein ausdrücklich verkündet, daß er eine atheistische Lehre sei und sich lediglich auf den Grundsteinen der Wissenschaft und der Vernunft aufbaue. Die Vernunft und die Wissenschaft aber haben im Leben der Völker stets, jetzt und vom Anbeginn der Zeiten an nur eine untergeordnete, dienende Rolle gespielt; und diese werden sie bis zum Ende aller Dinge beibehalten. Die Völker bilden sich und bewegen sich unter dem Einfluß einer anderen Kraft, die ihnen gebietet und sie beherrscht, deren Ursprung aber unbekannt und unerklärlich bleibt. Es ist die Kraft des unstillbaren Verlangens, bis ans Ende zu gehen, die gleichzeitig aber ein Ende verneint. Es ist die Kraft der ununterbrochenen und unaufhörlichen Bejahung des eigenen Daseins und der Verneinung des Todes. Es ist der Geist des Lebens, wie die Heilige Schrift sagt, ›die Ströme lebendigen Wassers‹, mit deren Versiegen so sehr die Offenbarung Sankt Johannis droht. Es ist der Urquell der Ästhetik, wie die Philosophen sagen, was der Ansicht derselben Philosophen nach gleichbedeutend ist mit dem Urquell der Ethik. Ich nenne es kurz und einfach: ›Das Suchen nach Gott‹. Das Ziel einer jeden Volksbewegung, bei jedem Volke und in jeder Periode seines Daseins ist einzig und allein das Suchen nach Gott, nach seinem Gott, unbedingt nach seinem eigenen Gott, und der Glaube an ihn als an den einzig wahren Schöpfer und Lenker. Gott ist die synthetische Persönlichkeit eines ganzen Volkes, betrachtet in allen seinen Phasen von Anbeginn bis zu Ende. Noch nie ist es vorgekommen, daß alle oder viele Völker einen gemeinsamen Gott gehabt hätten; es hat vielmehr ein jedes Volk stets und ständig seinen besonderen Gott gehabt. Es ist ein Zeichen des Untergangs von Völkern, wenn die Götter gemeinsam zu werden beginnen. Wenn die Götter gemeinsam werden, dann stirbt der Glaube an sie, und mit ihnen das Volk selbst. Je stärker ein Volk ist, um so besonderer, um so eigenartiger ist auch sein Gott. Noch nie hat es ein Volk ohne Religion gegeben, das heißt ohne den Begriff des Guten und Bösen. Ein jedes Volk hat seine eigene Vorstellung vom Guten und Bösen und sein eigenes Gut und Böse. Wenn die Begriffe des Guten und Bösen bei mehreren Völkern gemeinsam zu werden beginnen, dann fangen diese Völker an auszusterben, und selbst der Unterschied zwischen dem Gut und Böse fängt an zu schwinden. Noch nie ist die Vernunft imstande gewesen, das Gute und das Böse zu definieren oder selbst das Gute vom Bösen zu trennen, wenn auch nur annähernd. Im Gegenteil, sie hat beides stets in der schmachvollsten und lächerlichsten Weise vermischt. Die Wissenschaft aber hat Entscheidungen und Aufklärungen gegeben, die mehr an plumpe Faustschläge erinnern. Besonders hat sich in dieser Hinsicht die Halbwissenschaft hervorgetan, diese furchtbarste Geißel der Menschheit, die schlimmer ist als Pest, Hunger und Krieg und die vor Beginn unseres Jahrhunderts noch gar nicht bekannt war. Die Halbwissenschaft ist ein Despot, wie es bis jetzt noch keinen schlimmeren gegeben hat. Sie ist ein Despot, der über eigene Priester und Sklaven verfügt, ein Despot, vor dem sich alles in Liebe und mit einem früher undenkbarem Aberglauben beugt, ein Despot, vor dem sogar die Wissenschaft selbst zittert und dem sie in der schmählichsten Weise Handlangerdienste leistet. Das alles sind Ihre eigenen Worte, Stawrogin, mit Ausnahme dessen, was ich über die Halbwissenschaft gesagt habe; das ist von mir, denn ich bin selbst nur einer der Sklaven der Halbwissenschaft und hasse sie darum ganz besonders stark. An Ihren eigenen Gedanken aber, und sogar an Ihren Worten habe ich nichts geändert, keine einzige Silbe.«

