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Die kluge Schlange
Warwara Petrowna klingelte und warf sich in einen Lehnstuhl am Fenster.
»Setzen Sie sich hierher, meine Liebe«, sagte sie zu Maria Timofejewna und wies ihr einen Platz in der Mitte des Zimmers am großen, runden Tisch an. »Stepan Trofimowitsch, was ist das alles? Da, da, sehen Sie sich diese Frau an, was hat das alles zu bedeuten?«
»Ich ... ich ...« stammelte Stepan Trofimowitsch ...
Aber hier trat ein Diener ein.
»Eine Tasse Kaffee, sofort, besonders stark und so schnell wie möglich! Die Pferde sollen nicht ausgespannt werden!«
»Mais chère et excellente amie, dans quelle inquiétude ...« rief Stepan Trofimowitsch mit matter Stimme.
»Ach! Französisch, französisch! Man sieht gleich, daß man sich in den höchsten Gesellschaftskreisen befindet!« rief Maria Timofejewna, schlug vor Vergnügen die Hände zusammen und schickte sich ganz begeistert an, das französische Gespräch mit anzuhören. Warwara Petrowna starrte sie beinah erschrocken an.
Wir alle schwiegen und warteten auf irgendeine Lösung der rätselhaften Begebenheit. Schatow hob den Kopf nicht in die Höhe, und Stepan Trofimowitsch war so bestürzt, wie wenn er allein an allem schuld wäre; der Schweiß trat ihm sogar an den Schläfen hervor. Ich warf einen Blick auf Lisa, die in der Ecke dicht neben Schatow Platz genommen hatte. Ihre Augen wanderten forschend von Warwara Petrowna zu der Lahmen und wieder zurück. Auf ihren Lippen zeigte sich ein Lächeln, aber kein gutes. Warwara Petrowna bemerkte es. Indessen hatte sich Maria Timofejewna ihren Gefühlen ganz hemmungslos hingegeben: mit Wonne und vollkommen ungeniert betrachtete sie Warwara Petrownas schönen Salon: die Möbel, die Teppiche, die Bilder an den Wänden, die altertümliche Malerei auf der Decke, das große bronzene Kruzifix in der Ecke, die Porzellanlampe, die Albums und die Nippsachen auf dem Tisch.
»Also auch du bist hier, Schatuschka!« rief sie plötzlich. »Denk dir nur, ich habe dich schon lange gesehen, aber immer geglaubt, du wärest es nicht! Ich sagte mir: wie sollte er wohl hierhergekommen sein?« Und sie lachte fröhlich.
»Sie kennen diese Frau?« wandte sich Warwara Petrowna sofort an ihn.
»Ja, ich kenne sie«, murmelte Schatow, rührte sich auf seinem Stuhle, blieb aber sitzen.
»Was wissen Sie denn von ihr? Bitte, recht schnell!«
»Ja, was denn? ...« erwiderte er mit einem grundlosen und schlecht passenden Lächeln und stockte. »Sie sehen ja selbst ...«
»Was soll ich sehen? Reden Sie doch endlich etwas!«
»Sie wohnt in demselben Hause wie ich ... mit dem Bruder ... Er ist Offizier.«
»Nun?«
Schatow stockte wieder.
»Es lohnt sich gar nicht, darüber zu sprechen ...« brummte er und verstummte endgültig. Seine Entschlossenheit trieb ihm sogar die Röte ins Gesicht.
»Natürlich! Von Ihnen kann man auch nichts anderes erwarten!« brach Warwara Petrowna das Gespräch entrüstet ab. Es war ihr jetzt klar, daß alle etwas wußten, zu gleicher Zeit aber etwas fürchteten, ihren Fragen auswichen und etwas vor ihr zu verbergen suchten.
Es kam der Lakai und brachte auf einem kleinen silbernen Tablett die besonders bestellte Tasse Kaffee; aber auf den Wink Warwara Petrownas ging er damit sogleich zu Maria Timofejewna.
»Sie haben vorhin sehr gefroren, meine Liebe, trinken Sie recht schnell und erwärmen Sie sich.«
»Merci«, sagte Maria Timofejewna, indem sie die Tasse nahm, und brach plötzlich in ein Gelächter darüber aus, daß sie dem Lakaien »merci« gesagt hatte. Als sie aber dem strengen Blick Warwara Petrownas begegnete, wurde sie ängstlich und stellte die Tasse auf den Tisch.
»Sie sind doch nicht etwa böse, Tante!?« stammelte sie leichtsinnig und beinah scherzhaft.
»Wa–a–as?!« rief Warwara Petrowna, sich in ihrem Lehnsessel geraderichtend. »Wieso bin ich für Sie eine Tante? Was wollten Sie damit sagen?«
Maria Timofejewna, die einen solchen Zornausbruch nicht erwartet hatte, begann nun am ganzen Leibe zu zittern, und zwar mit kleinen, krampfhaften Zuckungen, wie in einem Anfall. Sie warf sich gegen die Lehne ihres Stuhls zurück.
»Ich ... ich dachte, ich müßte so sagen,« murmelte sie und starrte Warwara Petrowna mit weit geöffneten Augen an, »Lisa hat Sie doch auch so genannt.«
»Was für eine Lisa?«
»Nun, dieses Fräulein hier«, antwortete Maria Timofejewna und wies mit dem Finger auf Lisaweta Nikolajewna.
»Ist sie denn für Sie auch schon einfach Lisa?«
»Sie haben sie doch vorhin selbst so genannt«, versetzte Maria Timofejewna, die inzwischen wieder Mut gefaßt hatte. »Und im Traum habe ich ein ebenso schönes Fräulein gesehen«, fügte sie hinzu und schmunzelte dabei wie unabsichtlich.
Warwara Petrowna überlegte einen Augenblick und beruhigte sich ein wenig. Über die letzte Bemerkung von Maria Timofejewna mußte sie sogar ein wenig lächeln. Die Lahme aber hatte dieses Lächeln trotzdem wahrgenommen; sie stand auf und trat schüchtern an sie heran.
»Hier, nehmen Sie es, ich habe es vergessen zurückzugeben; seien Sie nicht böse wegen meiner Unhöflichkeit«, sagte sie und nahm plötzlich von ihren Schultern das schwarze Schaltuch, das ihr Warwara Petrowna vorhin gegeben hatte.
»Legen Sie das Tuch sofort wieder um und behalten Sie es für immer. Gehen Sie, setzen Sie sich und trinken Sie Ihren Kaffee und haben Sie bitte keine Furcht vor mir, meine Liebe, beruhigen Sie sich. Ich beginne Sie zu verstehen.«
»Chère amie ...« wagte Stepan Trofimowitsch wieder mit einem Einwand zu beginnen.
»Ach, Stepan Trofimowitsch, hier kann man schon ohne Sie ganz den Kopf verlieren, schonen Sie mich doch wenigstens ... Bitte, klingeln Sie da an der Klingel neben Ihnen zum Mädchenzimmer.«
Es trat ein Schweigen ein. Der Blick Warwara Petrownas glitt gereizt und argwöhnisch über unsere Gesichter. Bald darauf erschien Agascha, ihre Lieblingszofe.
»Bring mir das karierte Tuch, das ich in Genf gekauft habe. Was macht Darja Pawlowna?«
»Das Fräulein fühlt sich nicht ganz wohl.«
»Geh hin und sage ihr, ich bitte sie hierherzukommen! Sage, daß ich sie sehr bitte, zu erscheinen, auch wenn sie sich schlecht fühlt.«
In diesem Augenblick wurde aus den anstoßenden Zimmern wieder ein ungewöhnliches Geräusch von Schritten und Stimmen vernehmbar, gleich demjenigen, das dem Erscheinen Warwara Petrownas vorangegangen war. Und plötzlich erblickten wir auf der Schwelle des Zimmers die atemlose und »aufgeregte« Praskowia Iwanowna, die sich auf Mawrikij Nikolajewitschs Arm stützte.
»Ach, mein Gott, kaum, daß ich mich hergeschleppt habe; Lisa, was machst du mit deiner Mutter, du Unsinnige, du!« kreischte sie auf, indem sie nach Gewohnheit aller schwächlichen, leicht reizbaren Menschen die ganze Erregung, die sich in ihr angehäuft hatte, in dieses eine Kreischen hineinlegte. »Mütterchen Warwara Petrowna, ich komme zu Ihnen, um meine Tochter zu holen!«
Warwara Petrowna sah sie mürrisch an, erhob sich ein wenig zu ihrer Begrüßung und sagte mit kaum verhohlenem Ärger:
»Guten Tag, Praskowia Iwanowna, tu mir den Gefallen und setz dich. Ich habe mir gleich gedacht, daß du kommen würdest.«
Für Praskowia Iwanowna konnte in einem solchen Empfang nichts Verblüffendes liegen. Warwara Petrowna hatte ihre ehemalige Pensionatsfreundin schon immer, seit der Kindheit an, despotisch und unter dem Scheine der Freundschaft beinah verächtlich behandelt. Aber heute lag noch etwas ganz Besonderes vor. In den letzten Tagen begann zwischen den beiden Damen etwas wie ein vollständiger Bruch heranzureifen, was ich übrigens bereits beiläufig erwähnt habe. Die Ursachen dieser beginnenden Entzweiung waren für Warwara Petrowna vorläufig noch geheimnisvoll und infolgedessen noch bedeutend beleidigender; die Hauptsache aber war, daß Praskowia Iwanowna ihr gegenüber sich seit einiger Zeit eines außerordentlich hochmütigen Benehmens befleißigte. Warwara Petrowna fühlte sich dadurch natürlich sehr gekränkt. Inzwischen waren auch zu ihr bereits gewisse sonderbare Gerüchte gedrungen, die sie ebenfalls ungeheuerlich aufregten, und zwar gerade durch ihre Unbestimmtheit. Warwara Petrownas Charakter war offen und stolz, mit einer draufgängerischen Note, wenn man sich so ausdrücken kann. Am allerwenigsten konnte sie geheime, versteckte Anschuldigungen leiden und zog stets eine offene Fehde vor. Sei dem nun, wie dem auch sein mochte, jedenfalls hatten die beiden Damen einander bereits seit fünf Tagen nicht mehr gesehen. Den letzten Besuch hatte Warwara Petrowna gemacht und war von der »Drosdicha«, der Drossel, tief gekränkt und verstimmt fortgegangen. Ich irre mich wohl kaum, wenn ich nun sage, daß Praskowia Iwanowna jetzt in der naiven Überzeugung hereinkam, daß Warwara Petrowna aus irgendeinem Grunde Angst vor ihr haben müsse; das konnte man bereits an ihrem Gesichtsausdruck sehen. Aber gerade dann schien der Hochmutsteufel die meiste Gewalt über Warwara Petrownas Herz zu gewinnen, wenn sie auch nur im entferntesten argwöhnte, daß jemand sie aus irgendeinem Grunde für erniedrigt halte. Praskowia Iwanowna aber zeichnete sich, wie viele schwächliche Personen, durch eine besondere Heftigkeit des Angriffs aus, den sie bei der ersten günstigen Wendung stets sofort unternahm. Allerdings war sie jetzt krank und wurde während der Krankheit immer reizbarer. Ich füge endlich noch hinzu, daß wir alle, die wir uns in dem Salon befanden, die beiden Jugendfreundinnen durch unsere Anwesenheit keineswegs besonders genieren konnten, falls zwischen ihnen wirklich ein Streit entbrannt wäre; man hielt uns für Menschen, die eben zur Familie gehörten und beinah Untergebene waren. Nicht ohne Besorgnis ließ ich mir gleich damals alle diese Gedanken durch den Kopf gehen. Stepan Trofimowitsch, der sich seit Warwara Petrownas Ankunft noch nicht hingesetzt hatte, ließ sich jetzt, sobald er Praskowia Iwanownas Kreischen vernahm, erschöpft auf einen Stuhl nieder und suchte verzweifelt meinen Blick aufzufangen. Schatow drehte sich scharf auf seinem Stuhl herum und brummte sogar etwas vor sich hin. Ich glaube, er wollte aufstehen und weggehen. Lisa hatte sich nur ein wenig erhoben, setzte sich aber sofort wieder hin, ohne dem Gejammer ihrer Mutter die schuldige Aufmerksamkeit zu schenken. Diesmal geschah es aber nicht infolge ihres »eigensinnigen Charakters«, sondern weil sie offenbar ganz im Banne eines anderen, mächtigen Eindrucks stand. Sie blickte jetzt beinah zerstreut irgendwohin in die Luft und schenkte sogar Maria Timofejewna nicht mehr die frühere Beachtung.
»Ach, hierher!« jammerte Praskowia Iwanowna, indem sie auf einen Lehnsessel am Tisch hinwies und sich mit Mawrikij Nikolajewitschs Hilfe schwer auf das Polster niederließ. »Ich würde mich bei Ihnen, Mütterchen, nicht hingesetzt haben, wenn nicht die Beine wären!« fügte sie nach Atem ringend hinzu.
Warwara Petrowna hob den Kopf ein wenig in die Höhe und drückte mit schmerzerfülltem Gesichtsausdruck die Finger ihrer rechten Hand gegen die rechte Schläfe, in der sie offenbar einen heftigen Schmerz (tic douloureux) empfand.
»Was sagst du da, Praskowia Iwanowna, weshalb solltest du dich bei mir nicht hinsetzen? Dein verstorbener Mann war mir sein ganzes Leben lang in aufrichtiger Freundschaft zugetan, und mit dir habe ich noch als kleines Mädchen im Pensionat mit Puppen gespielt.«
Praskowia Iwanowna winkte mit beiden Händen ab.
»Das habe ich mir gleich gedacht! Sie fangen immer vom Pensionat an, wenn Sie mir Vorwürfe machen wollen, – das ist schon so ein Kunstgriff, den Sie anwenden. Meiner Meinung nach ist das nichts weiter als eine Redensart. Ich mag dieses Pensionat nicht leiden.«
»Du bist, scheint es, in einer gar zu schlechten Laune hierhergekommen. Was machen deine Füße? Da bringt man dir Kaffee, bitte schön, trinke und ärgere dich nicht.«
»Mütterchen Warwara Petrowna, Sie behandeln mich so, als ob ich ein kleines Mädchen wäre. Ich mag keinen Kaffee, da!«
Und sie winkte dem Diener, der ihr den Kaffee brachte, ärgerlich ab.
Außer mir und Mawrikij Nikolajewitsch trank übrigens kein Mensch den angebotenen Kaffee. Stepan Trofimowitsch nahm zwar eine Tasse, stellte sie aber wieder auf den Tisch. Maria Timofejewna wollte anscheinend gar zu gerne noch eine Tasse trinken und hatte sogar schon die Hand danach ausgestreckt. Aber sie besann sich rechtzeitig und dankte ganz manierlich, was ihr offenbar an ihr selbst sehr gefiel.
Warwara Petrowna verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.
