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Fünftes Kapitel

Vor dem Feste

1

Der Tag des Festes, das Julia Michajlowna auf Subskriptionen zum Besten armer Erzieherinnen unseres Gouvernements zu veranstalten beabsichtigte, war schon mehrmals angesetzt und immer wieder verschoben worden. Um sie herum drehten sich beständig in unverwüstlichem Diensteifer: Piotr Stepanowitsch und der zum Besorgen von Gängen angestellte kleine Beamte Liamschin, der seinerzeit Stepan Trofimowitsch besucht hatte und jetzt plötzlich wegen seines Klavierspiels im Hause des Gouverneurs in Gnaden aufgenommen war; dann auch noch Liputin, den Julia Michajlowna zum Redakteur der künftigen unabhängigen Gouvernementszeitung ausersehen hatte; ferner einige Damen und junge Mädchen und schließlich sogar Karmasinow, der zwar nicht geschäftig herumlief, aber laut und mit zufriedener Miene erklärte, daß er durch die literarische Quadrille allen eine angenehme Überraschung bereiten würde. Die Zahl der Zeichner und Spender war außerordentlich groß; die gesamte bessere Stadtgesellschaft beteiligte sich daran, aber es wurden auch Angehörige einfacherer Stände zugelassen, sofern sie nur mit Geld kamen. Julia Michajlowna machte die Bemerkung, daß es mitunter sogar notwendig sei, eine Mischung der Stände zuzulassen; denn »wer sollte die Leute sonst aufklären«? Es bildete sich ein nicht offizielles Hauskomitee, in welchem beschlossen wurde, daß das Fest einen demokratischen Charakter tragen sollte. Der außerordentlich starke Geldeingang verlockte zu Ausgaben; man wollte etwas ganz Wunderbares schaffen, und nur deshalb verschob man den Termin immer wieder und wieder. Noch immer war man sich darüber unschlüssig, wo der Ball stattfinden sollte: ob in dem ungeheuerlich großen Hause der Frau Adelsmarschall, das diese für den betreffenden Tag dazu hergeben wollte, oder bei Warwara Petrowna in Skworeschniki. Dieses Stawroginsche Gut lag allerdings etwas weiter ab, aber viele im Komitee wollten die Veranstaltung durchaus dort haben, weil sie der Ansicht waren, es würde dort »freier« zugehen. Warwara Petrowna selbst wünschte sehr lebhaft, daß man sich für ihr Haus entscheide. Es ist schwer zu sagen, weshalb diese stolze Frau sich jetzt bei Julia Michajlowna einzuschmeicheln suchte. Es gefiel ihr wahrscheinlich, daß diese ihrerseits sich vor Nikolaj Wsewolodowitsch fast erniedrigte und ihn so liebenswürdig behandelte wie niemand anders. Ich wiederhole hier noch einmal: Piotr Stepanowitsch betonte die ganze Zeit über im Hause des Gouverneurs immer wieder den schon viel früher aufgetauchten Gedanken, daß Nikolaj Wsewolodowitsch ein Mensch sei, der in einer außerordentlich geheimnisvollen Welt außerordentlich geheimnisvolle Verbindungen habe, und daß er wahrscheinlich mit irgendeinem Auftrag hierher gekommen sei.

Zu jener Zeit befanden sich die Gemüter in einer seltsamen Stimmung. Besonders in der Damenwelt machte sich eine Art von Leichtsinn bemerkbar, und man kann nicht gut sagen, daß es so nach und nach gekommen war. Mit einemmal hatten sie einige sehr freie Anschauungen, und zwar so plötzlich, als wenn der Wind sie ihnen zugetragen hätte. Es kam ein Ton auf, der allerdings sehr heiter und ausgelassen, aber nicht immer angenehm war. Eine gewisse Verwirrung in den Köpfen wurde einfach Mode. Später, als das alles zu Ende war, beschuldigte man Julia Michajlowna, ihren Kreis und ihren Einfluß, aber es ist kaum anzunehmen, daß Julia Michajlowna daran die einzig Schuldige war. Anfangs lobten sogar viele um die Wette die neue Gouverneurin, weil sie es verstand, die Gesellschaft zu vereinigen, und weil seit ihrer Ankunft das Leben lustiger und angenehmer geworden war. Es kamen sogar einige skandalöse Begebenheiten vor, an denen Julia Michajlowna schon ganz und gar keine Schuld trug, aber alle lachten damals nur darüber und amüsierten sich; und es fand sich niemand, der hemmend eingegriffen hätte. Allerdings blieb eine ziemlich bedeutende Gruppe von Personen abseits von diesem Treiben und hatte ihre besonderen Ansichten über den damaligen Lauf der Dinge. Aber selbst diese Menschen murrten damals noch nicht; sie lächelten sogar.

Ich erinnere mich, daß sich zu jener Zeit wie von selbst ein ziemlich weiter Kreis gebildet hatte, dessen Mittelpunkt sich allerdings wohl in Julia Michajlownas Salon befand. In diesem intimen Kreise, der sich um sie geschart hatte, war es, natürlich nur unter der Jugend, erlaubt und wurde sogar zur Regel, Streiche zu begehen, von denen einige in der Tat mitunter ziemlich ausgelassen waren. Dem Kreise gehörten auch einige sehr hübsche Damen an. Die Jugend veranstaltete Picknicks und kleine Abendgesellschaften, ritt mitunter in ganzen Kavalkaden oder fuhr auch in Wagen durch die Stadt. Man suchte Abenteuer, dichtete sich diese zum Teil selbst zusammen, und zwar lediglich, um einen interessanten Gesprächsstoff zu liefern. Unsere Stadt behandelten diese jungen Leute so, als wenn sie ein Dummsdorf wäre. Man nannte sie alle »die Spötter« oder »die Spottvögel«, weil sie durchaus nicht wählerisch waren. Es traf sich einmal zum Beispiel, daß die Frau eines hiesigen Leutnants, eine noch sehr jugendliche Brünette, die allerdings etwas heruntergekommen war, da sie ihr Mann sehr knapp hielt, bei einer dieser Abendgesellschaften sich leichtsinnigerweise an einem Kartenspiel beteiligte, in der Hoffnung, das Geld zu einer Mantille zu gewinnen. Statt dessen aber verlor sie fünfzehn Rubel. Da sie sich nun vor ihrem Mann fürchtete und kein Geld zum Bezahlen hatte, entschloß sie sich, in Erinnerung an ihre frühere Keckheit, insgeheim um ein Darlehn zu bitten. Das tat sie auch gleich noch am selben Abend, und zwar kam sie mit ihrem Anliegen zu dem Sohn unseres Bürgermeisters, zu einem sehr widerlichen und trotz seines jugendlichen Alters ganz verlebten Burschen. Dieser schlug die Bitte nicht nur ab, sondern ging auch laut lachend zu ihrem Mann, um ihm Mitteilung davonzumachen. Der Leutnant, der nur sein kleines Gehalt hatte und wirklich sehr ärmlich lebte, brachte seine Gattin nach Hause und ließ sie seine ganze Wut gehörig fühlen, trotz ihres Jammerns, ihres Schreiens und ihrer kniefälligen Bitten um Verzeihung. Diese empörende Geschichte erregte überall in der Stadt nur Gelächter, und obwohl die arme Leutnantsfrau nicht zu der Gesellschaft gehörte, die sich um Julia Michajlowna geschart hatte, so fuhr doch eine exzentrische und kecke Dame aus dieser »Kavalkade«, die mit der armen Leutnantsfrau einigermaßen bekannt war, zu ihr hin und brachte sie kurzerhand zu sich in ihr Haus als Gast. Hier bemächtigten sich der Entführten sogleich unsere Wildfange; sie beschenkten sie, überhäuften sie mit Liebenswürdigkeiten und hielten sie vier Tage lang fest, ohne sie ihrem Mann zurückzugeben. Die junge Frau wohnte bei der kecken Dame, fuhr mit ihr und mit der ganzen gar zu lustigen Gesellschaft in der Stadt spazieren und nahm auch an den Vergnügungen und Tanzveranstaltungen teil. Man stachelte sie immer auf, den Mann zu verklagen und einen Skandal hervorzurufen. Man versicherte ihr, daß alle sie unterstützen und als Zeugen auftreten würden. Der Mann schwieg, da er es nicht wagte, den Kampf aufzunehmen. Doch die arme Frau sah endlich von selbst ein, daß sie sich in eine böse Geschichte verwickelt hatte, entfloh in der Dämmerung des vierten Tages von ihren Beschützern und lief halbtot vor Angst zu ihrem Leutnant zurück. Es ist nie genau bekannt geworden, was sich nun zwischen den Eheleuten abgespielt hatte, aber die beiden Fensterläden des niedrigen Holzhäuschens, in dem der Leutnant seine Wohnung inne hatte, wurden vierzehn Tage lang nicht geöffnet. Julia Michajlowna ärgerte sich sehr über die Witzbolde, als sie alles erfuhr, und war auch mit dem Benehmen der kecken Dame außerordentlich unzufrieden, obwohl diese ihr die Leutnantsfrau gleich am ersten Tage der Entführung vorgestellt hatte. Übrigens wurde diese Begebenheit sehr bald vergessen.