»Ich glaube kaum, daß die Wiedergabe unverändert ist«, bemerkte Stawrogin vorsichtig. »Sie haben es voller Feuer und Flamme aufgenommen und ebenso voller Begeisterung umgeändert, ohne es selbst zu merken. Schon allein die Tatsache, daß Sie Gott zu einem bloßen Attribut der Nationalität erniedrigt haben ...«

Er hatte Schatow mit einemmal eine besondere, gesteigerte Aufmerksamkeit zugewendet, und zwar mehr seiner Person als seinen Worten.

»Ich erniedrige Gott zu einem Attribut der Nationalität?« rief Schatow. »Nein, im Gegenteil! Ich hebe das Volk zu Gott hinauf. Und ist es denn überhaupt jemals anders gewesen? Das Volk ist Gottes Leib. Jedes Volk ist nur solange ein Volk, als es seinen besonderen Gott hat und alle anderen übrigen Götter auf der Welt erbarmungslos und unversöhnlich ausschließt, nur solange es daran glaubt, daß es mit Hilfe seines eigenen Gottes alle übrigen Götter besiegen und aus der Welt vertreiben kann. So wurde von Anbeginn der Zeiten geglaubt, so glaubten wenigstens alle großen Völker, die irgendeine Bedeutung hatten und an der Spitze der Menschheit standen. Die Juden lebten auf der Welt nur dazu, um den wahren Gott zu erwarten und hinterließen der Welt den Glauben an den wahren Gott. Die Griechen vergötterten die Natur und vermachten der Welt ihre Religion, das heißt die Philosophie und die Künste. Rom vergötterte das Volk im Staate und hinterließ den Völkern den Staat. Frankreich war während seiner ganzen langen Geschichte lediglich die Inkarnation und die Entwicklung der Idee des römischen Gottes, und wenn es ihn jetzt auch in den Abgrund geworfen und sich dem Atheismus ergeben hat, der sich dort vorläufig als Sozialismus bezeichnet, so geschah das einzig und allein aus der Erkenntnis, daß der Atheismus immer noch bedeutend gesünder ist als der römische Katholizismus. Wenn ein großes Volk nicht glaubt, daß es nur selbst, daß also ausschließlich dieses Volk im Besitze der Wahrheit ist, wenn dieses Volk nicht glaubt, daß es nur allein fähig und berufen ist, die ganze Weltkraft seiner eigenen Wahrheit von den Toten auferstehen zu lassen und zu erlösen, dann verwandelt sich dieses Volk sofort in ein ethnographisches Material und hört eben auf, ein großes Volk zu sein. Ein wahrhaft großes Volk kann sich nie mit einer Rolle zweiten Ranges in der Menschheit begnügen, selbst eine Rolle ersten Ranges ist ihm zu wenig; es will eben die erste Rolle spielen, und nur diese. Wo dieser Glaube verloren geht, da ist auch kein Volk mehr, aber es gibt nur eine Wahrheit, und infolgedessen kann auch nur ein einziges Volk den wahren Gott haben, wenn auch die übrigen Völker ihre eigenen, großen Götter besitzen mögen. Das einzige Volk, das als ›Gottesträger‹ bezeichnet werden kann, ist das russische Volk, und ... und ... und halten Sie mich denn wirklich für so dumm, Stawrogin,« brüllte er plötzlich wie rasend auf, »denken Sie wirklich, daß ich nicht imstande bin zu beurteilen, ob meine Worte in diesem Augenblick nur altes, hinfälliges Geschwätz sind, das schon auf allen Mühlen der Moskauer Slawophilen gemahlen wurde, oder ob ich jetzt etwas Neues sage, das letzte Wort, das einzige Wort der Erneuerung und Auferstehung, und ... und was geht mich in diesem Augenblick Ihr Lachen an! Was schert es mich, daß Sie mich gar nicht verstehen, ganz und gar nicht, auch nicht ein Wort, auch nicht einen einzigen Laut! ... Oh, wie ich Ihr stolzes Lachen und Ihren stolzen Blick in diesem Augenblick verachte!«