»Weißt du was, liebe Praskowia Iwanowna, du hast dir sicherlich wieder irgend etwas eingebildet und bist dann mit dieser erfundenen Geschichte hierhergekommen. Du hast dein ganzes Leben lang immer nur mit der Phantasie gelebt. Du bist mir eben böse geworden, weil ich das Pensionat erwähnt habe; erinnerst du dich aber auch noch, wie du einmal hinkamst und der ganzen Klasse versichertest, Schablykin, der bei den Husaren diente, hätte dir einen Antrag gemacht? Und weißt du noch, wie Mme. Lefebure dich sofort der Lüge überführte? Und dabei hattest du gar nicht gelogen, sondern dir nur alles zum eigenen Vergnügen eingebildet. Nun, rede: was hast du jetzt mitgebracht? Was hast du dir wieder eingebildet? Was erregt deine Unzufriedenheit?«
»Und Sie haben sich im Pensionat in den Popen verliebt, der uns Religionsunterricht erteilte! Da haben Sie es, wenn Sie ein so nachtragendes Gedächtnis haben! Hahaha!«
Sie lachte boshaft und bekam dabei einen Hustenanfall.
»A–ah! Du hast also den Popen noch nicht vergessen ...« sagte Warwara Petrowna und sah sie haßerfüllt an.
Ihr Gesicht wurde ganz grün. Praskowia Iwanowna nahm auf einmal eine würdevolle Haltung an.
»Mir ist jetzt gar nicht zum Lachen zumute, Mütterchen! Weshalb haben Sie meine Tochter vor der ganzen Stadt in Ihre Skandalgeschichte mit hineingezogen? Das ist es, weshalb ich hergekommen bin!«
»In meine Skandalgeschichte?« rief Warwara Petrowna und richtete sich drohend auf.
»Mama, auch ich bitte Sie dringend, sich zu mäßigen«, erklärte plötzlich Lisaweta Nikolajewna.
»Was hast du gesagt?« kreischte wieder die Mutter auf, verstummte aber plötzlich, als sie den funkelnden Blick ihrer Tochter bemerkte.
»Wie können Sie nur von einer Skandalgeschichte reden?« rief Lisa, die in Eifer geriet und errötete. »Ich bin auf meinen eigenen Wunsch hergekommen und mit Erlaubnis Julia Michajlownas, weil ich die Geschichte dieser Unglücklichen erfahren wollte, um ihr vielleicht nützlich sein zu können.
»Die Geschichte dieser Unglücklichen!« wiederholte Praskowia Iwanowna mit einem boshaften Lachen die Worte ihrer Tochter. »Schickt es sich denn für dich, dich in derartige ›Geschichten‹ hineinzumischen? Ach, Mütterchen! Wir haben jetzt genug von Ihrem Despotismus!« wandte sie sich wütend an Warwara Petrowna. »Man sagt, ich weiß nur nicht, ob es wahr ist oder nicht, daß Sie hier die ganze Stadt nach Ihrer Pfeife tanzen ließen; aber anscheinend ist es jetzt auch damit vorbei!«
Warwara Petrowna saß aufgerichtet in ihrem Sessel wie ein Pfeil, der bereit ist, vom Bogen zu fliegen. Etwa zehn Sekunden lang sah sie Praskowia Iwanowna streng und unverwandt an.
»Nun, danke Gott, Praskowia, daß wir hier unter uns sind,« sagte sie endlich mit einer Unheil verkündenden Ruhe, »du hast gar zuviel Überflüssiges gesprochen.«
»Ich für meine Person, Mütterchen, fürchte mich gar nicht so sehr vor der öffentlichen Meinung, wie es manche andere tun; Sie sind es, die unter dem Scheine des Stolzes vor der Meinung der Leute zittere. Und daß hier nur nahestehende Menschen sind, das ist für Sie selbst besser, als wenn Fremde es hören würden.«
»Du bist in dieser Woche scheinbar sehr klug geworden, wie?«
»Das nicht, aber offenbar ist die Wahrheit in dieser Woche ans Tageslicht gekommen.«
»Von was für einer Wahrheit sprichst du? Höre, Praskowia Iwanowna, reize mich nicht; sprich dich augenblicklich deutlich aus, ich bitte dich, Ehre im Leibe zu haben; was für eine Wahrheit ist ans Tageslicht gekommen, und was willst du damit sagen?«
»Da sitzt sie ja, die ganze Wahrheit!« rief Praskowia Iwanowna und wies plötzlich mit dem Finger auf Maria Timofejewna. Es überwältigte sie jene verzweifelte Entschlossenheit, die sich schon gar nicht mehr um die möglichen Folgen kümmert und nur darauf bedacht ist, im gegebenen Augenblick kräftig zu treffen und zu wirken.
Maria Timofejewna, die die ganze Zeit über Praskowia Iwanowna mit heiterer Neugier betrachtet hatte, lachte jetzt fröhlich auf, als sie den auf sie gerichteten Finger der zornigen Besucherin erblickte, und bewegte sich vergnügt in ihrem Sessel hin und her.
»Herrgott, Jesus Christus, sind sie hier alle verrückt geworden?« rief Warwara Petrowna, erblaßte und sank gegen die Lehne zurück.
Sie wurde so kreideweiß, daß sogar eine allgemeine Verwirrung entstand. Stepan Trofimowitsch eilte als erster zu ihr hin; auch ich trat näher heran; sogar Lisa erhob sich von ihrem Platz, obwohl sie bei ihrem Lehnsessel stehen blieb. Am meisten aber erschrak Praskowia Iwanowna selbst: sie schrie auf, erhob sich, so gut es ging, und begann mit weinerlicher Stimme fast zu heulen:
»Mütterchen, Warwara Petrowna, verzeihen Sie mir meine bösartige Dummheit! Gebt ihr doch wenigstens einen Schluck Wasser!«
»Heule nicht, Praskowia Iwanowna, ich bitte dich darum, und Sie, meine Herren, treten Sie bitte zurück, ich brauche kein Wasser!« sagte Warwara Petrowna mit ihren blassen Lippen fest, wenn auch nicht laut.
»Mütterchen!« fuhr Praskowia Iwanowna fort, nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte. »Meine liebe Freundin, beste Warwara Petrowna, in bin zwar die Schuldige, weil ich so unvorsichtige Worte gebraucht habe, aber schon gar zu sehr haben mich diese anonymen Briefe gereizt, mit denen mich irgendwelche Menschlein dauernd bombardieren. Die können doch an Sie schreiben, da sich diese Briefe auf Sie beziehen; ich aber habe eine Tochter, Mütterchen!«
Warwara Petrowna sah sie wortlos mit weit geöffneten Augen an und hörte erstaunt zu. In diesem Augenblick öffnete sich in einer Ecke geräuschlos eine Seitentür, und Darja Pawlowna erschien. Sie blieb ein wenig stehen und sah sich um: unsere Aufregung und Verwirrung verblüffte sie. Wahrscheinlich fiel ihr auch Maria Timofejewna nicht sofort ins Auge, da ihr niemand von deren Ankunft eine Mitteilung gemacht hatte. Stepan Trofimowitsch war der erste, der die Neueintretende bemerkte; er machte eine hastige Bewegung, errötete und rief aus irgendeinem Grunde laut: »Darja Pawlowna!« so daß die Blicke aller Anwesenden sich fast gleichzeitig auf sie richteten.
»Wie? Das ist also eure Darja Pawlowna!« rief Maria Timofejewna. »Nun, Schatuschka, deine Schwester sieht dir aber gar nicht ähnlich! Wie konnte nur mein Lebiadkin eine solche Schönheit ›die leibeigene Magd Daschka‹ nennen!«
Darja Pawlowna hatte sich inzwischen schon Warwara Petrowna genähert; aber von Maria Timofejewnas Ausruf überrascht, wandte sie sich hastig um, blieb wie angewurzelt vor ihrem Stuhl stehen und sah die Närrin mit einem langen, starren Blick an.
»Setz' dich, Dascha«, sagte Warwara Petrowna mit einer erschreckenden Ruhe. »Näher! So. Du kannst dir auch im Sitzen diese Frau ansehen. Kennst du sie?«
»Ich habe sie noch nie gesehen«, erwiderte Dascha leise und fügte nach einem kurzen Schweigen hinzu: »Wahrscheinlich ist das die kranke Schwester eines Herrn Lebiadkin.«
»Auch ich sehe Sie, meine Seele, heute zum erstenmal, obwohl ich schon längst den starken Wunsch gehegt habe, Ihre Bekanntschaft zu machen, denn in jeder Ihrer Bewegungen erkenne ich die gute Erziehung«, rief Maria Timofejewna geradezu entzückt. »Und was das Schimpfen meines Lakaien anbetrifft, so gebe ich gar nichts darauf, denn es ist ja ganz ausgeschlossen, daß Sie, ein so gebildetes und liebenswürdiges Fräulein, ihm Geld weggenommen hätten? Sie sind so nett, so liebenswürdig, so liebenswürdig! Das sage ich Ihnen schon aus meiner eigenen Überzeugung!« schloß sie ganz begeistert, indem sie ihre kleine Hand vor sich heftig hin und her bewegte.
»Verstehst du etwas?« fragte mit stolzer Würde Warwara Petrowna.
»Ich verstehe alles ...«
»Hast du das von dem Gelde gehört?«
»Das ist wahrscheinlich dasselbe Geld, das ich auf Nikolaj Wsewolodowitschs noch in der Schweiz geäußerte dringende Bitte diesem Herrn Lebiadkin, ihrem Bruder, zuzustellen und auszuhändigen hatte.«
Es folgte ein Schweigen.
»Hat dich Nikolaj Wsewolodowitsch selbst darum gebeten?«
»Es lag ihm sehr viel daran, dieses Geld, im ganzen dreihundert Rubel, Herrn Lebiadkin zu übersenden. Und da er dessen Adresse nicht kannte und nur in Erfahrung gebracht hatte, daß er in unsere Stadt ziehen wollte, so gab er mir das Geld und bat mich, es Herrn Lebiadkin auszuhändigen, falls dieser in der Tat herkäme.«
»Was für Geld ist denn ... verlorengegangen? Was meinte eben diese Frau?«
»Das ist schon etwas, was ich nicht weiß. Auch mir ist es zu Ohren gekommen, daß Herr Lebiadkin anderen Leuten von mir erzählte, ich hätte ihm nicht alles Geld zugestellt; aber diese Behauptung ist mir unverständlich. Es waren dreihundert Rubel, und ich habe ihm dreihundert Rubel übersandt.«
Darja Pawlowna hatte sich bereits fast vollständig beruhigt. Ich will überhaupt sagen, daß es ziemlich schwer war, dieses Mädchen durch irgend etwas auf längere Zeit zu verblüffen und aus der Fassung zu bringen, – sie wußte ihre Empfindungen, mochten sie auch noch so heftig sein, geradezu glänzend zu beherrschen. Alles, was sie jetzt sagte, sprach sie ohne Eile, antwortete sofort auf jede Frage ruhig, leise und bestimmt, ohne die geringste Spur ihrer ursprünglichen plötzlichen Aufregung und ohne die leiseste Verwirrung, die von irgendeinem Schuldbewußtsein hätte zeugen können. Warwara Petrownas Blick hing an ihr ununterbrochen während der ganzen Zeit, in der sie sprach. Eine Minute lang überlegte sich Warwara Petrowna etwas, und dann sagte sie endlich in festem Tone und offenbar in der Absicht, von allen gehört und verstanden zu werden, obwohl sie eigentlich nur Dascha ansah:
»Wenn Nikolaj Wsewolodowitsch sich mit seinem Auftrag nicht einmal an mich, sondern an dich gewandt hat, so muß er wohl seine Gründe zu einer solchen Handlungsweise gehabt haben. Ich halte mich nicht für berechtigt, nach ihnen zu forschen, wenn man sie mir gegenüber zu verheimlichen sucht. Aber schon die Tatsache, daß auch du dich an dieser Angelegenheit beteiligt hast, beruhigt mich vollkommen. Behalte das vor allen Dingen im Auge, Darja. Aber siehst du, liebes Kind, du konntest auch mit bestem Gewissen, einfach deiner Unkenntnis der Welt zufolge, eine Unvorsichtigkeit begehen; und das tatest du auch, indem du es übernommen hast, dich mit irgendeinem Schurken in Verbindung zu setzen. Die Gerüchte, die dieser Taugenichts verbreitet, bestätigen, daß du tatsächlich einen Fehler begangen hast. Indessen werde ich über ihn Erkundigungen einziehen und dich schon als deine Beschützerin zu verteidigen wissen. Jetzt aber muß dieser ganzen Sache ein Ende gemacht werden.«
»Am besten ist es,« fiel ihr Maria Timofejewna ins Wort, indem sie sich aus ihrem Lehnstuhl vorstreckte, »wenn Sie ihn, falls er zu Ihnen kommen sollte, in die Lakaienstube schicken. Mag er dort auf der Bank sitzen und mit den übrigen Dienern Karten spielen, wir können hier inzwischen Kaffee trinken. Allenfalls könnte man ihm noch eine Tasse Kaffee hinunterschicken, aber ich verachte ihn sehr tief.«
Und sie schüttelte vielsagend den Kopf.
»Es muß Schluß gemacht werden«, wiederholte Warwara Petrowna, nachdem sie Maria Timofejewnas Äußerung aufmerksam angehört hatte. »Stepan Trofimowitsch, klingeln Sie bitte.«
Stepan Trofimowitsch klingelte und trat plötzlich ganz aufgeregt vor.
»Wenn ... wenn ich ...« murmelte er eifrig, errötete, stockte und stammelte, »wenn auch ich diese höchst widerwärtige Geschichte oder, besser gesagt, diese Verleumdung gehört habe, so ... mit der größten Entrüstung ... enfin c'est un homme perdu et quelque chose comme un forçat évadé ...«
Er brach ab und sprach nicht zu Ende. Warwara Petrowna kniff die Augen zusammen und musterte ihn vom Kopf bis zu den Zehen. Nun trat der manierliche Alexej Jegorowitsch ins Zimmer.
»Den Wagen!« befahl Warwara Petrowna. »Und du, Alexej Jegorytsch, mach dich bereit, Fräulein Lebiadkina nach Hause zu bringen, sie wird dir schon selbst sagen wohin.«
»Herr Lebiadkin wartet schon seit einiger Zeit selbst unten und hat sehr gebeten, ihn anzumelden.«
»Das ist ganz unmöglich, Warwara Petrowna«, sagte nun unruhig Mawrikij Nikolajewitsch, der bis dahin geschwiegen hatte, und trat vor. »Wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, so erlaube ich mir zu sagen, daß dieser Mensch nicht in anständiger Gesellschaft empfangen werden kann. Das ... das ... das ist ein unmöglicher Mensch, Warwara Petrowna.«
»Er soll warten«, sagte Warwara Petrowna zu Alexej Jegorytsch, und dieser ging aus dem Zimmer.
»C'est un homme malhonnête, et je crois même, que c'est un forçat évadé, ou quelque chose dans ce genre«, murmelte wieder Stepan Trofimowitsch, wurde von neuem rot und sprach abermals seinen Gedanken nicht zu Ende aus.
»Lisa, es ist Zeit, daß wir nach Hause fahren«, erklärte Praskowia Iwanowna mit einer verächtlichen Miene und erhob sich von ihrem Platz. – Es tat ihr jetzt wahrscheinlich bereits leid, daß sie sich vorhin in ihrer Angst selbst als dumm bezeichnet hatte. Während Darja Pawlowna sprach, hörte sie schon wieder mit dem hochmütigen Zug um den Mund zu. Am meisten verblüffte mich aber der Gesichtsausdruck Lisaweta Nikolajewnas seit dem Eintritt Darja Pawlownas: in ihren Augen funkelten schon gar zu unverhohlen Haß und Verachtung.