Ein andermal geschah es, daß ein junger Mann, der zu uns aus einem anderen Kreis gekommen war und hier eine kleine Beamtenstelle bekleidete, bei einem ebenso kleinen Beamten, einem geachteten Familienvater, sich um die Hand seiner Tochter beworben hatte. Diese, ein siebzehnjähriges, durch seine Schönheit in der ganzen Stadt bekanntes Mädchen, gab ihr Jawort, und der junge Mann wurde Bräutigam. Aber bald erfuhr man plötzlich, daß der junge Ehemann in der Hochzeitsnacht mit der schönen jungen Frau ziemlich unhöflich umgegangen war, indem er sich für die Beschimpfung seiner Ehre rächte. Liamschin, der beinahe Zeuge des Vorfalls gewesen war, da er sich bei der Hochzeit betrunken hatte und in dem Hause übernachtete, lief schon am frühen Morgen in der Stadt umher und kolportierte die lustige Nachricht. Sofort bildete sich eine Gesellschaft von ungefähr zehn Mann, die alle sofort Pferde bestiegen. Einige ritten auf gemieteten Kosakenpferden, darunter zum Beispiel auch Piotr Stepanowitsch und Liputin, der trotz seiner grauen Haare fast an allen skandalösen Abenteuern unserer leichtsinnigen jungen Leute teilnahm. Als das junge Paar in einem zweispännigen Wagen auf der Straße erschien, um Besuche zu machen, die ganz unabhängig von allen Zufälligkeiten und unter allen Umständen nach einmal eingeführter Sitte gleich am nächsten Tage nach der Hochzeit obligatorisch waren, da umringte die ganze Reiterschar den Wagen mit fröhlichem Gelächter und begleitete ihn den ganzen Vormittag über durch die Stadt. In die Häuser gingen die Taugenichtse allerdings nicht mit hinein und warteten auf ihren Pferden vor den Toren; auch irgendeine besondere Beleidigung des jungen Ehemannes oder der jungen Frau ließen sie sich nicht zuschulden kommen, aber sie riefen trotzdem ein skandalöses Aufsehen hervor. Die ganze Stadt sprach nunmehr davon. Natürlich lachten alle. Aber hier wurde Herr von Lembke ärgerlich und hatte mit Julia Michajlowna wieder eine erregte Auseinandersetzung. Auch diese war ebenfalls sehr aufgebracht und nahm sich sogar vor, den spottlustigen jungen Leuten ihr Haus zu verbieten. Aber schon am nächsten Tage verzieh sie ihnen allen auf Zureden von Piotr Stepanowitsch und auf einige Worte von Karmasinow hin. Dieser fand den »Scherz« recht witzig.

»Das liegt doch in den hiesigen Sitten,« sagte er, »wenigstens ist es charakteristisch und ... kühn. Sehen Sie, alle lachen darüber, und ... Sie sind die einzige, die sich empört.«

Aber es kamen auch andere Streiche vor, die schon ganz unerträglich waren und eine bestimmte, unmögliche Färbung trugen.

Es erschien in der Stadt eine Bücherverkäuferin, die Neue Testamente verbreitete, eine achtenswerte Frau, wennwohl auch nur kleinbürgerlicher Abstammung. Sie zog die Aufmerksamkeit unserer Gesellschaft auf sich, weil soeben in den hauptstädtischen Zeitungen interessante Mitteilungen über diese Bücherverkäuferinnen gestanden hatten. Und es war wiederum derselbe Schalk Liamschin, der mit der Hilfe eines Seminaristen, der auf eine Lehrerstelle in der Schule wartete und sich bis dahin müßig umhertrieb, einen üblen Streich spielte. Die beiden stellten sich so, als wollten sie von der Frau Bücher kaufen und praktizierten ihr dabei heimlich in ihren Sack ein ganzes Päckchen verführerischer, unsittlicher Photographien aus dem Ausland, die, wie man später erfuhr, eigens zu diesem Zwecke ein hiesiger hochangesehener alter Herr ihnen gegeben hatte. Den Namen dieses Herrn lasse ich weg, aber er trägt einen hohen Orden am Halse und liebt, seinen eigenen Worten zufolge, »ein gesundes Lachen und einen heiteren Scherz«. Als die arme Frau später auf dem Markt die frommen Bücher hervorholte, da fielen auch die Photographien heraus. Es erhob sich ein Gelächter und ein Gemurre; um die Verkäuferin sammelte sich eine dichte Menschenmenge; man begann zu schimpfen, und es wäre vielleicht auch zu einer Prügelei gekommen, wenn nicht die Polizei rechtzeitig eingegriffen hätte. Die Bücherverkäuferin wurde verhaftet und erst am Abend wieder freigesetzt und aus der Stadt verwiesen. Aber sie wäre wohl noch lange in Haft geblieben, wenn nicht Mawrikij Nikolajewitsch, der mit Widerwillen und Entrüstung die geheimen Einzelheiten dieser häßlichen Geschichte erfahren hatte, sich für sie eingesetzt hätte. Nach diesem Geschehnis war Julia Michajlowna fest entschlossen, Liamschin fortzujagen; aber noch am selben Abend brachte ihn ein Schwärm anderer junger Leute zu ihr mit der Nachricht, er habe ein neues, besonderes Klavierkunststückchen ersonnen und überredeten sie, es wenigstens mit anzuhören. Das Musikstück erwies sich in der Tat als sehr amüsant und hatte den komischen Titel: »Der französisch-preußische Krieg«. Es begann mit den drohenden Klängen der Marseillaise:

»Qu'un sang impur abreuve nos sillons.«

Man hörte eine pathetische Herausforderung, das Berauschtsein an künftigen Siegen. Aber plötzlich ertönten gleichzeitig mit der meisterhaft variierten Hymne irgendwo seitwärts, unten, ganz im Winkel, aber doch sehr nahe, die widerlichen Klänge von »Mein lieber Augustin«. Die Marseillaise schien diese Klänge nicht zu bemerken. Die Marseillaise erreichte den Gipfelpunkt des Berauschtseins an der eigenen Größe; aber auch »Augustin« wurde stärker, »Augustin« wurde immer dreister, und da mit einemmal begannen seine Takte unerwartet mit den Takten der Marseillaise zusammenzufallen. Die Marseillaise fängt offenbar an ärgerlich zu werden. »Augustin« fällt ihr endlich auf, sie will ihn verjagen, vertreiben wie eine zudringliche, winzige Fliege, aber »mein lieber Augustin« ist bereits zu fest geworden; er ist jetzt froh und selbstbewußt, vergnügt und frech, die Marseillaise aber benimmt sich auf einmal schrecklich dumm: sie verbirgt schon gar nicht mehr, daß sie gereizt ist und sich beleidigt fühlt; was man nunmehr hört, ist schon ein Geheul der Entrüstung, das sind Tränen und Schwüre mit gen Himmel ausgestreckten Händen:

»Pas un pouce de notre terrain, pas une pierre de nos forteresses.«

Aber schon ist die Marseillaise gezwungen, mit »mein lieber Augustin« in demselben Takte zu singen. Ihre Klänge gleiten in der dümmsten Weise in die Melodie des »Augustin« über, sie fügt sich, sie erlischt. Nur ganz selten, wie ein Aufflackern, hört man wieder: »qu'un sang impur ...« Aber sofort springt auch das über in den gemeinen Augustinwalzer. Nun fügt sie sich vollständig: das ist Jules Favre, der an der Brust des siegreichen Bismarck schluchzt und alles hingibt, alles, alles ... Aber hier wird auch der »Augustin« grimmig: man hört heisere Ausrufe, man fühlt förmlich die maßlosen Mengen des getrunkenen Bieres, die Raserei der Selbstüberhebung, die Forderung von Milliarden, von feinen Zigarren, von Champagner und Geiseln ... »Augustin« geht in ein ungeheuerliches Gebrüll über ... Der französisch-preußische Krieg ist zu Ende ...

Die Unsrigen klatschten Beifall. Julia Michajlowna lächelte und sagte: »Wie soll man einen solchen Kerl bloß wegjagen?« Der Friede war geschlossen.

Dieser Lump hatte tatsächlich ein bißchen Talent. Stepan Trofimowitsch versicherte mir einmal, daß selbst die größten Künstler mitunter die größten Schufte sein könnten, und daß eins dem anderen durchaus nicht im Wege stehe. Später tauchte allerdings das Gerücht auf, Liamschin habe dieses Musikstück einem talentierten, bescheidenen jungen Mann gestohlen, der sich auf der Durchreise befand, und dessen Autorschaft unbekannt geblieben sei; aber dies nur nebenbei. Dieser Lump, der einige Jahre hindurch um Stepan Trofimowitsch herumgeschwänzelt und auf dessen Abendgesellschaften, je nach Wunsch, entweder verschiedene Juden, oder die Beichte einer tauben Frau, oder die Geburt eines Kindes dargestellt hatte, dieser selbe Kerl karikierte jetzt bei Julia Michajlowna in recht amüsanter Weise unter anderem auch Stepan Trofimowitsch selbst, und zwar unter dem Titel: »Ein Liberaler der vierziger Jahre.« Alle wälzten sich förmlich vor Lachen, so daß es schließlich unmöglich war, ihn fortzujagen: er wurde ganz unentbehrlich. Zudem bemühte er sich geradezu sklavisch um Piotr Stepanowitschs Gunst, und dieser hatte zu jener Zeit bereits einen ganz sonderbar starken Einfluß auf Julia Michajlowna gewonnen.

Ich würde von diesem gemeinen Liamschin gar nicht besonders gesprochen haben, und es wäre auch gar nicht der Mühe wert, sich mit ihm aufzuhalten; aber bei uns geschah eine ganz empörende Geschichte, bei der er, wie behauptet wurde, ebenfalls seine Hand im Spiel hatte. Diese Begebenheit aber kann ich in meiner Erzählung keineswegs übergehen.