Er sprang von seinem Stuhl auf; seine Lippen hatten sich sogar mit Schaum bedeckt.

»Im Gegenteil, Schatow, ganz im Gegenteil«, sagte Stawrogin ungewöhnlich ernst und zurückhaltend, ohne sich von seinem Platz zu rühren. »Im Gegenteil: Sie haben durch Ihre flammenden Worte in mir eine ganze Menge außerordentlich starker Erinnerungen wachgerufen. In Ihren Worten erkenne ich meine eigene Stimmung und meine eigene Gesinnung wieder, wie sie damals vor zwei Jahren war, und ich sage jetzt nicht mehr wie vorhin, daß Sie meine damaligen Gedanken übertreiben. Es scheint mir sogar, daß sie zu jener Zeit noch ausschließlicher, noch selbstherrlicher waren, und ich versichere Ihnen zum drittenmal, daß ich alles, was Sie jetzt gesagt haben, sehr gern bestätigen würde, sogar bis aufs letzte Wort, aber ...«

»Aber Sie brauchen einen Hasen?«

»Wa–as?«

»Das ist Ihr eigener, gemeiner Ausdruck«, erwiderte Schatow mit einem boshaften Lächeln und setzte sich wieder. »Es wird erzählt, daß Sie in Petersburg, wie etwa Nosdriow, der einen Hasen an den Hinterbeinen fangen wollte, wiederholt gesagt hätten: ›Um eine Hasensoße zu machen, muß man einen Hasen haben, um an Gott glauben zu können, muß man einen Gott finden‹.«

»Nein, da ist ein Unterschied: Nosdriow rühmte sich gerade, einen Hasen bereits gefangen zu haben. Nun möchte ich Ihnen aber beiläufig eine Frage vorlegen, zumal ich jetzt, wie es mir scheint, ein volles Recht dazu habe. Sagen Sie mir: Ist Ihr eigener Hase schon gefangen, oder läuft er noch umher?«

»Ich verbitte mir diese Frage in dieser Form! Fragen Sie mit anderen Worten, mit anderen Worten!« schrie Schatow und begann plötzlich am ganzen Leibe zu zittern.

»Schön«, erwiderte Nikolaj Wsewolodowitsch und sah ihn finster an. »Ich wollte nur wissen: Glauben Sie selbst an Gott oder nicht?«

»Ich glaube an Rußland, ich glaube an seine Rechtgläubigkeit ... Ich glaube an den Leib Christi ... Ich glaube, daß die Wiederkunft des Herrn in Rußland stattfinden wird ... Ich glaube ...« stammelte Schatow in Extase.

»Und an Gott? Glauben Sie an Gott?«

»Ich ... Ich werde an Gott glauben.«

Kein einziger Muskel bewegte sich in Stawrogins Gesicht. Schatow sah ihn herausfordernd und mit flammenden Blicken an, wie wenn er ihn damit verbrennen wollte.