»Warte doch bitte einen Augenblick, Praskowia Iwanowna«, hielt sie Warwara Petrowna immer noch mit der gleichen, übermäßigen Ruhe zurück. »Tu mir einen Gefallen und setz' dich wieder: ich möchte mich ganz aussprechen, und dir tun ja die Füße weh. So ist's recht, ich danke dir. Vorhin war ich außer mir geraten und habe dir einige ungeduldige Worte gesagt. Habe die Güte und verzeih es mir: das war dumm von mir, und ich bereue es selbst als erste, weil ich in allen Dingen Gerechtigkeit liebe. Natürlich bist auch du ungehalten geworden und hast dabei irgendwelche anonymen Briefe erwähnt. Jede anonyme Nachricht ist schon deshalb der Verachtung wert, weil sie nicht unterschrieben ist. Wenn du anderer Ansicht bist, so beneide ich dich nicht darum. Jedenfalls hätte ich an deiner Stelle keineswegs solche Gemeinheiten ans Tageslicht hervorgeholt und hätte mich nicht damit beschmutzt. Du aber hast dich besudelt. Da jedoch du selbst damit begonnen hast, so will ich dir sagen, daß auch ich vor etwa sechs Tagen einen solchen anonymen Brief von irgendeinem Hanswurst erhalten habe. Der Taugenichts, der ihn geschrieben hat, versichert mir darin, Nikolaj Wsewolodowitsch habe den Verstand verloren, und ich müßte mich vor einer lahmen Person hüten, die ›in meinem Schicksal eine außerordentliche Rolle spielen würde‹. Ich habe mir diesen Ausdruck gemerkt. Ich überlegte mir die Sache, und da ich weiß, daß Nikolaj Wsewolodowitsch hier ungemein viele Feinde hat, so ließ ich sofort einen hiesigen Einwohner, einen heimlichen, aber den rachsüchtigsten und verächtlichsten seiner Feinde, zu mir rufen und überzeugte mich im Gespräch mit ihm sofort von dem Ursprung des anonymen Briefes. Wenn man nun, meine arme Praskowia Iwanowna, auch dich meinetwegen beunruhigt und, wie du sagst, mit ebenso verachtungswürdigen anonymen Briefen ›bombardiert‹ hatte, so bedaure ich es natürlich sehr, unschuldigerweise dazu den Grund abgegeben zu haben. Das ist alles, was ich dir zur Erklärung mitteilen wollte. Mit Bedauern sehe ich, daß du so müde und so sehr außer dir bist. Außerdem bin ich fest entschlossen, diesen verdächtigen Menschen hereinzulassen, von dem Mawrikij Nikolajewitsch soeben nicht ganz zutreffend gesagt hatte, daß es unmöglich sei, ihn zu empfangen. Besonders Lisa wird dabei nichts zu tun haben. Komm mal her, Lisa, meine Liebe, und laß dich noch einmal küssen.«
Lisa durchschritt das Zimmer und blieb schweigend vor Warwara Petrowna stehen. Diese küßte sie, faßte sie an beiden Händen, schob sie ein wenig von sich zurück, sah sie gefühlvoll an, bekreuzte sie dann und küßte sie noch einmal.
»Nun leb' wohl, Lisa«, sagte Warwara Petrowna, und ihre Stimme klang so, als ob sie Tränen unterdrückte. »Sei überzeugt, daß ich nicht aufhören werde, dich zu lieben, was dir auch dein Schicksal von nun an bringen mag ... Gott mit dir! Ich habe immer Seine heilige Hand gesegnet ...«
Sie wollte noch etwas hinzufügen, nahm sich aber zusammen und hielt inne. Lisa begab sich, immer noch schweigend, auf ihren Platz zurück, schien immer noch in ihre Gedanken versunken zu sein, blieb dann aber plötzlich vor ihrer Mutter stehen.
»Ich werde noch nicht heimfahren, Mama, ich bleibe noch eine Weile bei der Tante«, sagte sie mit einer leisen Stimme, aber in ihren Worten klang eine eiserne Entschlossenheit.
»Mein Gott, was soll denn das wieder!« jammerte Praskowia Iwanowna und schlug machtlos die Hände zusammen. Aber Lisa gab ihr keine Antwort; sie schien nicht einmal die Worte ihrer Mutter gehört zu haben; sie setzte sich auf ihren früheren Platz in der Ecke und begann von neuem starr irgendwohin in die Luft zu blicken.
Etwas Stolzes und Siegesbewußtes leuchtete im Gesicht Warwara Petrownas auf.
»Mawrikij Nikolajewitsch, ich habe eine außerordentlich große Bitte an Sie: tun Sie mir den Gefallen, gehen Sie nach unten und sehen Sie sich diesen Menschen an. Wenn es nur einigermaßen möglich ist, ihn hereinzulassen, dann bringen Sie ihn bitte hierher!«
Mawrikij Nikolajewitsch verbeugte sich und ging hinaus. Eine Minute darauf führte er Herrn Lebiadkin in den Salon hinein.
Ich habe schon seinerzeit etwas von dem Äußeren dieses Herrn gesagt: er war hochgewachsen, kraushaarig, vierschrötig, etwa vierzig Jahre alt, mit einem roten, etwas aufgedunsenen und schwammigen Gesicht, mit Backen, die bei jeder Kopfbewegung zitterten, mit kleinen, blutunterlaufenen, mitunter recht schlau dreinblickenden Augen, mit Schnurrbart und Backenbart und einem hervorragenden fleischigen Adamsapfel von ziemlich unangenehmer Form. Was aber an ihm jetzt am meisten überraschte, war der Umstand, daß er im Frack und vollkommen reiner Wäsche erschienen war. »Es gibt Menschen, bei denen reine Wäsche geradezu unanständig aussieht«, hatte Liputin einmal erwidert, als ihm Stepan Trofimowitsch einen scherzhaften Vorwurf wegen seiner Unsauberkeit machte. Der Hauptmann hatte auch schwarze Handschuhe, von denen er den rechten noch nicht angezogen hatte und in der Hand hielt, während der linke, straff anliegend und nicht zugeknöpft, nur bis zur Hälfte seine dicke linke Tatze bedeckte, in der er einen ganz neuen, glänzenden und bestimmt zum erstenmal in Gebrauch genommenen runden Hut hielt. Es erwies sich also, daß der »Liebesfrack«, von dem er gestern Schatow etwas zugerufen hatte, in der Tat vorhanden war. Das alles, das heißt sowohl der Frack als auch die saubere Wäsche, war, wie ich später erfuhr, auf Liputins Anraten für irgendwelche geheimen Zwecke angeschafft und zurückgelegt worden. Auch konnte gar kein Zweifel daran bestehen, daß Lebiadkin auch jetzt ebenfalls nur auf fremde Anweisung und mit irgend jemandes Beihilfe auf den Gedanken gekommen war, in einer Droschke hierherzukommen; allein hätte er sich in kaum dreiviertel Stunden bestimmt nicht entschließen und sich anziehen und fertigmachen können, selbst wenn man annehmen will, daß er von der Szene in der Vorhalle des Doms sofort Nachricht erhalten hatte. Er war nicht betrunken, befand sich aber in jenem schweren, benommenen, dumpfen Zustande eines Menschen, der nach mehreren Tagen ununterbrochenen Trinkens plötzlich wieder einmal erwacht und zur Besinnung kommt. Man hatte den Eindruck, als würde es genügen, ihn ein paarmal mit der Hand an der Schulter hin und her zu rütteln, um ihn sofort wieder der Wirkung des Rausches voll und ganz auszuliefern.
Er wollte sicher und forsch in den Salon eintreten, stolperte aber an der Tür über den Teppich. Maria Timofejewna schüttelte sich förmlich vor Lachen. Er sah sie mit bestialischer Wut an und machte dann plötzlich einige schnelle Schritte auf Warwara Petrowna zu.
»Ich bin gekommen, gnädige Frau ...« donnerte er los, wie wenn er in ein Sprachrohr hineinschrie.
»Tun Sie mir den Gefallen, mein Herr,« sagte Warwara Petrowna, sich aufrichtend, »und nehmen Sie dort Platz, auf jenem Stuhle. Ich werde Sie auch von dort aus hören, und außerdem kann ich Sie so besser betrachten.«
Der Hauptmann blieb stehen, starrte stumpfsinnig vor sich hin, drehte sich aber dennoch um und setzte sich auf den ihm angewiesenen Platz dicht an der Tür. Ein starker Mangel an Selbstvertrauen, zugleich damit aber auch Frechheit und eine sonderbare, ununterbrochene Reizbarkeit spiegelten sich in dem Ausdruck seines Gesichts. Man sah deutlich, daß er schreckliche Angst hatte. Aber auch sein Selbstgefühl litt darunter, und es war nicht schwer zu erraten, daß er eben dieser verletzten Eigenliebe zufolge, trotz seiner großen Angst, bei Gelegenheit vor keiner Frechheit haltmachen würde. Anscheinend machte ihm jede Bewegung seines ungelenken Körpers die größten Sorgen. Bekanntlich rührt das Hauptunglück aller solcher Herren, wenn sie durch irgendeinen wunderlichen Zufall in gute Gesellschaft geraten, von ihren eigenen Händen her und von dem ständigen Bewußtsein der vollkommenen Unmöglichkeit, diese irgendwie anständig unterzubringen. Der Hauptmann erstarrte förmlich auf seinem Stuhl, hielt den Hut und die Handschuhe krampfhaft fest und wandte seinen verstörten Blick nicht von dem strengen Gesicht Warwara Petrownas. Er hätte sich vielleicht ganz gern einmal umgesehen, wagte es aber vorläufig noch nicht. Maria Timofejewna, die ihn anscheinend wieder sehr lächerlich fand, kicherte von neuem los; aber er rührte sich nicht einmal. Warwara Petrowna ließ ihn erbarmungslos ziemlich lange, wohl eine ganze Minute lang, in dieser Stellung bleiben und musterte ihn ganz schonungslos.
»Vor allen Dingen möchte ich Ihren Namen von Ihnen selbst erfahren«, sagte sie dann gemessen und nachdrücklich.
»Hauptmann Lebiadkin«, donnerte der Hauptmann. »Ich bin gekommen, gnädige Frau ...« Und er wollte sich schon wieder von seinem Platz erheben.
»Gestatten Sie!« hielt ihn Warwara Petrowna abermals zurück. »Ist diese bemitleidenswerte Person, die so sehr mein Interesse erregt hat, wirklich Ihre Schwester?«
»Jawohl, gnädige Frau, sie ist meine Schwester, die der Aufsicht entronnen ist, denn sie befindet sich in einem solchen Zustande ...«
Er stockte plötzlich und wurde feuerrot.
»Fassen Sie es bitte nicht falsch auf, gnädige Frau«, fuhr er fort. Er war in furchtbare Verlegenheit geraten. »Ich werde doch als leiblicher Bruder nichts Beschimpfendes sagen ... Der Zustand, von dem ich sprach, ist nicht der Zustand ... in einem dem Ruf abträglichen Sinne ... im letzten Stadium ...«
Er brach plötzlich ab.
»Mein Herr!« rief Warwara Petrowna und hob den Kopf in die Höhe.
»Sie ist in einem solchen Zustande!« schloß der Hauptmann plötzlich, indem er sich mit dem Finger mitten auf die Stirn tippte. Es folgte ein kurzes Schweigen.
»Ist sie schon lange leidend?« fragte Warwara Petrowna etwas gedehnt.
»Gnädige Frau, ich bin gekommen, um Ihnen für die in der Vorhalle des Doms erwiesene Großmut zu danken, und zwar auf echt russische Art, brüderlich ...«
»Brüderlich?!«
»Das heißt brüderlich eigentlich nur in dem Sinne, daß ich eben der Bruder meiner Schwester bin und ... glauben Sie mir, gnädige Frau,« fuhr er hastig fort, indem er wieder errötete, »daß ich durchaus nicht so ungebildet bin, wie ich in Ihrem Salon auf den ersten Blick vielleicht erscheinen mag. Wir, meine Schwester und ich, sind ein Nichts, gnädige Frau, im Vergleich zu der Pracht, die uns hier auffällt. Zumal wir auch uns verleumdende Feinde haben. Aber auf seinen Ruf ist Lebiadkin stolz, gnädige Frau, und ... und ... ich bin gekommen, um zu danken ... Hier ist das Geld, gnädige Frau!«
Hier holte er hastig eine Brieftasche hervor, entnahm ihr ein Päckchen Banknoten und begann unter ihnen mit zitternden Fingern in einem ganz unbeschreiblichen Anfall von Ungeduld zu suchen. Man sah deutlich, daß ihm viel daran lag, irgend etwas so rasch wie möglich aufzuklären, und daß diese Aufklärung auch durchaus nottat; offenbar aber merkte er selbst, daß das Herumkramen in dem Gelde ihm ein noch dümmeres Aussehen verlieh und verlor daher den letzten Rest der Selbstbeherrschung. Das Geld wollte sich durchaus nicht zusammenzählen lassen, es war, als seien ihm die eigenen Finger im Wege, und zur Vervollständigung der Blamage flog plötzlich eine grüne Banknote aus der Brieftasche im Zickzack auf den Teppich.
»Zwanzig Rubel, gnädige Frau«, rief er und sprang plötzlich mit dem Banknotenpäckchen in der Hand auf. Sein Gesicht war von der ausgestandenen Pein mit Schweiß bedeckt. Als er die herausgefallene Banknote am Fußboden bemerkte, wollte er sich schon bücken, um sie aufzuheben. Aber aus irgendeinem Grunde glaubte er sich dessen schämen zu müssen und machte eine verzichtende Handbewegung.
»Für Ihre Leute, gnädige Frau, für den Diener, der es aufheben wird; mag er sich an Lebiadkin erinnern!«
»Das kann ich auf keinen Fall zulassen«, versetzte Warwara Petrowna eilig und etwas erschrocken.
»In diesem Falle ...«
Er bückte sich, hob den Schein auf, wurde wieder dunkelrot im Gesicht, trat dann plötzlich an Warwara Petrowna heran und hielt ihr das abgezählte Geld hin.
»Was soll denn das?« rief Warwara Petrowna, die nunmehr ganz in Angst geriet, und bog sich sogar in ihrem Lehnsessel zurück. Mawrikij Nikolajewitsch, ich und Stepan Trofimowitsch taten jeder ein paar Schritte vorwärts.
»Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich, ich bin nicht wahnsinnig, ich bin bei Gott nicht wahnsinnig!« versicherte der Hauptmann in größter Aufregung nach allen Seiten hin.