Eines Morgens lief durch die ganze Stadt die Kunde von einer unerhörten und abscheulichen Freveltat. Beim Eingang zu unserem großen Marktplatze steht die alte Kirche zu Mariä Geburt, die in unserer alten Stadt ein bemerkenswertes Altertumsdenkmal ist. Neben dem Tore der Umfassungsmauer befindet sich seit undenkbarer Zeit ein großes Bild der Mutter Gottes, das hinter einem Gitter in die Mauer eingefügt ist. Und eben dieses Bild war in der vorangehenden Nacht beraubt worden. Die Frevler hatten das vor dem Bilde angebrachte Glas zerschlagen, das Gitter zerbrochen und aus der Krone sowohl als auch aus den Gewändern der Mutter Gottes einige Edelsteine und Perlen gestohlen. Ob das Entwendete sehr großen Wert besaß, kann ich nicht sagen. Aber die Hauptsache war, daß die Schurken außer dem Raub noch eine ganz sinnlos verhöhnende Freveltat begangen hatten: hinter dem zerschlagenen Glase des Heiligenbildes wurde, wie man sagt, am Morgen eine lebende Maus gefunden. Es ist jetzt, vier Monate nach dem Ereignis, mit Bestimmtheit bekannt, daß das Verbrechen von Fedka dem Sträfling begangen worden war, aber aus irgendeinem Grunde ist man der Ansicht, daß auch Liamschin daran beteiligt war. Damals sprach noch kein Mensch von ihm, und niemand hegte einen Verdacht gegen ihn; jetzt aber behaupten alle fest, er sei es gewesen, der damals die Maus hineingesetzt hatte. Ich erinnere mich, daß bei dem Bekanntwerden der Tat unsere ganze Obrigkeit ein wenig den Kopf verloren hatte. Dichte Menschenhaufen drängten sich vom Morgen an am Tatort. Es waren stets wenigstens hundert Menschen da. Die einen kamen, die anderen gingen fort. Die Kommenden traten heran, bekreuzten sich und küßten das Bild; einige begannen Spenden zu geben, und nun erschien ein Opferbecken und mit ihm ein Mönch. Erst um drei Uhr nachmittags fiel es der Behörde ein, daß man den Menschen befehlen könnte, nicht auf einem Haufen stehen zu bleiben, sondern nach einem kurzen Gebet, einem Küssen des Bildes und nach der Abgabe der Spende weiterzugehen. Auf Herrn von Lembke hatte dieser unglückliche Vorfall den finstersten Eindruck gemacht. Julia Michajlowna äußerte sich später, wie mir erzählt wurde, daß sie seit diesem unseligen Morgen an ihrem Gatten jene seltsame Niedergeschlagenheit bemerkt hatte, die dann von ihm nicht wieder wich bis zu seiner Abreise aus unserer Stadt, die vor etwa zwei Monaten aus Gesundheitsrücksichten erfolgte. Ich glaube, er befindet sich jetzt in der Schweiz, wo er sich nach seiner kurzen Amtstätigkeit in unserem Gouvernement immer noch erholt, und seine Frau ist bei ihm.

Ich erinnere mich, daß ich damals gegen ein Uhr mittags auf den Marktplatz kam; die Menschenmenge verhielt sich schweigsam, und alle machten ernste, finstere Gesichter. Gerade in diesem Augenblick kam in einem Wagen ein feister Kaufmann herbeigefahren, der eine auffallend gelbliche Gesichtsfarbe hatte. Er stieg aus, verbeugte sich bis zur Erde, küßte das Bild, gab dem Mönch einen Rubel, stieg ächzend wieder in sein Gefährt und fuhr davon. Gleich nach ihm erschien eine Kutsche mit zwei unserer Damen, die sich in Begleitung zweier Taugenichtse befanden. Die jungen Leute, von denen einer übrigens gar nicht mehr so jung war, stiegen ebenfalls aus und drängten sich zum Heiligenbild durch, indem sie das Volk ziemlich verächtlich zur Seite schoben. Keiner von ihnen entblößte den Kopf, und der eine setzte sich sogar seinen Kneifer auf. Die Menge begann zu murren, zwar noch leise, aber doch recht unfreundlich. Der Held im Kneifer entnahm seinem Geldbeutel, der mit Banknoten vollgestopft war, eine kupferne Kopeke und warf sie in das Opferbecken; dann kehrten beide lachend und laut redend zu dem Wagen zurück. In diesem Augenblick sprengte in Begleitung Mawrikij Nikolajewitschs Lisaweta Nikolajewna herbei. Sie sprang vom Pferd, warf den Zügel ihrem Begleiter zu, der auf ihren Befehl im Sattel blieb, und näherte sich dem Heiligenbilde gerade als in das Opferbecken die Kopeke geworfen wurde. Eine dichte Röte der Entrüstung übergoß ihre Wangen; sie nahm ihren runden Hut ab, zog die Handschuhe aus, fiel vor dem Heiligenbilde einfach auf dem schmutzigen Bürgersteig auf die Knie und verbeugte sich ehrfurchtsvoll dreimal bis zur Erde. Dann holte sie ihr Portemonnaie heraus, aber da sie darin nur ein paar Zehnkopekenstücke fand, nahm sie flugs ihre Brillantohrringe aus den Ohren und legte sie in das Becken.

»Darf man das? Ja? Zur Ausschmückung der Gewänder?« fragte sie ganz aufgeregt den Mönch.

»Es ist erlaubt«, antwortete dieser. »Jede gute Gabe kommt von oben her.«

Das Volk schwieg und brachte weder seine Billigung noch seinen Tadel zum Ausdruck. Lisaweta Nikolajewna stieg in ihrem schmutzigen Kleid wieder in den Sattel und sprengte davon.

2

Zwei Tage nach dem soeben erzählten Vorfall begegnete ich ihr in einer zahlreichen Gesellschaft, die sich in drei Wagen irgendwohin begab und von einer ganzen Schar von Reitern umgeben war. Sie winkte mich mit der Hand heran, ließ den Wagen halten und forderte mich nachdrücklichst auf, mich der Gesellschaft anzuschließen. Im Wagen fand sich noch ein Platz, und ich stieg hinein. Sie stellte mich lachend ihren Begleiterinnen, reich gekleideten Damen, vor und erklärte mir, daß sie alle sich auf eine außerordentlich interessante Expedition begäben. Sie lachte sehr laut und schien überhaupt etwas übermäßig glücklich zu sein. In der letzten Zeit hatte sich ihrer eine Heiterkeit bemächtigt, die schon an Ausgelassenheit grenzte. Allerdings war das Unternehmen recht auffallend: alle begaben sich über den Fluß nach dem Hause des Kaufmanns Sewastianow, bei dem im Nebengebäude schon seit etwa zehn Jahren ruhig, zufrieden und behaglich unser gottbegnadeter und prophezeiender Semion Jakowlewitsch lebte, der nicht nur bei uns, sondern auch in den benachbarten Gouvernements und sogar in beiden Hauptstädten berühmt war. Fast alle besuchten ihn, besonders Fremde, um aus dem Munde des Narren in Christo ein Wort zu hören, ihm seine Verehrung zu bezeugen und ihm etwas zu spenden. Die mitunter sehr beträchtlichen Gaben wurden, wenn Semion Jakowlewitsch nicht sofort selbst darüber verfügte, frommerweise einem Gotteshaus überwiesen, und zwar meistens unserem Bogorodskij-Kloster. Aus diesem Grunde entsandte das Kloster stets einen Mönch, der bei Semion Jakowlewitsch gewissermaßen Dienst tat. Alle, die mit uns fuhren, erwarteten, daß sie sich gut amüsieren würden. Noch niemand aus dieser Gesellschaft hatte Semion Jakowlewitsch je gesehen. Nur Liamschin war früher einmal bei ihm gewesen und erzählte, der Prophet hätte damals befohlen, ihn mit dem Besen wegzujagen und habe ihm sogar eigenhändig zwei große gekochte Kartoffeln nachgeworfen. Unter den Reitern bemerkte ich auch Piotr Stepanowitsch, der wieder auf einem gemieteten Kosakenpferde saß und sich übrigens sehr schlecht im Sattel hielt, und Nikolaj Wsewolodowitsch, ebenfalls zu Pferde. Dieser schloß sich mitunter von den gemeinsamen Vergnügungen nicht aus und zeigte bei solchen Gelegenheiten stets eine angemessene, heitere Miene, obwohl er immer noch sehr selten und nur wenig redete. Als sich die ganze Gesellschaft auf dem Wege zur Brücke dem städtischen Gasthaus genähert hatte, machte jemand plötzlich die Mitteilung, daß dort, in einem der Zimmer, soeben ein Fremder gefunden worden sei, der sich erschossen habe, und daß man bereits auf die Polizei warte. Sofort regte sich in einigen der Wunsch, den Selbstmörder anzusehen. Dieser Gedanke fand Zustimmung: unsere Damen hatten noch nie jemand gesehen, der selbst Hand an sich gelegt hatte. Ich erinnere mich noch, daß eine von ihnen offen und ungeniert erklärte, »alles sei schon so langweilig, daß man in Zerstreuungen nicht wählerisch sein dürfe, wenn sie nur interessant seien«. Nur wenige von uns blieben vor der Haustür und warteten. Alle übrigen betraten in dichtem Schwarm den unsauberen Flur, und unter ihnen war zu meiner Verwunderung auch Lisaweta Nikolajewna. Das Zimmer des Selbstmörders stand offen, und man hatte es natürlich nicht gewagt, uns den Eintritt zu verwehren. Der Tote war ein sehr junger, höchstens neunzehnjähriger Knabe von übrigens sehr hübschem Äußeren, mit dichtem, blondem Haar, ovaler Gesichtsform und reiner, schöner Stirn. Er war schon erstarrt, und sein weißes Gesichtchen schien wie aus Marmor gehauen zu sein. Auf dem Tisch lag ein von seiner Hand geschriebener Zettel, in dem er mitteilte, daß niemand die Schuld an seinem Tode trage, und daß er sich erschieße, weil er vierhundert Rubel »verjubelt« habe. Das Wort »verjubelt« hatte er selbst gewählt: in den vier Zeilen, die er hinterlassen hatte, fanden sich drei orthographische Fehler. Über dem Toten stand irgendein dicker Gutsbesitzer, anscheinend sein Nachbar von zu Hause, der jetzt in demselben Gasthause logierte. Der Mann ächzte und stöhnte. Aus seinen Mitteilungen war zu entnehmen, daß der junge Mensch von seiner Familie, das heißt von seiner verwitweten Mutter, von seinen Schwestern und Tanten aus ihrem Dorfe nach der Stadt geschickt war, um dort, unter der Leitung einer in der Stadt wohnenden Verwandten verschiedene Einkäufe für die Aussteuer der ältesten Schwester, die bald heirate, zu machen, und die Sachen nach Hause zu bringen. Man vertraute ihm diese vierhundert Rubel an, die durch Jahrzehnte hindurch nach und nach gespart waren, stöhnte bei seiner Abreise vor Angst, gab ihm endlose Ermahnungen mit auf den Weg und betete und bekreuzte ihn unzählige Male. Der Knabe war bis dahin stets bescheiden und zuverlässig gewesen. Als er vor drei Tagen in die Stadt kam, ging er gar nicht zu der Verwandten, sondern stieg in dem Gasthaus ab und begab sich geradeswegs in einen Klub, in der Hoffnung, irgendwo in einem Hinterzimmer entweder einen auswärtigen Bankhalter oder wenigstens ein Mauschelspiel zu finden. Aber gemauschelt wurde an jenem Abend nicht, und es war auch kein Bankhalter da. Als er gegen Mitternacht in sein Zimmer zurückkehrte, ließ er sich Champagner und Havannazigarren geben und bestellte sich ein Abendbrot von sechs oder sieben Gängen. Aber vom Champagner wurde er betrunken, und von den Zigarren überkam ihn eine Übelkeit, so daß er die aufgetragenen Gerichte gar nicht angerührt, sondern sich fast bewußtlos schlafen gelegt hatte. Am nächsten Morgen erwachte er frisch und munter, wie ein eben abgepflücktes Äpfelchen, und begab sich sofort zu einer jenseits des Flusses in der Vorstadt kampierenden Zigeunerbande, von der man ihm tags zuvor im Klub erzählt hatte. Danach ließ er sich zwei Tage im Gasthause nicht sehen. Endlich, gestern um fünf Uhr nachmittag, kam er wieder in sein Zimmer. Da er aber etwas angeheitert war, legte er sich sofort schlafen und schlief bis zehn Uhr abends. Nachdem er wieder aufgewacht war, mußte ihm ein Kotelett, eine Flasche Château d'Yquem, Weintrauben, sowie Papier, Feder und Tinte gebracht werden. Niemand bemerkte an ihm etwas Besonderes: er war ruhig, still und freundlich gewesen. Wahrscheinlich hatte er sich noch gegen Mitternacht erschossen, obwohl es seltsam war, daß niemand den Schuß gehört hatte und daß man es erst heute Mittag entdeckte, als man, nachdem man an seiner Tür vergeblich geklopft hatte, diese aufbrechen ließ. Die Flasche Château d'Yquem stand nur zur Hälfte geleert da, und auch der Teller mit den Weintrauben war noch zur Hälfte voll. Der Schuß war aus einem kleinen, dreiläufigen Revolver getan und hatte gerade das Herz getroffen. Es schien nur sehr wenig Blut aus der Wunde geflossen zu sein; der Revolver war dem Selbstmörder aus der Hand gefallen und lag auf dem Teppich daneben. Der junge Mann selbst saß halb liegend in der Sofaecke. Der Tod war wahrscheinlich augenblicklich eingetreten; auf dem Gesichte des Jünglings ließ sich keine Spur von irgendeinem Todeskampf bemerken, im Gegenteil: seine Züge waren ruhig, beinahe glücklich, wie wenn er rechte Freude am Leben gehabt hätte. Alle, die mit uns hereinkamen, betrachteten ihn mit einer gierigen Neugier. Überhaupt liegt in jedem Unglück des Nächsten stets etwas, was ein fremdes Auge erfreut, wer auch dieser Unbeteiligte sein mag. Unsere Damen verhielten sich schweigend, ihre Begleiter aber suchten sich durch scharfsinnige Bemerkungen und besondere Geistesgegenwart hervorzutun. Einer von ihnen bemerkte, daß dies der beste Ausweg gewesen sei und daß der junge Mann überhaupt nichts Verständigeres hätte ersinnen können. Ein anderer erklärte, daß er wenigstens eine kurze Zeit so gelebt hätte, wie es ihm gepaßt hatte. Ein dritter platzte plötzlich mit der Frage heraus, warum bei uns in der letzten Zeit das Sicherhängen und Sicherschießen so häufig geworden war, daß es den Anschein erweckte, als wären die Menschen entwurzelt, oder als hätten sie überhaupt den Boden unter den Füßen verloren. Der Mann, der mit diesen Betrachtungen hervorgetreten war, wurde von allen schief angesehen. Dagegen aber tat sich Liamschin, der es sich überhaupt zur Ehre anrechnete, die Rolle eines Narren zu spielen, auf eine ihm eigene Art hervor, indem er eine Weintraube von dem Teller herunterstahl. Nach ihm tat ein zweiter lachend dasselbe und ein dritter streckte schon seine Hand nach dem Château d'Yquem aus. Aber er wurde daran gehindert, und zwar von dem Polizeimeister, der gerade in diesem Augenblick eintrat und uns sogar ersuchte, »das Zimmer zu räumen«. Da alle bereits genug gesehen hatten, gingen sie sofort widerspruchslos heraus, obwohl Liamschin schon mit dem Polizeimeister angebunden hatte. Die allgemeine Heiterkeit, das Lachen und die munteren Gespräche hatten sich danach, während der zweiten Hälfte des Weges, beinah verdoppelt.