»Ich habe Ihnen doch nicht gesagt, daß ich überhaupt nicht glaube!« rief er schließlich, »ich gebe Ihnen nur kund, daß ich vorläufig nichts weiter als ein unglückliches, langweiliges Buch bin. Vorläufig ... Aber mag auch mein Name untergehen! Es handelt sich nicht um mich, sondern um Sie ... Ich bin ein unbegabter Mensch und kann nur mein Blut hingeben und nichts mehr, wie eben jeder Mensch, der keine Talente hat. Mag da also auch mein Blut geopfert werden! Ich spreche ja von Ihnen! Ich habe Sie zwei Jahre lang hier erwartet ... Um Ihretwillen und nur für Sie tanze ich hier eine halbe Stunde lang nackt umher. Sie, Sie allein wären imstande, dieses Banner zu erheben!«

Er sprach nicht zu Ende, stemmte die Ellbogen auf den Tisch und legte wie in Verzweiflung den Kopf in die Hände.

»Ich will Ihnen nur beiläufig und der Kuriosität halber eins bemerken«, unterbrach Stawrogin plötzlich das Schweigen. »Aus irgendeinem Grunde wollen mir alle irgendein Banner aufdrängen. Piotr Werchowenskij ist auch überzeugt, daß ich imstande wäre ›bei ihnen das Banner zu erheben‹, wenigstens hat man mir erzählt, daß er diesen Ausspruch getan hat. Er hat sich in den Kopf gesetzt, daß ich bei ihnen die Rolle eines Stenka Rasin spielen könnte, weil ich, wiederum seinen eigenen Worten zufolge ›eine ungewöhnliche Befähigung zum Verbrechen besitze‹.«

»Wie?« fragte Schatow. »Eine ungewöhnliche Befähigung zum Verbrechen?«

»Jawohl.«

»Hm, ist es denn wahr, daß Sie in Petersburg einem viehischen, wollüstigen Geheimbund angehört haben?« fragte Schatow mit einem boshaften Lächeln. »Ist es wahr, daß Sie gesagt haben, Marquis de Sade hätte bei Ihnen noch viel zu lernen gehabt? Ist es wahr, daß Sie Kinder an sich gelockt und verdorben haben? Reden Sie! Wagen Sie aber ja nicht zu lügen!« schrie er schon ganz außer sich. »Nikolaj Stawrogin kann nicht vor Schatow lügen, vor Schatow, der ihn ins Gesicht geschlagen hat! Reden Sie, und wenn das alles wahr ist, dann werde ich Sie sofort umbringen, augenblicklich, auf der Stelle!«

»Ich habe die Worte vom Marquis de Sade gesagt, aber keinem Kinde etwas zuleide getan«, erwiderte Stawrogin, aber nur nach einem ungewöhnlich langem Schweigen. Er war blaß geworden, und in seinen Augen lohte eine grelle Flamme.

»Aber Sie haben diese Worte gesagt!« fuhr Schatow herrisch fort, ohne seine funkelnden Augen von ihm abzuwenden. »Ist es wahr, daß Sie versichert haben, Sie wüßten, was Schönheit anbetrifft, keinen Unterschied zwischen einem wollüstigen, tierischen Exzeß und einer Heldentat, ganz gleich, welcher Art, selbst wenn es sich um das Aufopfern des eigenen Lebens für das Wohl der Menschheit handle? Ist es wahr, daß Sie auf den beiden Polen eine gleich große Schönheit und einen gleich starken Genuß gefunden haben?«

»Sie stellen Ihre Fragen so, daß es mir unmöglich ist, darauf zu antworten ... Ich will Ihnen darauf keine Antwort geben«, murmelte Stawrogin, der sehr wohl hätte aufstehen und weggehen können, sich aber nicht erhob und nicht fortging.