»Doch, mein Herr, Sie sind verrückt geworden.«
»Gnädige Frau, das stimmt alles nicht, was Sie denken! Ich bin natürlich nur ein unbedeutendes Glied in der Kette ... Oh, gnädige Frau, reich sind Ihre Prunkgemächer, aber arm sind die Zimmer meiner Schwester Maria Unbekannt, der geborenen Lebiadkina, die wir vorläufig Maria Unbekannt nennen wollen, vorläufig, gnädige Frau, nur vorläufig, denn für immer wird das Gott selbst nicht zulassen! Gnädige Frau, Sie haben ihr zehn Rubel gegeben, und sie hat sie angenommen, aber nur, weil es von Ihnen kam, gnädige Frau! Hören Sie, gnädige Frau! Von niemanden in der Welt hätte die Maria Unbekannt irgend etwas angenommen, sonst müßte sich ihr Großvater im Grabe umdrehen, der Stabsoffizier war und im Kaukasus vor Jermolows eigenen Augen fiel. Aber von Ihnen, gnädige Frau, von Ihnen wird sie alles annehmen. Aber mit einer Hand wird sie es nehmen und mit der anderen wird sie Ihnen das Doppelte geben in Gestalt einer Spende für eins der Wohltätigkeitskomitees der Hauptstadt, deren Mitglied Sie, gnädige Frau, sind ... wie sie auch selbst, gnädige Frau, in den ›Moskauer Nachrichten‹ bekannt gegeben haben, daß bei Ihnen hier in unserer Stadt das Zeichnungsbuch einer wohltätigen Vereinigung ausliegt, in das sich jeder eintragen kann ...«
Der Hauptmann brach plötzlich ab; er atmete schwer, wie wenn er soeben irgendeine große und schwere Heldentat vollbracht hätte. Diese ganze Rede vom Wohltätigkeitskomitee war anscheinend schon rechtzeitig vorbereitet worden und vielleicht ebenfalls unter Liputins Redaktion. Der Hauptmann schwitzte jetzt noch mehr als vorhin; die großen Schweißtropfen traten ihm buchstäblich an den Schläfen hervor. Warwara Petrowna sah ihn durchdringend an.
»Dieses Buch«, sagte sie streng, »befindet sich unten bei meinem Portier, dort können Sie Ihre Gabe eintragen, wenn Ihnen daran gelegen ist. Deshalb bitte ich Sie, jetzt Ihr Geld einzustecken und damit nicht in der Luft umherzufuchteln. So ist es gut. Auch bitte ich Sie, Ihren früheren Platz wieder einzunehmen. So. Ich bedaure sehr, mein Herr, daß ich mich in bezug auf den Wohlstand Ihrer Schwester geirrt und ihr eine Unterstützung gegeben habe, während sie so reich ist. Ich verstehe nur nicht, weshalb sie von mir allein etwas annehmen kann und sich von keinem anderen je etwas geben lassen würde. Sie haben das so sehr hervorgehoben, daß ich jetzt unbedingt eine ganz genaue Erklärung verlange.«
»Gnädige Frau, das ist ein Geheimnis, das erst im Sarge begraben werden kann!« antwortete der Hauptmann.
»Warum denn?« fragte Warwara Petrowna, aber nicht mehr so fest und entschieden wie vorhin.
»Gnädige Frau, gnädige Frau! ...«
Er verstummte mit finsterer Miene, senkte den Blick zu Boden und drückte die rechte Hand aufs Herz. Warwara Petrowna wartete, ohne die Augen von ihm abzuwenden.
»Gnädige Frau,« brüllte er auf einmal los, »gestatten Sie, daß ich Ihnen eine Frage vorlege, nur eine einzige, aber offen, geradeaus, nach russischer Art, recht von Herzen?«
»Bitte sehr.«
»Haben Sie in Ihrem Leben gelitten, gnädige Frau?«
»Sie wollen also einfach sagen, daß Sie selbst von jemanden zu leiden gehabt haben oder noch immer zu leiden haben?«
»Gnädige Frau, gnädige Frau!« rief er, sprang auf einmal wieder auf, wahrscheinlich ohne sich dessen selbst bewußt zu sein und schlug sich gegen die Brust. »Hier, in diesem Herzen hat sich so viel angesammelt, hier brodelt so viel, daß der liebe Herrgott sich selbst wundern wird, wenn das alles beim Jüngsten Gericht zutage kommt!«
»Hm! Das ist stark ausgedrückt.«
»Gnädige Frau, ich spreche vielleicht eine gereizte Sprache ...«
»Seien Sie unbesorgt, ich weiß selbst, wann es nötig sein wird, Sie anzuhalten.«
»Darf ich Ihnen noch eine Frage vorlegen, gnädige Frau?«
»Bitte.«
»Kann man einzig und allein am Edelmut der eigenen Seele sterben?«
»Ich weiß nicht, ich habe mich mit dieser Frage noch nie beschäftigt.«
»Sie wissen nicht! Sie haben sich mit dieser Frage noch nie beschäftigt!!« rief er mit pathetischer Ironie. »Wenn dem so ist, wenn dem so ist, dann –
›Schweig still, o mein Herz, ohne Hoffnung!‹ –«
Und er schlug sich wie rasend auf die Brust.
Er ging schon wieder im Zimmer auf und ab. Es ist eine auffällige Eigenschaft dieser Art Menschen, daß sie völlig außerstande sind, ihre Wünsche in ihrem Innern zu zähmen; im Gegenteil: sie verspüren einen unüberwindlichen Drang, diese sofort nach ihrem Entstehen, sogar in ihrer ganzen Unsauberkeit zu äußern. Wenn ein solcher Herr in eine Gesellschaft gerät, in die er nicht hineinpaßt, so benimmt er sich gewöhnlich anfangs schüchtern, aber kaum gibt man ihm auch nur im geringsten nach, so geht er sofort zu Dreistigkeiten über. Der Hauptmann war bereits in Eifer geraten, ging auf und ab, fuchtelte mit den Armen, hörte nicht auf die Fragen, die man ihm stellte, und sprach von sich selbst so hastig, daß seine Zunge mitunter nicht mitkonnte, und er, ohne den begonnenen Satz zu Ende zu führen, auf einen anderen übersprang. Allerdings war er wohl nicht ganz nüchtern. Auch saß Lisaweta Nikolajewna dabei, die er zwar nicht ein einziges Mal ansah, deren Gegenwart ihn aber offenbar sehr zu irritieren schien. Übrigens ist das nur eine Vermutung von mir. Warwara Petrowna mußte aber jedenfalls einen Grund gehabt haben, demzufolge sie ihren Widerwillen überwand und sich entschloß, einen solchen Menschen anzuhören. Praskowia Iwanowna bebte einfach vor Angst, obwohl sie eigentlich, wie es mir schien, gar nicht begriff, um was es sich handelte. Stepan Trofimowitsch zitterte ebenfalls, aber wohl im Gegensatz zu Praskowia Iwanowna, nur weil er stets geneigt war, zuviel zu verstehen. Mawrikij Nikolajewitsch stand da in der Pose des allgemeinen Beschützers. Lisa war ganz blaß und sah mit weit aufgerissenen Augen ohne Unterlaß auf den sich wild gebärdenden Hauptmann. Schatow saß in seiner früheren Haltung da. Was mir aber am seltsamsten erschien, war der Umstand, daß Maria Timofejewna nicht nur aufgehört hatte zu lachen, sondern sogar schrecklich traurig geworden war. Sie stützte sich mit dem rechten Ellbogen auf den Tisch und verfolgte mit einem langen und traurigen Blick ihren deklamierenden Bruder. Nur Darja Pawlowna schien ganz ruhig zu sein.
»Das alles sind ja ganz törichte Allegorien!« rief Warwara Petrowna endlich ärgerlich. »Sie haben mir noch nicht auf meine Frage: Warum? geantwortet. Ich warte noch immer auf Ihre Antwort darauf.«
»Ich habe nicht geantwortet? Warum? Sie warten noch auf meine Antwort auf Ihre Frage: Warum?«, erwiderte der Hauptmann, indem er mit den Augen zwinkerte. »Dieses kleine Wörtchen ›Warum‹ liegt im ganzen Weltall schon seit dem ersten Schöpfungstage überall verbreitet, und die ganze Natur schreit jeden Augenblick ihrem Schöpfer dieses ›Warum‹ zu und bekommt schon seit siebentausend Jahren keine Antwort. Soll denn wirklich nur der Hauptmann Lebiadkin darauf antworten? Wird das gerecht sein, gnädige Frau?«
»Das ist alles Unsinn und nicht, was ich wissen will!« rief zornig Warwara Petrowna, die ihre Geduld zu verlieren schien. »Das sind Allegorien; außerdem erlauben Sie sich, allzu hochfahrend zu sprechen, mein Herr, was ich für eine Frechheit halte.«
»Gnädige Frau,« redete der Hauptmann weiter, ohne auf Warwara Petrowna zu hören, »es wäre mir vielleicht sehr lieb, wenn ich Ernest hieße, während ich genötigt bin, den gemeinen Namen Ignat zu tragen. Warum das? Was glauben Sie wohl? Ich würde vielleicht ganz gerne Fürst de Montbard heißen und trage nur den Namen Lebiadkin, – warum das? Ich bin ein Dichter, gnädige Frau, in meinem Innern bin ich ein Dichter und könnte vielleicht tausend Rubel von einem Verleger erhalten, während ich genötigt bin, in einem Spüleimer zu leben, warum das? Warum? Gnädige Frau! Meiner Meinung nach ist Rußland nichts weiter als ein Naturspiel!«
»Können Sie wirklich nichts Bestimmtes und zur Sache Gehörendes sagen?«
»Ich kann Ihnen das Gedicht ›Die Schabe‹ vorlesen, gnädige Frau!«
»W–a–as?«
»Gnädige Frau, ich bin noch nicht wahnsinnig! Ich werde einmal wahnsinnig werden, aber vorläufig bin ich es noch nicht! Gnädige Frau, ein Freund von mir, ein sehr e–de–ler Mensch, hat eine Krylowsche Fabel unter dem Titel ›Die Schabe‹ geschrieben. Darf ich sie vorlesen?«
»Sie wollen mir eine Fabel von Krylow vortragen?«
»Nein, nicht eine Krylowsche Fabel will ich Ihnen vortragen, sondern eine Fabel von mir, eine eigene, selbstverfaßte Dichtung! Seien Sie überzeugt, gnädige Frau, daß Sie sich nichts vergeben, wenn Sie annehmen, daß ich durchaus nicht so ungebildet und verkommen bin, um nicht zu wissen, daß Rußland den großen Fabeldichter Krylow hat, dem der Kultusminister im Sommergarten ein Denkmal errichtet hat, auf daß die Kinder darum herumspielen können. Sie fragen mich, gnädige Frau: ›Warum!‹ Die Antwort liegt mit feurigen Lettern auf dem Grunde dieser Fabel geschrieben!«
»Nun, dann tragen Sie schon Ihre Fabel vor.«
»– Eine Schabe lebte mal,
Sie war seit Kindheit Schabe.
Doch sie fiel in den Pokal,
Der Fliegen ward zum Grabe.«
»Mein Gott, was ist das?!« rief Warwara Petrowna.
»Das heißt, wenn im Sommer,« beeilte sich der Hauptmann mit der gereizten Ungeduld eines Autors, den man daran hindert, sein Werk vorzutragen, unter rasendem Umherfuchteln mit den Händen zu erklären, »das heißt, wenn im Sommer die Fliegen in so einen Pokal hineinkriechen, so wird er ihnen zum Grabe. Das kann doch jeder Dummkopf verstehen! Unterbrechen Sie mich bitte nicht, unterbrechen Sie mich nicht! Sie werden schon sehen, Sie werden schon sehen ...«, und er fuchtelte immer noch mit den Händen.
»Die Fliegen murrten, als sie fiel
Hinein in ihr Gedränge.
Sie schrien zu Zeus sehr laut und viel,
Es wäre gar zu enge.
Dieweil sie schrien zu Zeus hinan,
Kam zum Pokal Nikifor,
Ein hoch–wohl–ed–ler alter Mann ...
Weiter habe ich es noch nicht geschrieben, aber das ist einerlei, ich werde es Ihnen einfach weiter sagen!« fuhr der Hauptmann fort zu schwatzen. »Nikifor nimmt also den Pokal und schüttet trotz des Geschreis der Fliegen die ganze Komödie, das heißt sowohl die Fliegen als auch die Schabe, in den Mülleimer hinaus, was schon längst hätte geschehen müssen. Aber beachten Sie wohl, gnädige Frau: die Schabe murrt nicht! Hier haben Sie die Antwort auf Ihre Frage: Warum?!« rief er triumphierend. »Die Scha–be murrt nicht! Was aber Nikifor anbetrifft, so stellt er die Natur dar«, fügte er hastig hinzu und begann wieder selbstzufrieden im Zimmer auf und ab zu gehen.
Warwara Petrowna geriet in furchtbaren Zorn.
»Wollen Sie mir aber vielleicht sagen, wie Sie dazu kommen, eine zu meinem Hause gehörige Person einer Unterschlagung des Ihnen angeblich von Nikolaj Wsewolodowitsch gesandten Geldes zu beschuldigen?«
»Das ist eine Verleumdung!« brüllte der Hauptmann und hob mit tragischer Miene die rechte Hand in die Höhe.
»Nein, das ist keine Verleumdung.«
»Gnädige Frau, es gibt Umstände, die einen Mann zwingen können, eher die Schande seiner Familie zu ertragen, als die Wahrheit laut auszusprechen. Lebiadkin wird sich nicht verplappern, gnädige Frau!«
Er war wie geblendet; er war unter der Einwirkung irgendeiner Eingebung; er empfand seine Wichtigkeit; gewiß bildete er sich irgend etwas ein. Schon fühlte er in sich den Wunsch, zu beleidigen, irgend etwas Schmutziges anzurichten, seine Macht zu zeigen.
»Bitte klingeln Sie, Stepan Trofimowitsch«, bat Warwara Petrowna.
»Lebiadkin ist schlau, gnädige Frau!« sagte er, indem er Warwara Petrowna mit einem häßlichen Lächeln zuzwinkerte. »Er ist schlau, aber auch für ihn gibt es ein Hindernis, auch für ihn gibt es eine Vorhalle der Leidenschaften! Und diese Vorhalle ist die alte Husarenfeldflasche, die Denis Dawydow besungen hat. Und wenn er sich einmal in dieser Vorhalle befindet, gnädige Frau, dann geschieht es mitunter, daß er einen gereimten herrlichen Brief abschickt, den er dann mit den Tränen seines ganzen Lebens wieder zurückkaufen möchte, weil doch sonst das Gefühl des Schönen verletzt wird. Aber wenn ein Vogel einmal ausgeflogen ist, kann man ihn nicht mehr am Schwanze einfangen! Und gerade in dieser Vorhalle, gnädige Frau, konnte Lebiadkin auch irgend etwas in seiner Entrüstung der durch Kränkungen aufgewühlten Seele über ein edles Mädchen gesagt haben, was dann von seinen Verleumdern ausgenutzt wurde. Aber Lebiadkin ist schlau, gnädige Frau! Und vergebens sitzt der grausame Wolf erwartungsvoll vor ihm und gießt ihm immer wieder ein und lauert auf den Schluß: Lebiadkin wird sich nicht verplappern, und auf dem Boden der Flasche findet sich stets statt des Erwarteten nur – Lebiadkins Schlauheit! Aber genug, oh, genug! Gnädige Frau, Ihre prächtigen Gemächer könnten dem Edelsten aller Menschen gehören, aber die Schabe murrt nicht! Merken Sie sich das, achten Sie darauf, daß die Schabe nicht murrt, und erkennen Sie die Größe ihres Geistes an!«
In diesem Augenblick ertönte unten aus der Portierloge die Glocke, und fast gleich darauf erschien Alexej Jegorytsch, der auf Stepan Trofimowitschs Klingeln etwas zu spät heraufgekommen war. Der alte, sonst so würdige Diener befand sich in einer ungewöhnlich starken Aufregung.
»Nikolaj Wsewolodowitsch ist soeben in der Stadt angekommen und wird gleich hier sein«, sagte er als Antwort auf Warwara Petrownas fragenden Blick.