Als wir bei Semion Jakowlewitsch ankamen, war es gerade sieben Uhr. Die Tore des ziemlich großen Kaufmannshauses standen weit offen, und der Zugang zu dem Nebengebäude war frei. Sofort erfuhren wir, daß Semion Jakowlewitsch gerade zu Mittag zu essen geruhe, aber trotzdem Besuch empfange. Unsere ganze Schar trat zugleich ein. Das Zimmer, in dem der Narr in Christo empfing und speiste, war ziemlich geräumig, hatte drei Fenster und war durch ein fast bis zum Gürtel reichendes Holzgitter, das von einer Wand quer zur anderen lief, in zwei gleiche Teile getrennt. Die gewöhnlichen Besucher blieben jenseits des Gitters stehen; die Glückspilze aber wurden auf Anweisung des Gottesmannes durch ein Türchen im Gitter in seine Zimmerhälfte hereingelassen. Er bot ihnen dort sogar einen Platz an, wenn er es gerade wollte, und zwar entweder auf seinem alten Ledersessel oder auf dem Sofa. Er selbst aber saß stets und ständig in einem alten, abgescheuerten Lehnsessel. Er war ein ziemlich großer, aufgedunsener Mann mit gelblicher Gesichtsfarbe von etwa fünfundfünfzig Jahren mit blondem, dünnem Haar und einer Glatze, mit rasiertem Gesicht, geschwollener rechter Backe und einem schief aussehenden Munde, mit einer großen Warze am linken Nasenflügel, kleinen, schmalen Augen und einem ruhigen, gesetzten, verschlafenen Gesichtsausdruck. Gekleidet war er wie ein Deutscher in einen schwarzen Gehrock, trug aber keine Weste und keine Halsbinde. Unter dem Rocke schaute ein ziemlich derbes, aber weißes Hemd hervor, und seine Füße, die, glaube ich, krank waren, steckten in Pantoffeln. Ich hörte, daß er einmal ein Beamter gewesen sei und einen Rang habe. Er hatte soeben eine leichte Fischsuppe gegessen und machte sich nun an sein zweites Gericht: Pellkartoffeln mit Salz. Etwas anderes aß er überhaupt niemals und trank nur viel Tee, den er sehr gern hatte. Um ihn waren drei Diener beschäftigt, die ihm der Kaufmann hielt: einer von ihnen war im Frack, der zweite sah wie ein Arbeiter aus und der dritte wie ein Kirchendiener. Ferner diente ihm ein sechzehnjähriger, sehr munter dreinschauender Knabe. Außer der Dienerschaft erblickten wir noch einen ehrwürdigen, grauhaarigen, nur etwas zu wohlbeleibten Mönch mit einer Sammelbüchse. Auf einem der Tische siedete ein gewaltiger Samowar, und es stand dort auch ein Tablett mit beinah zwei Dutzend Gläsern. Auf einem anderen, gegenüberstehenden Tisch lagen die erhaltenen Gaben: mehrere Hüte sowie auch einige einzelne Pfunde Zucker, ungefähr zwei Pfund Tee, ein Paar gestickte Pantoffeln, ein seidenes Taschentuch, ein Stück Tuch, ein Ballen Leinwand und dergleichen mehr. Geldspenden kamen fast durchweg in die Sammelbüchse des Mönchs. Das Zimmer war beinah voll: schon allein an Besuchern fanden wir da fast ein Dutzend vor, von denen zwei bei Semion Jakowlewitsch auf seiner Seite des Gitters saßen. Das waren: ein grauhaariger, alter Wallfahrer aus dem Volke und ein kleiner, magerer auswärtiger Mönch, der sehr manierlich dasaß und zu Boden blickte. Alle anderen Besucher standen auf der anderen Seite des Gitters. Auch sie gehörten zum größten Teil dem einfachen Volke an, mit Ausnahme eines dicken, bärtigen Kaufmanns, der aus der Kreisstadt gekommen war, russische Volkstracht trug, aber als ein schwerreicher Mann bekannt war, ferner einer bejahrten, armen adligen Dame, und drittens eines Gutsbesitzers. Alle warteten auf ihr Glück und wagten es nicht, selbst zuerst zu reden. Etwa vier Mann knieten; am meisten von ihnen erregte unsere Aufmerksamkeit der Gutsbesitzer, ein dicker Mann von etwa fünfundvierzig Jahren. Er kniete dicht am Gitter an einer dem Gottesmenschen besonders sichtbaren Stelle und wartete andächtig auf ein gnädiges Wort oder einen wohlwollenden Blick von Semion Jakowlewitsch. In dieser Stellung verharrte er schon fast eine Stunde lang, ohne daß ihn der andere bemerkte.

Unsere Damen drängten sich heiter und spöttisch tuschelnd am Gitter zusammen. Sie schoben die Knienden und alle anderen Besucher einfach zur Seite oder traten auch vor sie hin. Nur der dicke Gutsbesitzer blieb hartnäckig an seinem Platze und hielt sich sogar mit den Händen am Gitter fest. Heitere und neugierig gespannte Blicke, sowie auch Lorgnetten, Kneifer, ja sogar Operngläser richteten sich auf Semion Jakowlewitsch; Liamschin wenigstens musterte ihn durch ein Opernglas. Semion Jakowlewitsch übersah die ganze Gesellschaft ruhig und lässig mit seinen kleinen Äuglein.

»Ihr Schönblicker! Ihr Schönblicker!« geruhte er mit seiner heiseren Stimme gleichsam aufrufend auszusprechen.

Alle Unsrigen fingen an zu lachen: »Was heißt das: Schönblicker?«

Aber Semion Jakowlewitsch versank in Schweigen und aß seine Kartoffeln zu Ende. Schließlich wischte er sich mit einer Serviette den Mund ab, und man reichte ihm Tee.