»Ich weiß auch nicht, warum das Böse widerlich und das Gute schön ist, aber ich weiß, warum das Empfinden dieses Unterschiedes sich bei solchen Herren wie Sie, Stawrogin, verwischt und verliert«, ließ der am ganzen Leibe zitternde Schatow nicht nach. »Wissen Sie auch, warum Sie damals so schändlich und gemein geheiratet haben? Doch nur deshalb, weil dabei die Schande und die Sinnlosigkeit geradezu die Grenze des Genialen erreichten! Oh, Sie wandeln nicht am Rande des Abgrunds, sondern stürzen sich kühn kopfüber hinab. Ihre Ehe entsprang Ihrer Leidenschaft zur Quälerei, Ihrer Leidenschaft für Gewissensbisse und Ihrer ethischen Wollust. Ihre Nerven waren überanstrengt, und Sie haben einen Zusammenbruch erlebt ... Die Herausforderung, die Sie durch diese Heirat der gesunden Vernunft hinwerfen konnten, erschien Ihnen gar zu reizvoll! Stawrogin und eine häßliche, schwachsinnige, bettelarme Lahme! Als Sie den Gouverneur ins Ohr bissen, haben Sie da auch Wollust empfunden? Ja? Sie müßig umherbummelndes Herrchen, haben Sie das empfunden oder nicht?«

»Sie sind ein Psychologe,« bemerkte Stawrogin, der immer blasser und blasser wurde, »obwohl Sie sich darin, was die Ursachen zu meiner Ehe anbetrifft, teilweise geirrt haben ... Wer hat Ihnen indessen alle diese Nachrichten liefern können?« fügte er mit einem gezwungenen Lächeln hinzu. »Etwa Kirillow? Aber der war ja gar nicht beteiligt ...«

»Sie werden ja immer blasser!«

»Was wollen Sie denn eigentlich?« fragte Nikolaj Wsewolodowitsch, der jetzt endlich ebenfalls seine Stimme erhob. »Ich habe hier eine halbe Stunde lang unter Ihren Peitschenhieben gesessen, und Sie könnten mich wenigstens auf höfliche Art und Weise entlassen ... wenn Sie wirklich kein vernünftiges Ziel im Auge gehabt haben, als Sie mich hier so behandelten.«

»Ein vernünftiges Ziel?«

»Selbstverständlich. Es ist schließlich Ihre Pflicht, mir endlich den Zweck Ihrer Handlungsweise anzugeben. Ich habe immer darauf gewartet, daß Sie das von selbst tun werden, habe aber nichts als rasende Bosheit wahrgenommen. Nun muß ich Sie bitten, mir das Tor aufzumachen.«

Er stand vom Stuhl auf. Schatow eilte ihm wie ein Besessener nach.

»Küssen Sie die Erde, tränken Sie den Boden mit Tränen, bitten Sie sie um Verzeihung!« schrie er und packte ihn an der Schulter.

»Ich habe Sie doch aber nicht getötet ... an jenem Vormittag ... sondern meine beiden Arme auf dem Rücken verschränkt ...« sagte Stawrogin und senkte die Augen. Seine Stimme klang beinah schmerzerfüllt.

»Sprechen Sie zu Ende, sprechen Sie zu Ende! Sie kamen hierher, um mich vor einer Gefahr zu warnen. Sie haben mich reden lassen; Sie wollen morgen Ihre Ehe in aller Öffentlichkeit bekanntgeben! ... Glauben Sie, daß ich es nicht schon Ihrem Gesicht ansehe, daß Sie von einem neuen fürchterlichen Gedanken überwältigt werden ... Stawrogin, warum bin ich nur dazu verurteilt, mein Leben lang an Sie zu glauben? Hätte ich denn je mit einem anderen Menschen so sprechen können? Ich bin keusch und habe mich doch nackt gezeigt und mich meiner Blöße nicht geschämt, weil ich mit Stawrogin sprach. Ich hatte keine Angst, einen großen Gedanken durch meine Berührung ins Lächerliche zu ziehen, weil ich wußte, daß mir kein anderer als Stawrogin zuhörte ... Und werde ich nach Ihrem Fortgehen etwa nicht die Spuren Ihrer Füße küssen? Es ist mir unmöglich, Sie aus meinem Herzen zu reißen, Nikolaj Stawrogin!«

»Es tut mir leid, daß ich Sie nicht lieben kann, Schatow«, erwiderte Nikolaj Wsewolodowitsch kühl.