Ich erinnere mich besonders gut an ihr Aussehen in diesem Augenblick: anfangs wurde sie blaß, dann aber begannen ihre Augen plötzlich zu funkeln. Sie richtete sich in ihrem Lehnstuhl mit der Miene festester Entschlossenheit gerade auf.
Auch alle übrigen Anwesenden waren überrascht. Die ganz unverhoffte Ankunft Nikolaj Wsewolodowitschs, den wir erst in etwa einem Monat erwarteten, war nicht nur durch ihre Unverhofftheit seltsam, sondern besonders auch noch dadurch, daß sie so verhängnisvoll mit der augenblicklichen Situation zusammentraf. Selbst der Hauptmann blieb wie eine Säule mitten im Zimmer stehen, sperrte den Mund auf und sah mit einem furchtbar dummen Gesichtsausdruck nach der Tür hin.
Und nun ließen sich aus dem anstoßendem Saale, einem langen und großen Zimmer, hastige und sich nähernde Schritte vernehmen. Sie waren klein und folgten außerordentlich rasch aufeinander. Es klang so, als ob jemand angerollt käme und plötzlich in den Salon hineinstürzte.
Aber es war gar nicht Nikolaj Wsewolodowitsch, sondern ein uns allen unbekannter junger Mensch.
Ich erlaube mir hier einen Augenblick mit meiner Erzählung innezuhalten und diese plötzlich erschienene Person, wenn auch nur mit einigen flüchtigen Strichen, zu skizzieren.
Der Unbekannte war ein junger Mann von etwa siebenundzwanzig Jahren, ein wenig über Mittelgröße, mit dünnem, spärlichem, blondem, ziemlich langem Haar und stoppelartig hervortretendem, eigentlich erst sich andeutendem Bart und Schnurrbart. Er war sauber und modern, aber nicht stutzerhaft gekleidet. Auf den ersten Blick erschien er etwas krumm und ungelenk, aber er erwies sich im Gegenteil sogar als sehr gewandt und flink. Er machte wohl den Eindruck eines Sonderlings, aber alle fanden nachher seine Manieren sehr anständig und alles, was er sagte, sehr passend und sachlich.
Niemand kann behaupten, daß der junge Mensch häßlich sei, aber sein Gesicht gefällt doch keinem Menschen. Sein Kopf ist nach hinten verlängert und an den Seiten zusammengedrückt, so daß sein Gesicht spitz und scharf erscheint. Seine Stirn ist hoch und schmal, die Gesichtszüge dagegen klein; seine Augen sind scharf, das Näschen klein und spitz, die Lippen lang und dünn. Der Gesichtsausdruck hat etwas Krankhaftes, aber dieser Schein trügt. Eine sonderbare trockene Falte zieht sich über die Backen von den Backenknochen ab herunter, was ihm das Aussehen eines nach schwerer Krankheit Genesenden verleiht. Und doch ist er vollkommen gesund, kräftig und sogar überhaupt nie krank gewesen.
Er geht und bewegt sich sehr schnell, obwohl er sich nirgendwohin beeilt. Nichts scheint ihn in Verwirrung bringen zu können; in jeder Situation und in jeder beliebigen Gesellschaft bleibt er der gleiche. Er ist sehr selbstgefällig, was ihm selbst aber keineswegs auffällt.
Er spricht schnell und hastig, zu gleicher Zeit aber selbstbewußt, und ist nie um eine Antwort verlegen. Seine Gedanken sind ruhig und trotz der äußeren Eile genau und endgültig ausgeprägt, und das fällt besonders auf. Seine Aussprache ist erstaunlich deutlich; seine Worte kommen aus seinem Munde wie herunterrasselnde, gleichmäßige, große Körner, die gut ausgewählt und stets gebrauchsfertig sind. Anfangs gefällt es einem; dann aber beginnt man es widerwärtig zu finden, und zwar gerade wegen dieser allzu deutlichen Aussprache und wegen dieser Perlenschnur stets bereiter Worte. Man kommt unwillkürlich auf die Vorstellung, daß die Zunge in seinem Munde von irgendeiner besonderen Form sein muß, ungewöhnlich lang und schmal, sehr rot und mit außerordentlich feiner, ununterbrochen und unwillkürlich sich bewegender Spitze.
Dieser junge Mensch also stürzte jetzt in den Salon, und wahrhaftig, ich habe noch bis auf den heutigen Tag die Vorstellung, als hätte er seine Rede schon im anstoßenden Zimmer begonnen und wäre sprechend zu uns hereingekommen. Im Nu stand er vor Warwara Petrowna.
»... Denken Sie sich, Warwara Petrowna,« rieselte es wie ein Perlenregen aus seinem Munde, »ich komme hierher und denke, er wird schon seit einer Viertelstunde hier sein; er ist ja schon vor anderthalb Stunden angekommen; wir sind bei Kirillow gewesen; er begab sich von dort aus vor einer halben Stunde direkt hierher und sagte mir, ich möchte nach einer Viertelstunde etwa ebenfalls hierherkommen ...«
»Wer denn? Wer hat Sie beauftragt, hierherzukommen?« fragte Warwara Petrowna.
»Aber Nikolaj Wsewolodowitsch doch! Ja, erfahren Sie das denn wirklich erst in diesem Augenblick? Sein Gepäck wenigstens müßte doch schon längst hier angekommen sein! Wie kommt es denn, daß man es Ihnen noch nicht gesagt hat? Also bin ich der erste, der Sie davon in Kenntnis setzt! Man könnte ihn ja zwar von einer gewissen Stelle abholen lassen, aber er wird wahrscheinlich selbst gleich hierherkommen und, wie es scheint, gerade in einem Zeitpunkte, der durchaus einigen seinen Erwartungen und, soweit ich es beurteilen kann, auch seinen Wünschen entspricht.« Bei diesen Worten ließ er seinen Blick durch das Zimmer schweifen und heftete ihn mit besonderer Aufmerksamkeit auf den Hauptmann. »Ah, Lisaweta Nikolajewna, wie freue ich mich, Ihnen gleich bei meiner Ankunft in der Stadt zu begegnen. Es freut mich sehr, Ihnen die Hand drücken zu können!« rief er und flog schnell zu ihr hin, um die Hand zu ergreifen, die Lisa ihm mit einem heiteren Lächeln entgegenstreckte. »Und soviel ich merke, hat auch die hochverehrte Praskowia Iwanowna offenbar ihren ›Professor‹ nicht vergessen und ist ihm sogar nicht mehr böse, wie es da immer in der Schweiz war. Aber wie geht es eigentlich Ihren Füßen, Praskowia Iwanowna? Hatten die Schweizer Ärzte recht, als sie Ihnen das Klima der Heimat verordneten? ... Wie? Nasse Umschläge? Das muß wahrscheinlich sehr nützlich sein. Aber wie sehr habe ich es bedauert, Warwara Petrowna,« rief er, indem er sich wieder an Warwara Petrowna wandte, »daß es mir nicht gelungen ist, Ihnen damals im Ausland zu begegnen und Ihnen persönlich die Versicherung meiner Hochachtung auszudrücken, zumal ich Ihnen so vieles mitzuteilen hatte ... Ich habe allerdings meinen Alten von allem in Kenntnis gesetzt, aber es scheint, daß er, seiner Gewohnheit gemäß ...«
»Petruscha!« rief Stepan Trofimowitsch, der nun im Nu aus seiner Erstarrung wieder zu sich kam. Er schlug die Hände zusammen und stürzte zu seinem Sohn. »Pierre, mon enfant, ich habe dich ja gar nicht erkannt!« Und er umschlang ihn mit seinen Armen, und Tränen rollten ihm aus den Augen.
»Nun, mach keinen Unsinn, mach' keinen Unsinn, bitte ohne Gesten, na, nun genug, genug, ich bitte dich«, murmelte hastig Petruscha und suchte sich aus der väterlichen Umarmung freizumachen.
»Ich bin stets, stets in großer Schuld vor dir gewesen!«
»Nun ja, genug davon; darüber können wir ja noch später reden. Das habe ich mir doch gleich gedacht, daß du hier große Geschichten machen wirst. Sei doch bitte etwas nüchterner, ich bitte dich.«
»Aber ich habe dich doch zehn Jahre nicht gesehen!«
»Um so weniger Grund zu solchen Gefühlsergüssen ...«
»Mon enfant!«
»Na, ich glaube dir, ich glaube dir, daß du mich hebst, nimm bloß deine Arme weg. Du störst ja die anderen ... Ah, da ist ja auch Nikolaj Wsewolodowitsch! Na, nun laß doch endlich diesen Unsinn, ich bitte dich!«
Nikolaj Wsewolodowitsch befand sich tatsächlich bereits im Zimmer; er trat sehr leise ein, war einen Augenblick in der Tür stehengeblieben und überschaute nun ruhig die Versammelten.
Wie bereits vor vier Jahren, als ich ihn zum erstenmal sah, so war ich auch jetzt schon beim ersten Blick auf ihn überrascht. Ich hatte ihn keineswegs vergessen; aber es gibt offenbar Gesichter, die jedesmal, wenn sie auftauchen, etwas Neues an sich zu haben scheinen, was man früher noch nicht bemerkte, obwohl man sie auch hundertmal vorher schon gesehen hat. Allem Anschein nach war er ganz derselbe wie vor vier Jahren: ebenso elegant, ebenso würdevoll, und fast noch ebenso jung. Ein leises Lächeln, das um seine Lippen spielte, war noch genau so offiziell freundlich und selbstzufrieden; sein Blick war noch ebenso ernst, nachdenklich und wie zerstreut. Kurz, es kam mir so vor, als hätten wir uns erst gestern voneinander getrennt. Aber eins überraschte mich. Wenn man ihn auch früher schon für schön gehalten hatte, so glich sein Gesicht doch wirklich einer Maske, wie sich einige mit besonders bösen Zungen ausgestattete Damen unserer Gesellschaft ausgedrückt hatten. Jetzt aber, – jetzt erschien er mir, ich weiß nicht warum, gleich vom ersten Augenblick an als ein unbestreitbar schöner Mann, so daß man keinesfalls mehr sagen konnte, daß sein Gesicht mit einer Maske eine Ähnlichkeit habe. Kam das vielleicht daher, daß er etwas blasser geworden war als früher und allem Anschein nach auch etwas magerer? Oder leuchtete vielleicht irgendeine neue Idee aus seinem Blicke?
»Nikolaj Wsewolodowitsch,« rief Warwara Petrowna, indem sie ohne vom Sessel aufzustehen sich in ihm hoch aufrichtete und den Sohn durch eine gebieterische Handbewegung zurückhielt, »bleib noch einen Augenblick stehen!«
Um nun aber die schreckliche Frage, die plötzlich diesem Ausruf und der Handbewegung folgte, verständlich zu machen, eine Frage, deren Möglichkeit ich selbst in Warwara Petrownas Munde nicht geahnt hatte, muß ich den Leser bitten, sich daran zu erinnern, wie eigenartig Warwara Petrownas Charakter während ihres ganzen Lebens war, und wie ungewöhnlich überstürzt sie in manchen außerordentlichen Augenblicken handelte. Auch bitte ich zu bedenken, daß derartige Momente, denen sie sich ganz ungehemmt und, wenn man sich so ausdrücken darf, vollkommen zügellos hingab, durchaus nicht selten vorkamen, und zwar trotz der ungewöhnlichen seelischen Festigkeit und trotz der bedeutenden Portion von Vernunft und des praktischen, ja sogar sozusagen wirtschaftlichen Taktgefühls, über die sie verfügte. Endlich bitte ich zu berücksichtigen, daß der gegenwärtige Augenblick für sie in der Tat einer von jenen sein konnte, in denen sich plötzlich wie in einem Brennpunkte das Wesentliche des ganzen Lebens konzentriert, – das Wichtigste der ganzen Vergangenheit, der ganzen Gegenwart und vielleicht auch der ganzen Zukunft. Auch will ich den Leser nebenbei noch an den anonymen Brief erinnern, den sie erhalten und von dem sie kurz vorher in ihrer Gereiztheit auch Praskowia Iwanowna Mitteilung gemacht hatte, wobei sie, wie es schien, allerdings den weiteren Inhalt dieses Schreibens verheimlicht hatte; gerade aus dieser Epistel aber ließe sich die Möglichkeit jener schrecklichen Frage erklären, mit der sie sich plötzlich an ihren Sohn wandte.
»Nikolaj Wsewolodowitsch,« wiederholte sie, indem sie jedes Wort deutlich aussprach und in ihrer Stimme eine drohende Herausforderung erklingen ließ, »ich bitte Sie, mir sofort, ohne Ihren Platz zu verlassen, zu sagen, ob es wahr ist, daß diese unglückliche, lahme Frau, – diese dort, die da sitzt, schauen Sie sich die mal an! Ist es wahr, daß sie ... Ihre ... rechtmäßige Ehefrau ist?«
Ich erinnere mich nur zu genau dieses Augenblicks; Nikolaj Wsewolodowitsch zuckte nicht einmal mit der Wimper und sah seine Mutter unverwandt an; auf seinem Gesicht konnte man nicht die geringste Veränderung wahrnehmen. Endlich lächelte er langsam und wie herablassend, trat, ohne ein Wort zu erwidern, leise an seine Mutter heran, nahm ihre Hand, führte sie respektvoll an die Lippen und küßte sie. Und so groß war sein unwiderstehlicher steter Einfluß auf seine Mutter, daß sie auch jetzt nicht gewagt hatte, ihre Hand fortzuziehen. Sie sah ihn nur an, sie schien ganz Frage geworden zu sein, und ihre ganze Erscheinung besagte deutlich, daß sie die Ungewißheit keinen Augenblick länger zu ertragen imstande sei.
Aber er blieb weiter stumm. Nachdem er die Hand seiner Mutter geküßt hatte, sah er sich noch einmal im ganzen Zimmer um und ging dann mit derselben Ruhe wie vorher geradewegs auf Maria Timofejewna zu. Es ist sehr schwer, den Gesichtsausdruck der Menschen in manchen Augenblicken zu beschreiben. Es ist mir zum Beispiel fest in Erinnerung geblieben, daß Maria Timofejewna halb tot vor Schreck sich zu seinem Empfange erhoben und wie flehend die Hände zusammengefaltet hatte; zugleich aber erinnere ich mehr sehr deutlich auch an das Entzücken, das ihre Züge beinah entstellte, ein Gefühl von der Art, wie es Menschen nur schwer ertragen können. Vielleicht war in ihr beides: sowohl der Schreck als auch das Entzücken; aber ich weiß noch, daß ich schnell zu ihr herantrat, denn mir kam es so vor, als ob sie im nächsten Augenblick in Ohnmacht fallen würde.
»Sie können hier nicht bleiben«, sagte ihr Nikolaj Wsewolodowitsch mit freundlicher, wohlklingender Stimme, und in seinen Augen leuchtete eine ungewöhnliche Zärtlichkeit auf. Er stand vor ihr in der respektvollsten Haltung da, und in jeder seiner Bewegungen kam nur aufrichtige Hochachtung zum Ausdruck. Die arme Lahme stammelte hastig, halb flüsternd und nach Atem ringend:
»Darf ich denn ... jetzt gleich ... vor Ihnen niederknien?«
»Nein, das geht ganz und gar nicht«, erwiderte er mit einem so prächtigen Lächeln, daß auch sie plötzlich heiter zu schmunzeln begann. Mit derselben wohltönenden Stimme, in der diesmal jedoch eine gewisse Wichtigkeit klang, fügte er dann, ihr wie einem Kinde zärtlich zuredend, hinzu:
»Bedenken Sie, daß Sie ein Mädchen sind, und daß ich, obwohl ich auch Ihr treuester Freund bin, doch in keinen näheren Beziehungen zu Ihnen stehe und weder Ihr Gatte, noch Ihr Vater, noch Ihr Bräutigam bin. Geben Sie mir also Ihre Hand und kommen Sie mit mir; ich werde Sie zum Wagen führen und, wenn Sie erlauben, Sie selbst nach Ihrer Wohnung begleiten.«
Sie hörte ihn zu Ende an und senkte wie nachdenklich den Kopf.