Diesen trank er gewöhnlich nicht allein, sondern ließ auch den Besuchern einschenken, aber bei weitem nicht allen, und bezeichnete gewöhnlich selbst diejenigen von ihnen, die beglückt werden sollten. Seine diesbezüglichen Anordnungen überraschten stets durch ihre völlig unberechenbare Art. So befahl er mitunter, indem er die Reichen und Vornehmen einfach übersah, den Tee irgendeinem Bauer oder einer alten armen Frau zu geben; ein andermal überging er das unvermögende Volk und ließ irgendeinem fetten, reichen Kaufmann einschenken. Aber auch gereicht wurde der Tee in verschiedener Weise: die einen erhielten ihn gesüßt, die anderen bekamen ein Stückchen Zucker zum Abbeißen dazu, und wieder andere mußten ihren Tee ganz ohne Zucker trinken. Diesmal waren die Glücklichen: erstens der fremde, magere Mönch, der ein Glas gesüßten Tees bekam, und dann der alte Wallfahrer, dem er ganz ohne Zucker gegeben wurde. Dem dicken Mönch aber, der mit seiner Sammelbüchse dastand, ließ der Gottesmensch diesmal aus unverständlichen Gründen überhaupt keinen Tee reichen, obwohl er ihn sonst jeden Tag mit einem Glas bedacht hatte.

»Semion Jakowlewitsch, sagen Sie mir doch bitte etwas. Es war schon längst mein Wunsch, Ihre Bekanntschaft zu machen«, ließ sich in singendem Ton mit einem koketten Lächeln und ein wenig zusammengekniffenen Augen jene elegante Dame aus unserem Wagen vernehmen, die vorhin die Bemerkung gemacht hatte, daß man in der Frage der Zerstreuungen nicht wählerisch sein dürfe, und daß es lediglich darauf ankomme, ob sie wirklich amüsant wären.

Semion Jakowlewitsch sah sie nicht einmal an. Der kniende Gutsbesitzer seufzte tief und laut auf, so daß es klang, wie wenn ein großer Blasebalg in Bewegung gesetzt worden wäre.

»Gesüßt!« rief plötzlich Semion Jakowlewitsch und wies auf den schwerreichen Kaufmann. Dieser trat vor und stellte sich neben den Gutsbesitzer.

»Gib ihm noch Zucker!« befahl Semion Jakowlewitsch, als das Glas schon eingeschenkt war. Es wurde noch eine Portion Zucker hineingetan.

»Noch mehr, gib ihm noch mehr!«

Nun wurde der Tee zum dritten- und dann noch zum viertenmal gesüßt. Der Kaufmann begann widerspruchslos seinen Syrup zu trinken.

»Herrgott!« erklang ein Flüstern im Volke, und die meisten bekreuzten sich. Der Gutsbesitzer seufzte wieder laut und tief auf.

»Väterchen! Semion Jakowlewitsch!« ertönte auf einmal die kummervolle, aber unerwartet scharf klingende Stimme der ärmlichen alten Dame, die von uns an die Wand gedrängt worden war. »Eine ganze Stunde warte ich schon auf deine Wohltat, Bester! Sprich doch mein Urteil, entscheide das Schicksal der Ärmsten.«

»Frage sie!« befahl Semion Jakowlewitsch dem Kirchendiener. Dieser trat an das Gitter heran.

»Haben Sie den Befehl erfüllt, den Ihnen Semion Jakowlewitsch das vorige Mal gegeben hat?« fragte er die Witwe leise und gemessen.

»Wie konnte ich wohl, Väterchen Semion Jakowlewitsch, deinen Befehl ausführen, wenn man mit solchen Menschen zusammenlebt!« heulte die Witwe auf. »Menschenfresser sind es! Die haben gegen mich beim Gericht Klage erhoben und drohen, daß sie es bis zur höchsten Instanz treiben werden! So gehen die gegen ihre leibliche Mutter vor!«

»Gib ihr! ...« sagte Semion Jakowlewitsch und wies auf einen Hut Zucker hin. Der Knabe sprang herzu, nahm die Gabe und trug sie zu der Witwe.

»Ach, Väterchen, groß ist deine Gnade! Was soll ich denn mit soviel?« rief die Witwe wieder.

»Noch mehr noch mehr!« beschenkte sie Semion Jakowlewitsch weiter.

Man brachte ihr noch einen Hut Zucker.

»Noch mehr!« befahl der Narr in Christo, und es wurde ein dritter und schließlich ein vierter hingetragen. Die Witwe war nunmehr von allen Seiten mit Zuckerhüten umstellt. Der dicke Mönch seufzte; all das hätte sonst heute noch ins Kloster gebracht werden können, wie das früher schon wiederholt geschehen war.

»Aber was soll ich denn mit soviel Zucker?« ächzte die Witwe demütig. »Es wird mir doch übel werden, wenn ich das allein vertilgen soll! ... Ist das vielleicht eine Prophezeiung, Väterchen?«

»Das ist es in der Tat«, sagte jemand in der Menge.

»Gib ihr noch ein Pfund, noch eins!« fuhr Semion Jakowlewitsch fort.

Auf dem Tisch stand noch ein ganzer Zuckerhut, aber Semion Jakowlewitsch befahl, ihr noch ein Pfund zu geben, und so gab man denn der Witwe nur ein Pfund.

»Herrgott, Herrgott!« seufzte das Volk und bekreuzte sich. »Eine deutliche Prophezeiung!«

»Versüßen Sie zuerst Ihr Herz mit Güte und Gnade, und erst dann dürfen. Sie hierherkommen, um sich über Ihre eigenen Kinder zu beklagen, die doch Bein von Ihrem Bein sind! Das ist es, was dieses Sinnbild wahrscheinlich bedeutet!« sagte der dicke, mit dem Tee übergangene Mönch aus dem Kloster, leise aber selbstzufrieden, der in einem Anfall gereizter Eitelkeit die Ausdeutung des Vorfalls auf sich genommen hatte.

»Was redest du da, Väterchen!« erwiderte die Witwe, die auf einmal ärgerlich wurde. »Sie haben mich mit einem Fangstrick ins Feuer schleppen wollen, als es bei Werchischins brannte. Sie haben mir eine tote Katze in meinen Kasten gelegt; sie sind ja einfach zu jeder Schandtat bereit ...«

»Jagt sie weg, jagt sie weg!« rief mit einemmal Semion Jakowlewitsch und begann dazu mit den Händen herumzufuchteln.

Der Kirchendiener und der Knabe stürzten sich auf die Witwe. Der Kirchendiener nahm sie unter den Arm; sie wurde mit einemmal wieder ruhiger und ging willig mit zur Tür, wobei sie sich nach den ihr geschenkten Hüten Zucker umsah. Aber der Knabe schleppte ihr das Geschenk nach.

»Einen wegnehmen, nimm ihr einen weg!« befahl Semion Jakowlewitsch dem neben ihm zurückgebliebenen Diener, der wie ein Arbeiter aussah. Dieser eilte den Hinausgehenden nach. Bald darauf kehrten alle drei Diener wieder zurück und brachten einen Hut Zucker mit, der der Witwe zuerst geschenkt und jetzt wieder abgenommen wurde. Drei Hüte Zucker gelang es ihr dennoch mit sich fortzutragen.

»Semion Jakowlewitsch«, erklang plötzlich eine Stimme von hinten, ganz von der Tür her. »Es träumte mir von einem Vogel, von einer Dohle; die kam aus dem Wasser herausgeflogen und flog ins Feuer. Was soll dieser Traum bedeuten?«

»Frost«, erwiderte Semion Jakowlewitsch.

»Semion Jakowlewitsch, warum antworten Sie mir denn nicht? Ich interessiere mich doch schon so lange für Sie!« begann unsere Dame wieder.

»Frage ihn!« sagte Semion Jakowlewitsch, ohne auf sie zu hören, indem er plötzlich auf den knienden Gutsbesitzer wies.

Der Mönch aus dem Kloster, an den der Befehl diesmal gerichtet war, näherte sich gemessenen Schritts dem Gutsbesitzer.

»Womit haben Sie gesündigt? Und war Ihnen nicht befohlen, etwas auszuführen?«

»Ich sollte die Schlägereien sein lassen; ich sollte meine Hände im Zaum halten«, erwiderte der Gutsbesitzer mit heiserer Stimme.

»Haben Sie es ausgeführt?« fragte der Mönch.

»Es ist mir nicht möglich gewesen. Meine eigene Kraft überwältigt mich.«

»Jagt ihn fort! Jagt ihn fort! Mit dem Besen! Mit dem Besen!« rief Semion Jakowlewitsch und fuchtelte wieder stark mit den Händen herum.

Der Gutsbesitzer wartete die Ausführung dieses Befehls gar nicht erst ab, sprang auf und lief aus dem Zimmer hinaus.

»Er hat auf seinem Platz ein Goldstück zurückgelassen«, verkündete der Mönch und hob die Münze vom Boden.

»Der da soll es haben«, erwiderte Semion Jakowlewitsch und wies auf den schwerreichen Kaufmann hin. Dieser wagte nicht zu widersprechen und nahm das Goldstück hin.

»Das Gold kommt zum Golde!« bemerkte der Mönch aus dem Kloster, der sich nicht mehr beherrschen konnte.

»Diesem da gesüßt!« befahl plötzlich Semion Jakowlewitsch und wies auf Mawrikij Nikolajewitsch hin. Der Diener schenkte den Tee ein und reichte ihn versehentlich dem Stutzer mit dem Kneifer.

»Dem Langen, dem Langen!« berichtigte Semion Jakowlewitsch.

Mawrikij Nikolajewitsch nahm das Glas entgegen, machte eine militärische Halbverbeugung und begann zu trinken. Ich weiß nicht warum, aber die Unsrigen wollten sich vor Lachen förmlich ausschütten.

»Mawrikij Nikolajewitsch!« wandte sich auf einmal Lisa an ihn. »Der Herr, der da eben gekniet hat, ist weggegangen; knien Sie an seiner Stelle nieder!«

Mawrikij Nikolajewitsch sah sie erstaunt an.