»Ich weiß, daß Sie es nicht können, und ich weiß, daß Sie nicht lügen. Hören Sie, ich kann noch alles wieder einrenken. Ich will Ihnen einen Hasen besorgen.«

Stawrogin schwieg.

»Sie sind ein Atheist, weil Sie ein Herrensohn sind, ein Junker, und zwar der letzte Junker Ihrer Art. Sie haben den Unterschied zwischen Gut und Böse zu erkennen verlernt, weil Sie aufgehört haben, Ihr Volk zu erkennen ... Es ist eine neue Generation im Anzüge, unmittelbar aus dem Herzen des Volkes kommt sie, und wir werden sie nicht erkennen, diese Neuen, weder Sie noch die beiden Werchowenskijs, noch ich, weil auch ich ein Herrensohn bin, ich, der Sohn Ihres leibeigenen Lakaien Paschka ... Hören Sie, erringen Sie sich Ihren Gott mit Mühe und Arbeit; darin liegt der Kern; sonst werden Sie verschwinden wie eine gemeine Schimmelschicht; erringen Sie sich ihn durch Arbeit.«

»Gott durch Arbeit erringen? Durch was für Arbeit?«

»Durch Bauernarbeit. Gehen Sie und werfen Sie Ihren Reichtum von sich ... Ah, Sie lachen, Sie befürchten, daß das Ganze auf ein Kunststück hinauslaufen wird?«

Aber Stawrogin lachte nicht.

»Sie glauben, daß man sich seinen Gott durch Arbeit erringen kann und gerade durch Bauernarbeit?« fragte er wieder nach einer kurzen Überlegung, wie wenn er in der Tat etwas Neuem und Ernstem begegnet wäre, worüber nachzudenken es sich lohnte. »Übrigens,« sagte er, plötzlich zu einem anderen Gedanken übergehend, »Sie haben mich soeben daran erinnert: Wissen Sie wohl, daß ich gar nicht reich bin, so daß ich gar nichts von mir werfen könnte? Ich bin kaum imstande, die Zukunft Maria Timofejewnas zu sichern ... Und nun noch etwas: Ich kam hierher, um Sie zu bitten, nach Möglichkeit auch in Zukunft Maria Timofejewna nicht zu verlassen, da nur Sie allein imstande sind, einen gewissen Einfluß auf ihren armen Geist auszuüben. Ich sage das für alle Fälle.«

»Gut, gut, Sie sprechen von Maria Timofejewna,« erwiderte Schatow, indem er nur mit einer Hand abwehrte, da er in der anderen die Kerze hielt, »gut, das ist ja auch selbstverständlich ... Hören Sie, gehen Sie doch einmal zu Tichon hin.«

»Zu wem?«

»Zu Tichon. Er ist ein früherer Bischof und hat sich krankheitshalber in den Ruhestand versetzen lassen und lebt jetzt hier, am Rande der Stadt, in unserem Jefimjewskij-Bogorodskij-Kloster.«

»Was ist denn da bei ihm?«

»Nichts Besonderes. Es kommen viele Menschen zu ihm, zu Fuß und zu Wagen. Suchen Sie ihn doch mal auf; weshalb sollten Sie das nicht tun? Was haben Sie dagegen?«

»Das höre ich zum erstenmal, und ... habe noch nie diese Art Menschen gesehen. Ich danke Ihnen; ich werde ihn aufsuchen.«

»Hierher!« sagte Schatow und leuchtete die Treppe herunter. »So, gehen Sie!« fügte er hinzu und öffnete das Pförtchen, das nach der Straße führte.

»Ich werde nie wieder zu Ihnen kommen, Schatow«, sagte Stawrogin leise, als er über die Schwelle trat.

Draußen regnete es immer noch, und es war noch ebenso dunkel.


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