»Kommen Sie, wir wollen gehen«, sagte sie dann mit einem Seufzer und gab ihm die Hand.
Aber hier begegnete ihr ein kleines Unglück. Wahrscheinlich hatte sie sich ungeschickt umgewandt und war dabei auf ihr krankes, zu kurzes Bein getreten; kurz, sie fiel seitwärts in den Sessel zurück und, wenn dieser nicht dagestanden hätte, wäre sie wohl auf den Fußboden gefallen. Nikolaj Wsewolodowitsch ergriff sie im selben Augenblick, faßte sie kräftig unter den Arm, richtete sie auf und führte sie teilnahmsvoll und behutsam zur Tür. Sie war offenbar über das Geschehene sehr betrübt, wurde verlegen, errötete und schämte sich außerordentlich. Schweigend blickte sie zur Erde und wankte stark hinkend neben ihm her; sie hing beinah an seinem Arme. So gingen sie aus dem Zimmer. Ich sah, wie Lisa, während die beiden hinausgingen, aus irgendwelchem Grunde von ihrem Sessel aufsprang und sie mit einem starren Blick bis zur Tür verfolgte. Dann setzte sie sich schweigend wieder hin, aber über ihr Gesicht lief ein krampfhaftes Zucken, wie wenn sie irgendein Reptil berührt hätte.
Während dieser ganze Auftritt sich zwischen Nikolaj Wsewolodowitsch und Maria Timofejewna abspielte, hatten alle erstaunt geschwiegen. Man hätte eine Fliege hören können; kaum aber waren die beiden aus dem Zimmer, als plötzlich alle zu reden begannen.
Gesprochen hatte man übrigens nur wenig, eigentlich wurden nur Ausrufe laut. Ich habe jetzt nicht mehr genau in Erinnerung, in welcher Reihenfolge dies damals vor sich ging, denn es entstand ein gewaltiger Wirrwarr ... Auch Stepan Trofimowitsch rief etwas auf französisch aus und schlug die Hände zusammen, aber Warwara Petrowna achtete jetzt gar nicht mehr auf ihn. Selbst Mawrikij Nikolajewitsch brummte etwas hastig und wie abgebrochen vor sich hin. Aber am meisten ereiferte sich Piotr Stepanowitsch; fast verzweifelt und heftig gestikulierend suchte er Warwara Petrowna von etwas zu überzeugen, aber ich konnte lange Zeit nichts von dem, was er sagte, verstehen. Er wandte sich auch an Praskowia Iwanowna und an Lisaweta Nikolajewna und hatte sogar im Eifer auch seinem Vater ein paar Worte zugerufen; kurz, er drehte sich im ganzen Zimmer herum. Warwara Petrowna, die ganz rot geworden war, sprang von ihrem Platz auf und rief Praskowia Iwanowna zu: »Hast du gehört, hast du gehört, was er ihr soeben hier gesagt hat?« Aber diese war nicht einmal imstande zu antworten, sondern murmelte nur etwas und wehrte mit beiden Händen ab. Die arme Frau hatte ihre eigenen Sorgen: jeden Augenblick drehte sie ihren Kopf nach Lisa um und sah sie in unbewußter Angst an, wagte es aber nicht einmal daran zu denken, aufzustehen und wegzufahren, bevor sich ihre Tochter erhoben hatte. Inzwischen versuchte der Hauptmann zu entwischen. Ich bemerkte recht deutlich, daß dieser Wunsch in ihm äußerst rege wurde. Er befand sich von dem Augenblick an, da Nikolaj Wsewolodowitsch erschienen war, in einer unverkennbaren und zweifellos sehr starken Angst; aber Piotr Stepanowitsch packte ihn am Arm und ließ ihn nicht fortgehen.
»Das ist unbedingt notwendig, unbedingt notwendig«, sprudelte er in seiner an einen Perlenregen erinnernden Art hervor, indem er Warwara Petrowna immer noch zu überzeugen suchte. Er stand vor ihr, und sie saß schon wieder in ihrem Lehnstuhl und hörte ihm, wie ich mich entsinne, geradezu gierig zu; er hatte es schließlich doch noch erreicht, daß sie ihm ihre volle Aufmerksamkeit schenkte.
»Das ist unbedingt notwendig. Sie sehen ja selbst, Warwara Petrowna, daß hier ein Mißverständnis vorliegt; die Sache scheint viel Sonderbares und Ungereimtes zu enthalten, während sie in Wirklichkeit so klar wie Kerzenlicht und so einfach wie ein Finger ist. Ich bin mir sehr wohl bewußt, daß mich niemand ermächtigt hat, die Angelegenheit hier zu schildern, und daß ich mich vielleicht lächerlich mache, indem ich mich selbst dazu aufdränge. Aber erstens mißt Nikolaj Wsewolodowitsch dieser Sache selbst keine Bedeutung bei, und schließlich gibt es doch immerhin Fälle, in denen es einem Menschen schwer fällt, sich zu einer persönlichen Erklärung zu entschließen, und wo es durchaus notwendig ist, daß sie ein Unbeteiligter übernimmt, dem es leichter fällt, gewisse delikate Dinge auszusprechen. Glauben Sie mir, Warwara Petrowna, Nikolaj Wsewolodowitsch hat durchaus keine Schuld auf sich geladen, indem er auf Ihre vorige Frage nicht in einer ebenso radikalen Weise geantwortet hat, obwohl die ganze Sache eigentlich eine Lappalie ist. Ich kenne Ihren Sohn schon von Petersburg her. Außerdem macht diese ganze Anekdote Nikolaj Wsewolodowitsch nur Ehre, wenn man schon dieses verschwommene Wort ›Ehre‹ einmal gebrauchen will ...«
»Sie wollen sagen, daß Sie Zeuge irgendeines Ereignisses gewesen sind, aus dem ... dieses Mißverständnis erwachsen ist?« fragte Warwara Petrowna.
»Zeuge und Teilnehmer«, beeilte sich Piotr Stepanowitsch zu versichern.
»Wenn Sie mir Ihr Wort darauf geben können, daß Sie durch Ihre Erzählung das Feingefühl Nikolaj Wsewolodowitschs, der mir durchaus nichts zu verbergen pflegt, in keiner Weise verletzen werden, und wenn Sie glauben ... daß Sie ihm damit einen Gefallen tun ...«
»Ich bin sogar davon überzeugt, und außerdem wird es mir ein besonderes Vergnügen sein. Ich zweifle nicht im geringsten daran, daß er mich selbst darum gebeten hätte.«
Das aufdringliche Verlangen dieses plötzlich vom Himmel gefallenen Herrn, fremde Erlebnisse zu erzählen, war allerdings recht sonderbar und hatte mit den üblichen Formen des Verkehrs nichts gemein. Aber der Schlauberger hatte Warwara Petrowna an seiner Angel gefangen, indem er einen gar zu schmerzhaften Punkt berührte. Ich kannte damals den Charakter dieses Menschen noch nicht ganz genau und um so weniger seine Absichten.
»Nun, man wird Ihnen zuhören«, erklärte Warwara Petrowna zurückhaltend und vorsichtig, da ihr anscheinend ihre Nachgiebigkeit schwer fiel.
»Die Geschichte ist nicht lang, und wenn Sie wollen, so ist es eigentlich auch gar keine richtige Geschichte«, begann es wieder Perlen zu regnen. »Übrigens könnte ein Romanschriftsteller aus lauter Langeweile auch daraus einen Roman zusammenbacken. Es ist eine ganz interessante kleine Begebenheit, Praskowia Iwanowna, und ich bin überzeugt, daß Lisaweta Nikolajewna auch mit lebhaftem Interesse zuhören wird, denn es kommen da, wenn auch nicht wunderbare, so doch recht wunderliche Dinge vor. Vor etwa fünf Jahren lernte Nikolaj Wsewolodowitsch in Petersburg diesen Herrn kennen, eben diesen Herrn Lebiadkin, der jetzt mit aufgerissenem Munde dasteht und anscheinend kurz vorher große Lust gehabt hat, zu verduften. Entschuldigen Sie, Warwara Petrowna. Ich rate Ihnen übrigens nicht auszukneifen, Herr pensionierter Beamter des ehemaligen Proviantamtes. Sie sehen, ich erinnere mich Ihrer ganz genau. Sowohl mir, als auch Nikolaj Wsewolodowitsch sind alle Ihre hiesigen Streiche nur allzugut bekannt, und Sie werden, vergessen Sie das bitte nicht, noch Rechenschaft darüber ablegen müssen. Ich bitte Sie nochmals um Entschuldigung, Warwara Petrowna. Nikolaj Wsewolodowitsch nannte damals diesen Herrn seinen Falstaff; das muß wohl«, fügte er plötzlich zur Erklärung hinzu, »irgendein früher bekannter burlesker Charakter gewesen sein, über den sich alle lustig machten, und der es allen erlaubte, sich über ihn lustig zu machen, wenn man ihm nur Geld dafür gab. Nikolaj Wsewolodowitsch führte damals in Petersburg ein sozusagen ironisches Leben, – mit einem anderen Wort vermag ich es nicht zu bezeichnen, denn einer Enttäuschung und einer Blasiertheit kann er nicht zum Opfer fallen, und eine ernstliche Beschäftigung verschmähte er damals selbst. Ich spreche natürlich nur von der damaligen Zeit, Warwara Petrowna, Lebiadkin hatte eine Schwester, eben dieselbe, die noch kurz vorher hier gesessen hat. Bruder und Schwester mieteten keine eigene Wohnung und behalfen sich mit den Räumen fremder Leute. Er schlenderte tagsüber in den Bogengängen des Gostinnyj-Riad, trug dabei stets seine frühere Uniform und hielt alle anständig aussehenden Fußgänger an. Was er sich dann auf diese Weise zusammenbettelte, vertrank er. Sein Schwesterchen nährte sich aber wie ein Vogel des Himmels. Sie half eben in den Wohnungen, in denen sie sich zeitweise aufhielten, und verrichtete auch mitunter Magddienste. Es war ein reines Sodomleben; ich will davon keine genauere Schilderung geben, aber an diesem Nomadendasein beteiligte sich damals aus wunderlicher Laune auch Nikolaj Wsewolodowitsch. Ich spreche nur von der damaligen Zeit, Warwara Petrowna, und was die ›wunderliche Laune‹ anbetrifft, so ist es sein eigener Ausdruck. Es gibt vieles, was er vor mir nicht verbirgt. Auf Mlle. Lebiadkina, die eine Zeitlang häufig Nikolaj Wsewolodowitsch begegnete, machte sein Äußeres einen ungeheuer starken Eindruck. Das war sozusagen ein leuchtender Brillant auf dem schmutzigen Hintergrund ihres Lebens. Ich kann Gefühle nur sehr schlecht schildern und will sie deshalb gar nicht erwähnen; aber elende Gesellen begannen sich sofort über das Mädchen lustig zu machen, und sie wurde recht traurig und schwermütig. Zu jener Zeit hat man dort überhaupt sehr viel über sie gelacht, aber früher schien sie das gar nicht zu beachten. Ihr Geist war schon damals nicht recht in Ordnung, wenn auch nicht so stark zerrüttet wie jetzt. Es gibt Gründe, die zu der Annahme berechtigen, daß sie in ihrer Jugend irgendeine Wohltäterin gehabt und mit deren Hilfe beinah eine gute Erziehung bekommen hatte. Nikolaj Wsewolodowitsch schenkte ihr nie die geringste Beachtung und spielte meistens mit alten, schmutzigen Karten um eine Viertelkopeke Preference mit allerlei Beamten. Einmal aber, als man dem Mädchen besonders stark zusetzte, faßte er, ohne viel zu fragen, einen sich dabei besonders hervortuenden Beamten am Kragen und warf ihn aus dem Fenster des zweiten Stockwerks auf die Straße hinaus. Von irgendeiner ritterlichen Entrüstung über die gekränkte Unschuld kann dabei gar nicht die Rede sein; der ganze Auftritt spielte sich unter allgemeinem Gelächter ab, und am allermeisten lachte Nikolaj Wsewolodowitsch selbst; als aber der Hinauswurf keine weiteren Folgen hatte und alles glücklich abgelaufen war, versöhnte man sich und trank Punsch. Die ›gekränkte Unschuld‹ selbst jedoch vergaß diese Begebenheit nicht. Natürlich führte das alles zu einer vollständigen Verwirrung ihres Geistes. Ich wiederhole, ich bin ein schlechter Schilderer von Gefühlen. Die Hauptsache war hier eben die träumerische Veranlagung der Lebiadkina. Und Nikolaj Wsewolodowitsch reizte wie mit Absicht diese Sucht zum Phantasieren; statt über sie zu lachen, begann er sie auf einmal mit ganz verblüffender Höflichkeit zu behandeln. Kirillow, ein außerordentlicher Sonderling, ein äußerst einsilbiger Mensch, Warwara Petrowna, den Sie vielleicht noch einmal zu sehen bekommen werden, da er sich hier in der Stadt niedergelassen hat, dieser Kirillow also, der damals ebenfalls in Petersburg war und gewöhnlich schwieg, ereiferte sich da auf einmal und sagte zu Nikolaj Wsewolodowitsch, wie ich mich sehr wohl erinnere, daß er dieses Fräulein wie eine Marquise behandle und sie damit vollständig zugrunde richte. Ich will noch hinzufügen, daß Nikolaj Wsewolodowitsch vor diesem Kirillow eine gewisse Hochachtung empfand. Und was glauben Sie wohl, was er ihm darauf erwidert hat: ›Sie nehmen wohl an,‹ sagte er, ›Herr Kirillow, daß ich mich über das Mädchen lustig mache; gestatten Sie, daß ich Sie eines Besseren belehre, ich achte sie nämlich wirklich sehr hoch, denn sie ist besser als wir alle.‹ Und das hat er in einem durchaus ernsten Ton gesagt. Dabei hat er in diesen zwei, drei Monaten außer ›Guten Tag‹ und ›Leben Sie wohl‹ kein Wort mit ihr gesprochen. Ich, der ich damals ebenfalls dort lebte, erinnere mich bestimmt, daß Mlle. Lebjadkina schließlich in ihren Phantasien so weit ging, daß sie sich einbildete, Nikolaj Wsewolodowitsch sei etwas wie ihr Bräutigam und wage es nur deshalb nicht, sie zu ›entführen‹, weil er viele Feinde oder Hindernisse in der Familie oder etwas Ähnliches habe. Es wurde sehr viel darüber gelacht! Die Sache endete damit, daß Nikolaj Wsewolodowitsch, als er damals hierher reisen mußte, vor der Abfahrt noch für ihren Unterhalt gesorgt hat und ihr eine ziemlich bedeutende jährliche Pension im Betrage von, glaube ich, dreihundert Rubeln, aussetzte, wenn es nicht noch mehr gewesen ist. Kurz, wir können annehmen, daß alles dies seinerseits nichts weiter als eben eine Laune, eine Phantasie eines vorzeitig müde gewordenen Menschen war, oder auch schließlich, wie Kirillow sagte, eine neue Studie eines übersättigten, um zu erfahren, wie weit man einen geistesgestörten Krüppel bringen kann. ›Sie haben sich‹, sagte Kirillow, ›absichtlich das unbedeutendste, schutzloseste Wesen ausgesucht, eine Lahme, die für immer mit Schande bedeckt ist und nichts weiter als Schläge kennengelernt hat. Sie haben obendrein gewußt, daß dieses Geschöpf an ihrer komischen Liebe zu Ihnen geradezu zugrunde geht! Und plötzlich begannen Sie dieses Mädchen absichtlich zu foppen, eigens um zu sehen, was dabei herauskommt!‹ Aber inwiefern ist denn ein Mann wirklich daran schuld, daß eine Frau, mit der er wohlgemerkt keine zwei Sätze gewechselt hat, sich so sinnlosen Träumereien hingibt! Es gibt Dinge, Warwara Petrowna, über die man nicht nur unter keinen Umständen vernünftig sprechen kann, sondern über die überhaupt zu sprechen schon unvernünftig ist. Nun, mag das schließlich auch eine ›wunderliche Laune‹ gewesen sein, aber einen anderen Vorwurf kann man doch Nikolaj Wsewolodowitsch daraus keineswegs machen! Und doch hat man das Ganze zu einer richtigen Skandalgeschichte aufgebauscht ... Es ist mir, Warwara Petrowna, zum Teil bekannt, was hier vorgeht.«
Der Erzähler brach plötzlich ab und wollte sich schon an Lebiadkin wenden, aber Warwara Petrowna hielt ihn davon zurück. Sie war außerordentlich stark erregt.