»Ich bitte Sie darum; Sie werden mir damit ein großes Vergnügen bereiten. Hören Sie, Mawrikij Nikolajewitsch«, begann sie plötzlich hastig, hartnäckig eigensinnig und sehr eifrig, »Sie müssen unbedingt niederknien! Ich will unter allen Umständen sehen, wie Sie da knien werden. Wenn Sie es nicht tun, dann brauchen Sie nie wieder zu mir zu kommen. Knien Sie nieder! Ich will es unbedingt, um jeden Preis! ...«

Ich weiß nicht, was sie damit erreichen wollte; aber sie forderte es von ihm mit einer unerbittlichen Hartnäckigkeit, wie wenn sie einen Anfall erlitten hätte. Mawrikij Nikolajewitsch erklärte sich, wie wir später sehen werden, diese namentlich in der letzten Zeit so häufigen launischen Anwandlungen Lisaweta Nikolajewnas als plötzliche Ausbrüche eines blinden Hasses gegen ihn. Er wußte, daß sie nicht etwa böser Gesinnung entsprangen – denn es war ihm klar, daß sie ihn achtete, gern hatte und schätzte – sondern eben lediglich irgendeinem besonderen, unbewußten Haß, den sie zu gewissen Augenblicken schlechterdings nicht unterdrücken konnte.

Er übergab sein Teeglas schweigend irgendeiner hinter ihm stehenden alten Frau, öffnete die Tür im Gitter, trat ohne Einladung in Semion Jakowlewitschs intimere Zimmerhälfte und kniete dort in der Mitte des Raumes vor aller Augen nieder. Ich nehme ah, daß er sich im Grunde seiner zartfühlenden und ehrlichen Seele durch den hohnvollen, groben Scherz, den sich Lisa mit ihm erlaubt hatte, gar zu sehr erschüttert fühlte. Vielleicht war ihm der Gedanke gekommen, daß sie sich schämen würde, wenn sie seine Erniedrigung sähe, auf der sie so hartnäckig bestanden hatte. Natürlich hätte es niemand außer ihm gewagt, eine Frau auf eine so naive und gefährliche Weise zu bessern. Nun kniete er da mit seinem unerschütterlichen Ernst in den Gesichtszügen, er, der Lange, Ungeschickte und Komische. Aber die Unsrigen lachten nicht; das Überraschende an dem ganzen Vorgang hatte auf alle einen peinlichen Eindruck gemacht. Alle blickten auf Lisa.

»Salböl, Salböl!« murmelte Semion Jakowlewitsch.

Lisa wurde auf einmal furchtbar blaß, schrie auf und lief eilig nach der anderen Seite des Gitters. Hier spielte sich eine kurze hysterische Szene ab: Lisa bemühte sich aus aller Kraft, Mawrikij Nikolajewitsch aus seiner knienden Haltung aufzuheben, indem sie ihn mit beiden Händen am Ellbogen zog.

»Stehen Sie auf, stehen Sie auf!« rief sie wie von Sinnen. »Stehen Sie sofort auf, sofort! Wie wagten Sie es nur zu tun!«

Mawrikij Nikolajewitsch erhob sich von den Knien. Sie preßte mit ihren Händen seine Arme oberhalb der Ellbogen zusammen und sah ihm forschend ins Gesicht. In ihrem Blick lag eine große Angst.

»Schönblicker, Schönblicker!« sagte Semion Jakowlewitsch noch einmal.

Lisaweta Nikolajewna gelang es endlich, Mawrikij Nikolajewitsch wieder nach der anderen Seite des Gitters hinüberzuziehen. In dem ganzen Schwärm der Unsrigen machte sich eine starke Bewegung bemerkbar. Die Dame aus unserem Wagen, die anscheinend den Wunsch hatte, diesen Eindruck zu verwischen, wandte sich jetzt zum drittenmal an Semion Jakowlewitsch mit einer Frage. Ihre Stimme klang dabei hell und beinah quietschend, und sie hatte wieder ihr affektiertes Lächeln aufgesetzt.

»Nun, Semion Jakowlewitsch, werden Sie mir denn wirklich nichts verkünden? Und ich habe doch so bestimmt darauf gehofft.«

»Du kannst mir mal ... du kannst mir mal ... erwiderte Semion Jakowlewitsch plötzlich und bediente sich dabei eines ganz zensurwidrigen Ausdrucks, den er grimmig und mit erschreckender Deutlichkeit aussprach. Unsere Damen kreischten auf und liefen Hals über Kopf hinaus; die Herren brachen in ein homerisches Gelächter aus. Und damit endete unsere Fahrt zu Semion Jakowlewitsch.

Und doch ereignete sich, wie man erzählt, noch ein außerordentlich rätselhafter Vorfall, und ich will gestehen, daß ich eigentlich mehr um seinetwillen diese ganze Fahrt so ausführlich geschildert habe.

Man sagt, daß, als alle in dichtem Schwarm herausliefen, in dem entstandenen Gedränge die von Mawrikij Nikolajewitsch am Arm geführte Lisa auf einmal in der Tür mit Nikolaj Wsewolodowitsch zusammenstieß. Ich muß bemerken, daß seit jenem Sonntagvormittag, an dem sie in Ohnmacht gefallen war, die beiden sich zwar mehrfach in Gesellschaft getroffen, aber nie aneinander herangetreten waren und kein einziges Wort miteinander gewechselt hatten. Ich sah, wie sie in der Tür zusammenstießen: es schien mir, daß sie beide für einen Augenblick stehen blieben und einander in ganz sonderbarer Weise musterten. Aber ich konnte in dem dichten Menschenhaufen übrigens nur sehr schlecht sehen. Es wird nämlich behauptet, und zwar sehr ernst, daß Lisa nach einem kurzen Blick auf Nikolaj Wsewolodowitsch plötzlich hastig ihre Hand bis zur Höhe seines Gesichts erhoben habe, und daß sie ihn sicherlich geschlagen haben würde, wenn er sich nicht rechtzeitig abgewandt hätte. Vielleicht war ihr sein Gesichtsausdruck unangenehm gewesen oder etwa sein Lächeln, besonders jetzt, nach einem solchen Auftritt mit Mawrikij Nikolajewitsch. Ichgestehe, daß ich selbst nichts gesehen habe; dafür aber versicherten alle anderen, es beobachtet zu haben, obwohl es in dem Getümmel eigentlich nur einigen Wenigen aufgefallen sein konnte. Nun, ich glaubte diese Geschichte damals nicht. Ich erinnere mich jedoch, daß Nikolaj Wsewolodowitsch auf dem ganzen Rückwege etwas blaß aussah.

3

Noch am selben Tage und fast zur gleichen Stunde fand endlich auch das Wiedersehen Warwara Petrownas mit Stepan Trofimowitsch statt, das diese schon längst beabsichtigt und ihrem ehemaligen Freund angekündigt, aber bis dahin aus irgendeinem Grunde immer wieder verschoben hatte. Die Begegnung geschah in Skworeschniki. Warwara Petrowna war voller Sorgen in ihr Landhaus gekommen. Tags zuvor hatte man endgültig beschlossen, daß das bevorstehende Fest bei der Frau Adelsmarschall veranstaltet werden sollte. Aber Warwara Petrowna sagte sich sofort mit der ihr eigenen Schnelligkeit der Überlegung, daß nach diesem Fest kein Mensch sie daran hindern könnte, ein zweites zu geben, zu dem sie dann wieder die ganze Stadt einladen wollte, und zwar nach Skworeschniki. Bei dieser Gelegenheit würden sich dann alle mit eigenen Augen überzeugen können, wessen Haus das geeignetere sei, wo man es am besten verstehe, Gäste zu empfangen und wo ein Ball geschmackvoller veranstaltet werde.

Warwara Petrowna war überhaupt nicht mehr zu erkennen. Sie schien eine ganz andere geworden zu sein und hatte sich aus der früheren unzugänglichen »höchsten Dame«, wie Stepan Trofimowitsch sie einmal genannt hatte, in eine einfache, überspannte Weltdame verwandelt. Übrigens ist es auch möglich, daß es nur so schien.

Nachdem sie in dem unbewohnten Landhause angekommen war, ging sie durch alle Zimmer in Begleitung ihres treuen und dem Hause seit jeher dienenden Alexej Jegorowitsch und Fomuschkas, eines Menschen, der schon manches erlebt und gesehen hatte und ein Spezialist im Dekorationsfache war. Nun begann es, von Überlegungen und Ratschlägen zu hageln. Man besprach, was an Möbeln aus dem Stadthause herübergebracht werden müsse; welche Sachen, welche Bilder; wo sie anzubringen wären; wie man am besten und passendsten die Orangerie und die Blumen arrangieren könnte; wo neue Vorhänge am Platze sein dürften, wo das Büfett eingerichtet werden sollte, und ob eins oder zwei, und so weiter und so weiter. Und da, mitten in diesen aufregenden Sorgen kam Warwara Petrowna plötzlich der Einfall, einen Wagen zu Stepan Trofimowitsch zu schicken und ihn holen zu lassen.

Dieser war schon längst benachrichtigt und bereit, und erwartete täglich gerade eine solche plötzliche Einladung. Als er in den Wagen stieg, bekreuzte er sich: jetzt sollte sich sein Schicksal entscheiden. Er traf seine Freundin in dem großen Saal, auf einem kleinen Sofa, das in einer Nische vor einem kleinen Marmortischchen stand, mit Bleistift und Papier in den Händen; Fomuschka maß mit einem Zollstock die Höhe der Galerien und der Fenster, und Warwara Petrowna selbst notierte sich die Zahlen und machte Randbemerkungen dazu. Ohne mit ihrer Arbeit aufzuhören, nickte sie Stepan Trofimowitsch mit dem Kopf zu, und als dieser irgend etwas zur Begrüßung murmelte, reichte sie ihm hastig die Hand und wies ihm, ohne ihn anzusehen, einen Platz neben sich an.

»Ich saß da und wartete, mein Herz zusammenpressend, etwa fünf Minuten lang«, erzählte er mir nachher. »Ich sah vor mir nicht die Frau, die ich zwanzig Jahre lang kannte. Die vollkommene Überzeugung, daß nunmehr alles zu Ende sei, verlieh mir eine Kraft, die selbst sie überrascht hatte. Ich versichere Ihnen, daß sie über meine Festigkeit in dieser letzten Stunde gestaunt hat.«

Warwara Petrowna legte auf einmal ihren Bleistift auf das Tischchen und wandte sich hastig zu Stepan Trofimowitsch.

»Stepan Trofimowitsch, wir müssen hier über eine ernste Angelegenheit sprechen. Ich bin überzeugt, daß Sie sich alle Ihre hochtrabenden Worte und Redensarten zurechtgelegt haben, aber es ist wohl das Beste, wenn wir gleich zum Kern der Sache kommen, nicht wahr?«

Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Sie beeilte sich gar zu sehr, ihren Ton für das bevorstehende Gespräch zu verraten; was mochte nun noch weiter kommen?

»Warten Sie, schweigen Sie, lassen Sie mich zu Ende reden; nachher können Sie selbst sprechen, obwohl ich wirklich nicht weiß, was Sie mir zu antworten hätten«, fuhr sie hastig und beinahe sich überstürzend fort. »Ihnen die zwölfhundert Rubel Pension bis an Ihr Lebensende zu zahlen halte ich für meine heilige Pflicht. Das heißt, warum denn eigentlich für eine heilige Pflicht? Es ist ganz einfach eine vertragsmäßige Verpflichtung, das klingt realistischer, nicht wahr? Wenn Sie wollen, können wir es schriftlich machen. Für den Fall meines Todes habe ich bereits besondere Anordnungen getroffen. Aber darüber hinaus empfangen Sie von mir jetzt Wohnung und Dienerschaft und den gesamten Unterhalt. Wenn wir das zahlenmäßig ausdrücken wollen, so wird sich eine Summe von eintausendfünfhundert Rubeln ergeben, nicht wahr? Nun will ich Ihnen noch dreihundert Rubel darüber hinaus bewilligen, so daß es alles in allem volle dreitausend Rubel ausmachen wird. Genügt Ihnen das jährlich? Ich glaube, daß es nicht zu wenig ist. In ganz außergewöhnlichen Fällen werde ich Ihnen noch etwas zulegen. Also nehmen Sie dieses Geld, schicken Sie mir meine Leute zurück und leben Sie ganz allein, wie Sie wollen und wo Sie wollen, in Petersburg, in Moskau, im Auslande oder sogar hier, aber nur nicht bei mir! Verstehen Sie?«

»Vor kurzem stellte mir derselbe Mund ebenso dringlich und ebenso schnell eine andere Forderung«, erwiderte Stepan Trofimowitsch langsam, traurig und sehr deutlich. »Ich fügte mich ... und tanzte Ihnen zum Gefallen den Kosakentanz. Oui, la comparaison peut être permise. C'était comme un petit cosaque du Don, qui sautait sur sa propre tombe. Jetzt ...«

»Halten Sie ein, Stepan Trofimowitsch! Sie machen furchtbar viele Worte. Sie haben gar nicht getanzt, sondern sind mit einer neuen Krawatte, frischer Wäsche und Handschuhen, pomadisiert und parfümiert zu mir gekommen. Ich versichere Ihnen, daß Sie selbst die größte Lust hatten zu heiraten; das konnte man deutlich Ihrem Gesichtsausdruck ablesen, und Sie dürfen es glauben, dieser Ausdruck war durchaus nicht anmutig. Wenn ich es Ihnen nicht gleich damals gesagt habe, so geschah es einzig und allein aus Zartgefühl. Aber Sie wollten, Sie wollten heiraten, trotz der Gemeinheiten, die Sie im geheimen über mich und Ihre Braut geschrieben hatten. Jetzt liegt die Sache doch ganz anders. Und was soll hier irgendein cosaque du Don, der über Ihrem Grabe tanzt? Ich verstehe diesen Vergleich nicht. Sie brauchen gar nicht zu sterben, im Gegenteil, leben Sie nur, leben Sie so lange wie möglich, und ich werde mich sehr darüber freuen.«

»Im Armenhaus?«

»Im Armenhaus? Mit dreitausend Rubel Jahreseinnahme geht man nicht ins Armenhaus. Ach ja, jetzt erinnere ich mich,« fügte sie lächelnd hinzu, »Piotr Stepanowitsch hat wirklich einmal scherzweise etwas vom Armenhaus gesagt. Aber es handelte sich dabei tatsächlich um ein ganz besonderes Armenhaus, das sich der Erwägung schon lohnt. Es ist nur für die achtenswertesten Personen bestimmt; es wohnen Obersten darin, und jetzt will sogar ein General hinziehen. Wenn Sie mit Ihrem ganzen Gelde da eintreten, so werden Sie Ruhe, Behaglichkeit und Bedienung finden. Sie können sich dort mit Ihren Wissenschaften beschäftigen und werden immer die Möglichkeit haben, eine Partie Preference zu spielen ...«

»Passons!«

»Passons?« wiederholte Warwara Petrowna und verzog das Gesicht. »Nun, in diesem Falle sind wir miteinander zu Ende; Sie sind benachrichtigt, daß wir von nun an vollständig getrennt leben werden.«

»Und das ist alles? Alles, was von zwanzig Jahren übriggeblieben ist? Ist das Ihr letztes Abschiedswort?«

»Sie machen furchtbar gern im Gespräch pathetische Ausrufe, Stepan Trofimowitsch. Heutzutage ist das gar nicht mehr Mode. Man redet jetzt grob, aber einfach. Wie sind Sie doch auf Ihre zwanzig Jahre versessen! Es waren zwanzig Jahre eines beiderseitigen Egoismus und nicht mehr. Jeden Brief, den Sie mir sandten, schrieben Sie eigentlich nicht für mich, sondern für die Nachwelt. Sie sind ein Stilist, aber kein Freund, und die Freundschaft ist nur ein beliebtes, hochklingendes Wort, in Wirklichkeit aber bedeutet sie nur ein gegenseitiges Begießen mit Spülicht ...«

»Mein Gott, wieviel fremde Ausdrücke Sie gebrauchen! Das klingt ja wie auswendig gelernte Schulaufgaben! Auch Ihnen haben diese Menschen schon ihre Uniform angezogen! Auch Sie sind vergnügt und wälzen sich im Sonnenlicht! Chère, chère, für welches Linsengericht haben Sie diesen Menschen Ihre Freiheit verkauft!«

»Ich bin kein Papagei, um fremde Worte nachzusprechen«, brauste Warwara Petrowna auf. »Sie können überzeugt sein, daß ich mir einen genügenden Vorrat von eigenen Worten zurückgelegt habe. Was haben Sie in diesen zwanzig Jahren für mich getan? Sie haben mir sogar die Bücher vorenthalten, die ich für Sie kommen ließ und die überhaupt unaufgeschnitten geblieben wären, wenn nicht der Buchbinder sie bearbeitet hätte. Was haben Sie mir zu lesen gegeben, als ich Sie in den ersten Jahren bat, mich zu führen und zu leiten? Immer Capefigue und Capefigue. Sogar meine Entwicklung erregte in Ihnen etwas wie Eifersucht, und Sie trafen Ihre Maßnahmen dagegen. Und dabei machen sich doch alle Leute über Sie lustig. Ich muß gestehen, ich habe Sie immer nur für einen Kritiker gehalten; Sie sind ein literarischer Kritiker und nichts weiter. Als ich Ihnen auf dem Wege nach Petersburg erklärte, daß ich die Absicht habe, eine Zeitschrift herauszugeben und dieser Arbeit mein ganzes Leben zu widmen, sahen Sie mich sofort ganz ironisch an und wurden mit einemmal furchtbar hochmütig.«

»Das war damals ganz etwas anderes, es verhielt sich nicht so ... Wir fürchteten uns damals vor Verfolgungen ...«

»Nein, es verhielt sich genau so, wie ich sage, und in Petersburg hatten Sie schon gar keine Verfolgungen zu befürchten. Erinnern Sie sich noch, wie Sie, als später im Februar jene Nachricht eintraf, mit einemmal ganz atemlos vor Schreck zu mir gelaufen kamen und von mir sofort eine Bestätigung in Form eines Briefes verlangten, daß die geplante Zeitschrift Sie gar nichts angehe, daß die jungen Leute nur zu mir kamen und nicht zu Ihnen, und daß Sie lediglich ein Hauslehrer wären, der im Hause geblieben sei, weil er noch nicht sein ganzes Gehalt ausgezahlt bekommen habe? Stimmt das? Erinnern Sie sich noch daran? Sie haben sich Ihr ganzes Leben lang ganz außerordentlich schön hervorgetan, Stepan Trofimowitsch!«

»Das war nur ein Augenblick des Kleinmuts, ein Augenblick der Intimität«, rief er bekümmert aus. »Aber sollen wir denn wirklich, wirklich dieser kleinlichen Eindrücke wegen miteinander brechen? Ist denn wirklich nach so langen Jahren zwischen uns nichts mehr übriggeblieben?«

»Sie sind ein furchtbar schlauer Rechner; Sie möchten es immer so darstellen, als ob ich noch in Ihrer Schuld wäre. Als Sie aus dem Auslande zurückkehrten, sahen Sie auf mich von oben herab und erlaubten mir auch kein einziges Wort zu sagen. Und als ich später selbst dort gewesen war und mit Ihnen nachher über den Eindruck zu sprechen begann, den ich von der Madonna mitgebracht hatte, da hörten Sie mich nicht einmal zu Ende und fingen hochmütig an, in Ihre Krawatte hineinzulächeln, wie wenn ich nicht ebensolche Empfindungen haben könnte wie Sie.«

»Das war etwas ganz anderes, sicherlich war es ganz etwas anderes ... J'ai oublié.«

»Nein, gerade das ist es gewesen! Und dabei hatten Sie gar keinen Anlaß, sich vor mir zu brüsten, denn das war ja lauter Unsinn und nur eine Marotte von Ihnen. Heutzutage wird kein Mensch mehr von dem Anblick der Madonna hingerissen, und niemand verliert mehr seine Zeit mit ihr, außer ein paar verstockten alten Herren. Das ist bewiesen.«

»Sogar schon bewiesen?«

»Sie ist ja zu nichts zu gebrauchen. Diese Tasse ist nützlich, weil man Wasser hineingießen kann, dieser Bleistift ist nützlich, weil man mit ihm alles notieren kann; das aber ist nichts weiter als ein Frauengesicht, das weniger wert ist als alle anderen, wirklichen Gesichter. Versuchen Sie doch mal einen Apfel zu zeichnen und einen wirklichen Apfel daneben zu legen. Welchen würden Sie wohl nehmen? Da werden Sie doch sicherlich nicht fehlgreifen! Sehen Sie, was von allen Ihren Theorien zurückbleibt, sobald auf sie der erste Strahl der freien Forschung gefallen ist!«