»Sind Sie zu Ende?« fragte sie.
»Nein, noch nicht; um der Vollständigkeit willen müßte ich, wenn Sie gestatten, noch einige Fragen an diesen Herrn hier stellen ... Sie werden gleich sehen, um was es sich handelt, Warwara Petrowna.«
»Genug, später, warten Sie einen Augenblick, ich bitte Sie darum. Oh, wie gut habe ich daran getan, daß ich Sie reden ließ!«
»Und beachten Sie bitte, Warwara Petrowna,« rief Piotr Stepanowitsch, wieder auffahrend, »sagen Sie selbst: konnte Ihnen vorhin Nikolaj Wsewolodowitsch alles persönlich auseinandersetzen, um Ihre Frage zu beantworten, die vielleicht schon etwas gar zu kategorisch war?«
»O ja, sie war etwas zu schroff.«
»Und hatte ich nicht recht, als ich sagte, daß es Fälle gibt, in denen es für einen Dritten viel leichter ist, eine Erklärung abzugeben, als für den Beteiligten selbst?«
»Ja, ja ... Aber in einem Punkt haben Sie sich geirrt und irren sich, wie ich zu meinem Bedauern feststellen muß, auch jetzt noch.«
»Wirklich? Worin denn?«
»Sehen Sie ... Würden Sie sich übrigens nicht lieber setzen, Piotr Stepanowitsch?«
»Oh, ganz wie Sie wünschen; ich bin auch selbst müde, ich danke Ihnen.«
Rasch hatte er einen Lehnstuhl nach vorn gerückt und so gedreht, daß er zwischen Warwara Petrowna und Praskowia Iwanowna an der anderen Seite des Tisches zu sitzen kam, Herrn Lebiadkin vor sich hatte und kein Auge von ihm wegwandte.
»Sie irren sich darin, daß Sie das Ganze als eine ›wunderliche Laune‹ bezeichnen ...«
»Oh, wenn es nur das ist ...«
»Nein, nein, nein, warten Sie einen Augenblick«, unterbrach ihn Warwara Petrowna, die sich anscheinend eben anschickte, viel und mit Genuß zu reden. Piotr Stepanowitsch wurde, sobald er das bemerkt hatte, ganz Ohr.
»Nein, das war bei weitem mehr als eine einfache Laune, es war etwas viel Höheres, und glauben Sie mir, sogar etwas Heiliges! Mein Sohn ist ein stolzer und schon in früher Jugend gekränkter Mensch, der schließlich so weit getrieben wurde, daß er, Ihrer trefflichen Bezeichnung zufolge, jenes ›ironische Leben‹ geführt hat, – kurz, er ist ein Prinz Harry, mit dem ihn seinerzeit Stepan Trofimowitsch so prächtig verglichen hatte, und was vollkommen richtig sein würde, wenn er nicht noch mehr Ähnlichkeit mit Hamlet hätte, wenigstens meiner Ansicht nach.«
»Et vous avez raison«, rief hier Stepan Trofimowitsch gefühlvoll und würdig.
»Ich danke Ihnen, Stepan Trofimowitsch, und zwar ganz besonders dafür, daß Sie den Glauben an Nicolas, an seine Seelengröße und an seine Mission niemals aufgaben. Sie haben diesen Glauben sogar in mir befestigt in den Zeiten, als ich kleinmütig wurde.«
»Chère, chère ...« – Stepan Trofimowitsch wollte schon vortreten, blieb aber auf seinem Platz, da er sich unwillkürlich sagte, daß es gefährlich sei, sie zu unterbrechen.
»Und wenn in Nicolas Nähe«, fuhr Warwara Petrowna fort, die schon beinah sang, »stets ein stiller und in seiner Demut so großer Horatio sich befunden hätte – was wieder ein schöner Ausdruck von Ihnen ist, Stepan Trofimowitsch, – dann wäre er vielleicht schon längst von dem traurigen und ›plötzlichen Dämon der Ironie‹ erlöst worden, der ihn sein ganzes Leben lang geplagt hat. ›Der Dämon der Ironie‹ ist wieder ein wunderschöner Ausdruck von Ihnen, Stepan Trofimowitsch. Aber Nicolas hatte weder einen Horatio noch eine Ophelia gehabt. Er hatte nur seine Mutter. Und was kann eine Mutter allein tun, und dazu noch in solchen Umständen? Wissen Sie, Piotr Stepanowitsch, es wird mir jetzt durchaus verständlich, daß so ein Mensch wie Nicolas sogar in jenen schmutzigen Spelunken erscheinen konnte, von denen Sie mir erzählt haben. Ich stelle mir jetzt mit so erstaunlicher Klarheit dieses ›Ironische‹ in seinem Leben vor – ein verblüffend treffender Ausdruck von Ihnen, Piotr Stepanowitsch! – diesen unersättlichen Durst nach Kontrasten, diesen düsteren Hintergrund des Bildes, auf dem er, wiederum einem Vergleiche von Ihnen zufolge, wie ein Brillant erscheint. Und nun begegnet er diesem von allen Menschen gequälten, verkrüppelten und halbwahnsinnigen Wesen, das vielleicht in sich die edelsten Gefühle trägt! ...«
»Hm ... ja, schön, nehmen wir es an.«
»Und unter diesen Umständen ist es Ihnen nicht begreiflich, daß er sich über diese Lahme nicht ebenso lustig macht, wie alle anderen? Oh, Ihr Menschen! Versteht ihr denn nicht, warum er sie gegen ihre Beleidiger verteidigt und sie mit solcher Hochachtung wie eine ›Marquise‹ behandelt? Dieser Kirillow hat wahrscheinlich ungewöhnlich tiefe Menschenkenntnisse, obwohl auch er Nicolas nicht verstanden hat! Und schließlich ist es durchaus möglich, daß gerade infolge dieses Kontrastes die ganzen unglücklichen Zusammenhänge entstanden sind. Hätte sich die Unglückliche in einer anderen Umgebung befunden, so wäre sie vielleicht nie zu solchen wahnwitzigen Vorstellungen gekommen. Nur eine Frau, nur eine Frau ist imstande, das zu begreifen, Piotr Stepanowitsch, und wie schade ist es, daß Sie ... das heißt ich meine nicht, daß es schade ist, daß Sie keine Frau sind, sondern ich bedaure, daß Sie es nicht wenigstens für dieses Mal sind, um es eben verstehen zu können!«
»Das heißt, Sie meinen es so: je schlimmer es ist, um so besser kann es sein; ich verstehe, ich verstehe, Warwara Petrowna. Das ist ungefähr so wie in der Religion: je schlechter es einem Menschen geht, oder je geplagter und ärmer das ganze Volk ist, um so hartnäckiger träumt es von der Belohnung im Paradiese; und wenn dabei noch hunderttausend Geistliche sich um die Erhaltung dieser Hoffnung bemühen, immer frisches Öl in dieses Feuer gießen und auf diesen phantastischen Traum ihre Spekulationen gründen, dann ... oh, ich verstehe Sie, Warwara Petrowna, seien Sie unbesorgt.«
»Das stimmt allerdings nicht ganz; aber sagen Sie selbst, mußte denn Nicolas tatsächlich, um diese wahnwitzige Idee in dem unglücklichen Organismus jenes Mädchens zu vernichten« (weshalb Warwara Petrowna hier das Wort »Organismus« gebraucht hatte, ist mir unverständlich), »mußte er denn wirklich auch seinerseits über sie lachen und mit ihr so umgehen, wie es jene Beamten taten? Geben Sie denn wirklich nicht die Möglichkeit jenes hohen Mitleids zu und jenes edlen Erbebens des ganzen Organismus, mit dem Nicolas dem Herrn Kirillow plötzlich streng erwiderte: ›Ich lache nicht über sie‹? Eine hochedle, eine geradezu heilige Antwort!«
»Sublime«, murmelte Stepan Trofimowitsch.
»Und beachten Sie auch, daß er keineswegs so reich ist, wie Sie annehmen. Reich bin ich, und nicht er, und zu jener Zeit erhielt er von mir fast gar nichts.«
»Ich begreife, ich begreife das alles, Warwara Petrowna«, versetzte Piotr Stepanowitsch bereits etwas ungeduldig und drehte sich auf seinem Stuhle hin und her.
»Oh, das ist mein Charakter! Ich erkenne mich in Nicolas wieder! Ich erkenne dieses Gefühl des Jungseins wieder, diese Neigung zu stürmischen, heftigen Ausbrüchen ... Und wenn wir uns beide einmal einander nähertreten sollten, Piotr Stepanowitsch, was ich meinerseits aufrichtig wünsche, um so mehr, da ich Ihnen bereits so schon sehr zu Dank verpflichtet bin, dann werden Sie vielleicht begreifen ...«
»Oh, glauben Sie mir, auch ich wünsche es meinerseits«, murmelte Piotr Stepanowitsch abgehackt.
»Sie werden dann jenen Drang verstehen lernen, aus dem heraus man in der Blindheit des Edelmuts auf einmal seinen Blick auf einen Menschen lenkt, der unser in keiner Beziehung wert ist, auf einen Menschen, der uns durchaus nicht versteht, der bereit ist, uns bei jeder Gelegenheit zu quälen und dann in einem solchen Menschen trotz alledem die Verkörperung irgendeines Ideals sieht, des eigenen Zukunftstraums, in ihm alle seine Hoffnungen vereinigt, ihn anbetet und Hebt, das ganze Leben lang, ohne im geringsten zu wissen, wofür, – vielleicht aber gerade deshalb, weil er dessen nicht würdig ist ... Oh, wie habe ich mein Leben lang gelitten, Piotr Stepanowitsch!«
Stepan Trofimowitsch versuchte mit schmerzlicher Miene meinen Blick aufzufangen, aber ich wandte mich rechtzeitig ab.
»... Und erst vor kurzem, vor kurzem noch – oh, was habe ich für eine Schuld Nicolas gegenüber auf mich geladen! ... Sie werden es gar nicht glauben, wie man mich von allen Seiten gequält hat. Alle, alle, die elenden Menschen, die Feinde und die Freunde; die Freunde vielleicht noch mehr als alle anderen. Als ich den ersten, so verachtungswürdigen anonymen Brief erhalten hatte, da fand ich in mir, Sie werden es nicht glauben, Piotr Stepanowitsch, einfach nicht die genügende Kraft, um auf diese boshafte Schändlichkeit mit Verachtung zu antworten ... Nie, nie, nie werde ich mir diesen Kleinmut verzeihen!«
»Ich habe schon etwas von den hiesigen anonymen Briefen im allgemeinen gehört,« rief Piotr Stepanowitsch, der sich auf einmal wieder belebte, »und ich werde schon den Schreiber ausfindig machen, seien Sie ganz unbesorgt.«
»Aber Sie können sich gar nicht vorstellen, was hier für Ränke geschmiedet wurden! Diese elenden Menschen haben sogar unsere arme Praskowia Iwanowna gequält! Und was hätte sie wohl damit zu tun, sollte man meinen? Ich habe mich vielleicht heute dir gegenüber arg vergangen, meine liebe Praskowia Iwanowna«, fügte sie in einem Anfalle von edelmütiger Rührung, aber nicht ohne eine gewisse triumphierende Ironie hinzu.
»Lassen Sie es gut sein, Mütterchen,« murmelte jene unwillig, »meiner Meinung nach muß dieser Sache ein Ende gemacht werden; es ist schon gar zuviel geredet worden«, schloß sie und sah wieder schüchtern zu Lisa herüber. Aber diese hatte ihre Blicke auf Piotr Stepanowitsch geheftet.
»Und dieses arme, unglückliche Geschöpf, diese Wahnsinnige, die alles verloren und sich nur ihr Herz bewahrt hat, die will ich jetzt an Kindes Statt zu mir nehmen«, rief plötzlich Warwara Petrowna. »Das ist eine Pflicht, die ich heilig zu erfüllen gedenke. Von diesem Tage an nehme ich sie unter meinen Schutz.«
»Und das wird in gewisser Hinsicht sogar sehr gut sein!« rief nun Piotr Stepanowitsch, der schon wieder ganz lebendig war. »Entschuldigen Sie, ich war vorhin mit meiner Schilderung noch nicht zu Ende. Ich wollte gerade über die Notwendigkeit eines Schutzes sprechen. Können Sie sich vorstellen, daß gleich nach der damals erfolgten Abreise Nikolaj Wsewolodowitschs (ich fange genau da an, wo ich stehengeblieben bin, Warwara Petrowna) dieser Herr, ja ebendieser Herr Lebiadkin sich sofort für berechtigt hielt, über die seiner Schwester ausgesetzte Pension unbeschränkt zu verfügen? Nun, und er verfügte auch. Ich weiß nicht genau, wie das Nikolaj Wsewolodowitsch damals eingerichtet hat, jedenfalls aber sah er sich nach einem Jahr, das heißt, als er sich bereits im Ausland befand, zu neuen Maßregeln gezwungen. Die Einzelheiten sind mir auch hier unbekannt, er wird sie Ihnen selbst erzählen, ich weiß aber, daß man die interessante Person in ein fernes Kloster gebracht und sie dort unter freundlicher Aufsicht in recht komfortabler Weise untergebracht hat, – Sie verstehen? Was aber, glauben Sie, unternahm darauf Herr Lebiadkin? Er machte zunächst die größten Anstrengungen, um zu erfahren, wo man von ihm die Milchkuh, das heißt seine Schwester, versteckt hat. Erst vor kurzem hat er sie entdeckt, nahm sie aus dem Kloster heraus, indem er als Bruder eine Art von Recht auf sie geltend machte und brachte sie geradewegs hierher. Hier gibt er ihr nichts zu essen, tyrannisiert und schlägt sie, erhält schließlich auf irgendwelche Weise von Nikolaj Wsewolodowitsch eine bedeutende Geldsumme und fängt sofort an zu trinken. Statt aber seine Dankbarkeit zu erweisen, erlaubt er sich gegen Nikolaj Wsewolodowitsch die unverschämtesten Frechheiten, stellt ihm sinnlose Forderungen und droht ihm, falls die Pension künftig nicht ihm persönlich gezahlt werde, sogar mit dem Gericht. Er nimmt also Nikolaj Wsewolodowitschs freiwillige Gabe als einen schuldigen Tribut auf! Können Sie sich das vorstellen? Herr Lebiadkin, ist alles, was ich hier eben erzählt habe, auch wahr?«
Der Hauptmann, der bis dahin schweigend und mit niedergeschlagenen Augen dagestanden hatte, trat schnell zwei Schritte vor und wurde dunkelrot im Gesicht.