»So, so!«

»Sie lächeln ironisch. Aber was sagten Sie mir zum Beispiel vom Almosengeben? Und doch ist der Genuß, den man beim Almosengeben empfindet, ein hochmütiger, unsittlicher Genuß, es ist die Freude des Reichen über seinen Reichtum, über seine Macht und über den Vergleich seiner eigenen Bedeutung mit derjenigen des Armen. Das Almosengeben verdirbt sowohl den Spender als auch den Nehmenden und erfüllt überdies nicht einmal seinen Zweck, da es nur die Bettelei vermehrt. Faule Menschen, die nicht arbeiten wollen, drängen sich um die Gebenden herum wie die Spieler um den Spieltisch in der Hoffnung, etwas zu gewinnen. Indessen aber reichen die kläglichen paar Groschen, die man ihnen hinwirft, nicht einmal für den hundertsten Teil der Bedürfnisse aus. Haben Sie in Ihrem Leben schon viel Geld verschenkt? Doch wohl nicht mehr als etwa achtzig Kopeken. Denken Sie einmal darüber nach. Versuchen Sie sich einmal zu erinnern, wann Sie zum letztenmal ein Almosen gegeben haben; das wird jetzt sicherlich schon zwei oder vielleicht sogar ganze vier Jahre zurückliegen. Sie machen nur viel Lärm und schaden der gemeinsamen Sache. Das Almosengeben müßte auch jetzt schon bei der bestehenden Gesellschaftsordnung verboten werden. Im Zukunftsstaat wird es überhaupt keine Armen geben!«

»Oh, was für ein vulkanartiger Ausbruch fremder Gedanken! Also sind Sie jetzt sogar schon beim Zukunftsstaat angelangt? Sie Unglückliche, möge Ihnen Gott helfen!«

»Ja, ich bin jetzt soweit, Stepan Trofimowitsch! Sie haben alle neuen Ideen vor mir sorgsam verborgen gehalten! Einzig und allein aus Egoismus taten Sie das, um mich in Ihrer Gewalt zu behalten. Aber diese neuen Ideen sind jetzt schon allen Leuten bekannt, und sogar diese Julia Michajlowna ist mir dadurch hundert Meilen voraus. Aber meine Augen sind endlich aufgegangen. Ich habe Sie, Stepan Trofimowitsch, soviel ich nur konnte, verteidigt, denn geradezu alle haben Ihnen etwas vorzuwerfen.«

»Genug!« rief er und stand von seinem Platz auf. »Genug! Und was soll ich Ihnen zum Abschied wünschen? Etwa Reue?«

»Setzen Sie sich für einen Augenblick, Stepan Trofimowitsch! Ich muß Ihnen noch eine Frage vorlegen. Man hat Ihnen doch gesagt, daß man Sie bittet, bei der literarischen Matinee etwas vorzulesen; das ist durch meine Vermittlung geschehen. Was werden Sie denn vorlesen?«

»Nun, eben etwas über diese Königin der Königinnen, über dieses Ideal der Menschheit, über die Sixtinische Madonna, die Ihrer Ansicht nach nicht soviel wert ist wie ein Glas oder ein Bleistift.«

»Also nichts Geschichtliches?« fragte Warwara Petrowna und schien unangenehm überrascht zu sein. »Aber man wird Ihnen ja gar nicht zuhören! Weshalb sind Sie denn so auf diese Madonna versessen? Was kann es Ihnen für ein Vergnügen bereiten, alle einzuschläfern? Seien Sie überzeugt, Stepan Trofimowitsch, daß ich das lediglich in Ihrem eigenen Interesse sage. Es wäre doch wirklich ganz was anderes, wenn Sie ein kurzes, interessantes, mittelalterliches Hofbegebnis, aus der spanischen Geschichte etwa, nehmen würden! Oder noch besser sogar irgendeine Hofanekdote, die Sie dann mit noch anderen Anekdoten und geistreichen Bemerkungen ausstatten würden. Es hat dort üppige Hofhaltungen gegeben und solche Damen und Vergiftungen. Karmasinow sagt, daß es sogar sonderbar wäre, wenn man aus der spanischen Geschichte nicht etwas Interessantes herausfinden würde.«

»Karmasinow, dieser Dummkopf, der sich ausgeschrieben hat, sucht für mich einen Stoff!«

»Karmasinow, dieser fast alles umfassende Geist! Sie sind in Ihren Ausdrücken zu ausfallend geworden, Stepan Trofimowitsch.«

»Ihr Karmasinow ist ein altes, verbittertes Weib, das sich ausgeschrieben hat! Chère, chère, sind Sie schon seit langem von diesen Leuten so geknechtet worden! O Gott!«

»Ich kann ihn auch jetzt noch wegen seiner Wichtigtuerei nicht leiden, aber ich urteile nur gerecht über seinen Verstand. Ich wiederhole: ich habe Sie, soviel ich nur konnte, aus aller meiner Kraft verteidigt, und weshalb wollen Sie nur durchaus lächerlich und langweilig erscheinen? Treten Sie doch lieber, im Gegenteil, mit einem würdevollen Lächeln auf die Tribüne heraus, als ein Vertreter des vergangenen Jahrhunderts, und erzählen Sie dem Publikum drei Anekdoten mit all Ihrem Witz, erzählen Sie so, wie nur Sie mitunter zu erzählen verstehen! Mögen Sie auch ein alter Mann sein, mögen Sie auch einem Zeitalter angehören, das abgelebt hat, mögen Sie auch endlich heute als rückständig erscheinen; aber geben Sie das selbst in Ihrer Vorrede lächelnd zu, und alle werden einsehen, daß Sie ein lieber, guter und geistreicher Überrest sind ... Kurz, ein Mensch von altem Schrot und Korn, der soweit vorgeschritten ist, daß er die Unzulänglichkeit einiger Anschauungen, in denen er bisher gelebt hat, selbst zu beurteilen vermag. Nun, tun Sie mir doch diesen Gefallen, ich bitte Sie darum.«

»Chère, genug! Bitten Sie mich nicht, ich kann es nicht tun. Ich werde über die Madonna lesen und damit einen Sturm erregen, der entweder sie alle zu Boden wirft oder mich allein trifft!«

»Sicherlich nur Sie allein, Stepan Trofimowitsch.«

»Dann ist es eben mein Schicksal. Ich werde den Leuten von dem gemeinen Knecht erzählen, von jenem stinkenden und liederlichen Lakaien, der als erster mit einer Schere in der Hand auf die Leiter steigen und das göttliche Antlitz dieses hohen Ideals zerschneiden wird im Namen der Gleichheit, des Neides und ... der Verdauung. Möge mein Fluch wie ein Donner erschallen und dann, dann ...«

»Ins Irrenhaus?«

»Vielleicht. Aber jedenfalls, mag ich nun als Sieger hervorgehen oder unterliegen, jedenfalls werde ich noch gleich am selben Abend meinen Sack nehmen, meinen einfachen Bettelsack, werde alle meine Habseligkeiten, alle Ihre Geschenke, alle Ihre Pensionen und Versprechungen künftiger Wohltaten zurücklassen und zu Fuß von dannen gehen, um mein Leben bei einem Kaufmann als Hauslehrer zu beschließen oder irgendwo an einem Zaun zu verhungern. Ich habe gesprochen! Alea jacta est!«

Er stand wieder auf.

»Ich war überzeugt,« erwiderte Warwara Petrowna, die sich nun mit funkelnden Augen ebenfalls erhob, »die ganzen Jahre hindurch war ich davon überzeugt, daß Sie eigentlich nur deshalb leben, um zu guter Letzt mich und mein Haus durch Verleumdung zu verunglimpfen! Was wollen Sie denn mit Ihrer Hauslehrerstelle bei einem Kaufmann oder mit diesem Hungertod am Zaune sagen? Es ist nichts weiter als Bosheit, nichts weiter als Verleumdung!«

»Sie haben mich stets verachtet; aber ich werde mein Leben beschließen wie ein Ritter, der seiner Dame treu ist, denn Ihre Meinung war mir stets viel mehr wert als alles andere! Von diesem Augenblick an nehme ich nichts mehr an, sondern verehre Sie uneigennützig.«

»Wie dumm Sie reden!«

»Sie haben mich nie geachtet. Mag ich auch eine Menge Schwächen haben. Ja, ich habe bei Ihnen schmarotzt; ich drücke mich jetzt in der Sprache Ihrer Nihilisten aus; aber das Schmarotzen ist niemals das höchste Prinzip meines Handelns gewesen. Das hat sich ganz von selbst gemacht, ich weiß nicht, wie ... Ich glaubte immer, daß zwischen uns noch etwas Höheres besteht als das bloße Essen, und – nie, nie bin ich ein Lump gewesen. Also jetzt heißt es, sich auf den Weg zu begeben, um die Sache wieder gutzumachen! Auf also, auf den späten Weg! Draußen ist Spätherbst, der Nebel liegt auf den Feldern, der kalte Reif des Alters bedeckt meinen künftigen Pfad, und der Wind heult mir das Lied von dem nahen Grabe ... Und dennoch will ich mich auf den Weg machen, auf den Weg, auf den neuen Weg:

›Voll von ewig reiner Liebe,
Treu dem süßen Zukunftstraum ...‹

Oh, lebt wohl, meine Schwärmereien! Zwanzig Jahre! Alea jacta est!«

Sein Gesicht war benetzt von den Tränen, die plötzlich durchgebrochen waren; er nahm seinen Hut in die Hand.

»Ich verstehe kein Wort Lateinisch«, erwiderte Warwara Petrowna, die sich mit aller Kraft zusammenzunehmen suchte.

Wer weiß, vielleicht hätte auch sie am liebsten geweint; aber ihr Unwille und ihre Laune behielten noch einmal Oberhand.

»Ich weiß nur eins, nämlich, daß das alles nur die Folge Ihres Mutwillens ist. Nie werden Sie imstande sein, Ihre egoistischen Drohungen durchzuführen. Sie werden nirgends hingehen, zu keinem Kaufmann, sondern werden ganz ruhig in meiner Nähe Ihr Leben zu Ende führen, Ihre Pension in Empfang nehmen und jeden Dienstag Ihre ganz unmöglichen Freunde um sich versammeln. Leben Sie wohl, Stepan Trofimowitsch.«

»Alea jacta est!« sagte er noch einmal, machte eine tiefe Verbeugung und kehrte halbtot vor Aufregung nach Hause zurück.


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