»Piotr Stepanowitsch, Sie sind grausam mit mir verfahren«, sagte er dann wie abbrechend.
»Wieso grausam? Wie kommen Sie darauf? Aber gestatten Sie, über Grausamkeit und Milde können wir uns ja nachher unterhalten, jetzt bitte ich Sie nur, auf meine erste Frage zu antworten: ist alles, was ich hier gesagt habe, wahr oder nicht? Wenn Sie der Ansicht sind, daß es unwahr ist, so können Sie ja unverzüglich Ihre Erklärung abgeben.«
»Ich ... Sie wissen selbst, Piotr Stepanowitsch ...« murmelte der Hauptmann, stockte und verstummte vollends. Man muß beachten, daß Piotr Stepanowitsch auf einem Lehnstuhl saß und ein Bein über das andere geschlagen hatte, während der Hauptmann in der respektvollsten Haltung vor ihm stand.
Das Zaudern von Herrn Lebiadkin schien Piotr Stepanowitsch durchaus nicht gefallen zu haben. Über sein Gesicht liefen krampfhafte und boshafte Zuckungen.
»Sie scheinen in der Tat irgend etwas erwidern zu wollen!« sagte er und sah den Hauptmann dabei listig an. »In diesem Falle bitte ich Sie zu sprechen, wir warten darauf.«
»Sie wissen selbst, Piotr Stepanowitsch, daß ich nichts erklären kann.«
»Nein, das weiß ich nicht und höre es sogar zum erstenmal. Warum können Sie denn nichts erklären?«
Der Hauptmann schwieg und blickte zu Boden.
»Gestatten Sie mir wegzugehen, Piotr Stepanowitsch«, sagte er dann entschlossen.
»Aber nicht bevor Sie mir irgendeine Antwort auf meine erste Frage geben: ist alles, was ich hier gesagt habe, wahr oder nicht?«
»Es ist wahr«, antwortete Lebiadkin dumpf und richtete seine Augen auf den Peiniger. Auf seinen Schläfen zeigten sich sogar Schweißtropfen.
»Ist alles wahr?«
»Ja, es ist alles wahr.«
»Haben Sie vielleicht etwas hinzuzufügen oder zu bemerken? Wenn Sie finden, daß wir ungerecht waren, dann machen Sie eine entsprechende Erklärung; protestieren Sie, verbergen Sie nicht Ihre Unzufriedenheit.«
»Nein, ich habe nichts zu entgegnen.«
»Haben Sie vor kurzem Nikolaj Wsewolodowitsch gedroht?«
»Das ... das war mehr der Branntwein, Piotr Stepanowitsch.« Er hob plötzlich den Kopf. »Piotr Stepanowitsch! Wenn die Ehre der Familie und eine vom Herzen nicht verdiente Schande, der man unter den Menschen ausgesetzt ist, in einem plötzlich aufheulen, ist man denn auch dann wirklich schuldig?« brüllte er, indem er sich auf einmal wieder wie kurz vorhin vergaß.
»Nun, sind Sie jetzt nüchtern, Herr Lebiadkin?« fragte Piotr Stepanowitsch und sah ihn durchdringend an.
»Ich bin ... nüchtern.«
»Was heißt das: ›die Ehre der Familie und eine vom Herzen nicht verdiente Schande‹?«
»Das bezieht sich auf niemand ... Ich habe damit niemand gemeint. Ich sprach nur von mir ...« fiel der Hauptmann wieder in sich zusammen.
»Sie scheinen sich durch meine Ausführungen, die sich auf Sie und Ihr Benehmen bezogen, sehr gekränkt zu fühlen? Sie sind so empfindlich und reizbar geworden, Herr Lebiadkin. Aber erlauben Sie bitte, ich habe doch noch gar nicht von Ihrem wirklichen Benehmen gesprochen. Ich werde noch von Ihrem wirklichen Benehmen reden. Das werde ich noch tun, das kann sehr wohl geschehen; aber bis jetzt habe ich doch von Ihrem Benehmen, von Ihrem wirklichen Benehmen noch nichts gesagt.«
Lebiadkin fuhr zusammen und starrte Piotr Stepanowitsch wie geistesabwesend an.
»Piotr Stepanowitsch, ich fange erst jetzt an, wach zu werden.«
»Hm! Und ich bin es wohl, der Sie geweckt hat?«
»Jawohl, Sie haben mich aufgeweckt, Piotr Stepanowitsch. Ich habe vier Jahre lang unter einer über mir hängenden Gewitterwolke geschlafen. Darf ich mich endlich entfernen, Piotr Stepanowitsch?«
»Jetzt dürfen Sie es, wenn nicht Warwara Petrowna selbst es für nötig halten wird ...«
Aber diese winkte nur abwehrend mit den Händen.
Der Hauptmann verbeugte sich, machte zwei Schritte zur Tür, blieb plötzlich stehen, preßte seine Hand ans Herz, wollte anscheinend etwas sagen, gab aber kein Wort von sich und lief statt dessen eiligst davon. Aber in der Tür stieß er gerade auf Nikolaj Wsewolodowitsch; dieser trat zur Seite; der Hauptmann krümmte sich förmlich vor ihm zusammen, blieb regungslos auf dem Fleck stehen und konnte seine Augen nicht von ihm wenden, wie ein Kaninchen, das eine Riesenschlange anstarrt. Nikolaj Wsewolodowitsch wartete ein Weilchen, schob dann Lebiadkin mit der Hand sachte zur Seite und trat in den Salon.
Er lächelte ruhig und heiter; vielleicht war ihm soeben etwas sehr Gutes zugestoßen, wovon wir noch nichts wußten, jedenfalls schien er mit etwas sehr zufrieden zu sein.
»Wirst du mir verzeihen können, Nicolas?« rief Warwara Petrowna, die nicht mehr an sich halten konnte, und erhob sich eilig, um ihm entgegenzugehen.
Aber Nicolas lachte laut und entschieden auf.
»Das habe ich mir gleich gedacht!« rief er gutmütig und wie scherzend. »Ich sehe, Ihnen ist bereits alles bekannt. Und ich machte mir schon, als ich von hier weggegangen war, während der ganzen Fahrt die größten Sorgen. Ich sagte mir, daß ich doch wenigstens ein Geschichtchen hätte erzählen sollen und nicht so ohne weiteres weggehen durfte. Dann aber fiel mir ein, daß Piotr Stepanowitsch hier bei Ihnen geblieben ist, und ich beruhigte mich.«
Während er das sprach, sah er sich hastig im Zimmer um.
»Piotr Stepanowitsch erzählte uns hier eine alte Petersburger Geschichte aus dem Leben eines Sonderlings,« fiel ihm Warwara Petrowna entzückt ins Wort, »aus dem Leben eines launischen, verdrehten Menschen, der aber immer hohe Gefühle hegt und sich stets ritterlich und edel benimmt ...«
»Ritterlich? Ist es hier schon wirklich so weit gekommen?« lachte Nicolas. »Im übrigen bin ich Piotr Stepanowitsch diesmal für seine Eilfertigkeit dankbar.« Hier wechselte er mit ihm einen schnellen Blick. »Sie müssen nämlich wissen, maman, daß Piotr Stepanowitsch überall als Friedensstifter auftritt. Das ist seine ständige Rolle, es ist seine Krankheit, sein Steckenpferd, und ich empfehle ihn Ihnen von dieser Seite besonders eindringlich. Ich kann mir schon denken, was er Ihnen hier alles zusammengestoppelt hat. Denn er erzählt nicht, sondern stoppelt eben immer etwas zusammen; er hat ein wahres Bureau im Kopf. Beachten Sie übrigens, daß er als Realist nicht lügen kann und daß ihm die Wahrheit mehr ist als der Erfolg ... Ausgenommen natürlich die besonderen Fälle, wo ihm der Erfolg mehr ist als die Wahrheit.« Während er sprach, blickte er sich fortwährend um. »Somit sehen Sie deutlich, maman, daß nicht Sie mich um Verzeihung zu bitten haben, und daß, wenn schon irgendein Wahnsinn vorliegt, er jedenfalls auf meiner Seite zu suchen ist, und daß ich letzten Endes somit doch verrückt bin. – Ich muß doch schließlich den Ruf, den ich hier früher genossen hatte, aufrechterhalten ...«
Bei diesen Worten umarmte er zärtlich seine Mutter.
»Jedenfalls ist jetzt die Sache erzählt und zu Ende, und wir können also zu etwas anderem übergehen«, fügte er hinzu, und diesmal klang in seiner Stimme eine trockene und harte Note. Warwara Petrowna nahm es wahr; aber ihre Exaltation legte sich keineswegs, sondern im Gegenteil, sie stieg sogar.
»Ich habe dich wirklich erst in einem Monat erwartet, Nicolas!«
»Ich werde Ihnen natürlich alles erklären, maman, jetzt jedoch ...«
Und er ging zu Praskowia Iwanowna.
Aber diese drehte ihm kaum den Kopf zu, obwohl sie eine halbe Stunde vorher bei seinem Erscheinen wie betäubt gewesen war. Nun hatte sie indessen wieder neue Sorgen: von dem Augenblick an, da der Hauptmann in der Tür mit Nikolaj Wsewolodowitsch zusammenstieß, hatte Lisa plötzlich zu lachen begonnen, zuerst leise, abgehackt, aber dann immer lauter und heftiger. Eine dunkle Röte überzog ihr Gesicht. Der Gegensatz zu der finsteren Miene, die sie gerade vorher noch gezeigt hatte, war überraschend. Während Nikolaj Wsewolodowitsch mit Warwara Petrowna sprach, winkte sie Mawrikij Nikolajewitsch ein paarmal zu sich heran, wie wenn sie ihm etwas zuflüstern wollte; sobald er sich aber zu ihr herabbeugte, fing sie gleich wieder an zu lachen, so daß man annehmen konnte, daß sie sich gerade über den armen Mawrikij Nikolajewitsch lustig machte. Übrigens suchte sie sich allem Anschein nach zu beherrschen und drückte das Taschentuch krampfhaft gegen die Lippen. Nikolaj Wsewolodowitsch wandte sich mit der unschuldigsten, gutmütigsten Miene zu ihr und begrüßte sie.
»Entschuldigen Sie, bitte,« antwortete sie hastig, »Sie ... Sie haben natürlich auch Mawrikij Nikolajewitsch schon gesehen ... Mein Gott, wie geradezu unerlaubt groß sind Sie doch, Mawrikij Nikolajewitsch!«
Und sie lachte wieder. Mawrikij Nikolajewitsch war allerdings ziemlich groß, aber durchaus nicht »unerlaubt groß«.
»Sind Sie ... schon seit langem hier?« murmelte sie, suchte sich wieder zu beherrschen und wurde dabei sogar verlegen. Aber ihre Augen funkelten.
»Schon seit mehr als zwei Stunden«, antwortete Nicolas, indem er sie aufmerksam betrachtete. Ich bitte zu beachten, daß er ungewöhnlich zurückhaltend und höflich war. Wenn man aber von der Höflichkeit absah, so mußte man sagen, daß er sich vollkommen gleichgültig und sogar matt zeigte.
»Und wo werden Sie denn wohnen?«
»Hier.«
Warwara Petrowna verfolgte mit ihren Blicken auch Lisa, aber plötzlich überraschte sie ein sonderbarer Gedanke.
»Wo warst du denn, Nicolas, während dieser ganzen zwei Stunden?« fragte sie, indem sie sich ihrem Sohne näherte. »Der Zug kommt doch schon um zehn Uhr an.«
»Ich habe erst Piotr Stepanowitsch zu Kirillow gebracht. Und mit Piotr Stepanowitsch traf ich in Matwejewo zusammen (drei Stationen vor unserer Stadt). Wir sind im selben Abteil gefahren.«
»Ich habe schon vom frühen Morgen an in Matwejewo warten müssen«, fiel ihm Piotr Stepanowitsch ins Wort. »In dem Zug, mit dem ich kam, entgleisten die hintersten Wagen; wir haben uns dabei beinah die Beine gebrochen.«
»Die Beine gebrochen?« rief Lisa. »Mama, Mama und wir beide, Sie und ich, wollten doch auch in der vorigen Woche nach Matwejewo fahren; da hätten wir uns doch auch die Beine brechen können!«
»Gott sei barmherzig und bewahre uns davor!« rief Praskowia Iwanowna und bekreuzte sich.
»Mama, Mama, liebe Ma, erschrecken Sie nicht, wenn ich mir wirklich einmal die Beine breche; das kann mir sehr leicht zustoßen; Sie sagen doch selbst, daß ich jeden Tag Hals über Kopf im Galopp reite. Mawrikij Nikolajewitsch, werden Sie mich führen, wenn ich lahm sein werde?« rief sie und begann wieder zu lachen. »Wenn das geschehen sollte, würde ich mich von niemandem sonst führen lassen als von Ihnen, darauf können Sie sich sicher verlassen. Nehmen wir an, daß ich nur ein Bein breche ... Nun, seien Sie doch liebenswürdig und sagen Sie, daß Sie es für ein Glück halten werden.«
»Was ist das schon für ein Glück, wenn man nur ein Bein hat?« erwiderte Mawrikij Nikolajewitsch und machte ein sehr ernstes Gesicht.
»Dafür werden Sie mich auch führen können, Sie allein, sonst keiner!«
»Auch dann werde ich immer noch von Ihnen geführt werden, Lisaweta Nikolajewna«, brummte Mawrikij Nikolajewitsch noch ernster.
»Mein Gott, es scheint, als ob er einen Witz machen wollte!« rief Lisa fast entsetzt. »Mawrikij Nikolajewitsch, wagen Sie es ja nicht, diesen Weg zu beschreiten! Aber was sind Sie doch für ein Selbstling! Ich bin zu Ihrer Ehre überzeugt, daß Sie sich selbst verleumden. Ich glaube sogar, daß Sie mir im Gegenteil von morgens bis abends zu versichern suchen werden, daß ich ohne Bein noch interessanter sei! Eins wäre nur nicht wieder gutzumachen. – Sie sind so schrecklich lang, und ich werde ohne Bein noch viel kleiner sein! Wie wollen Sie mich dann am Arm führen? Wir werden dann kein Paar mehr abgeben können!«
Und sie lachte krampfhaft auf. Ihre Scherze und Anspielungen waren ziemlich platt, aber es lag ihr offenbar sehr wenig daran, sich Lorbeeren damit zu ernten.
»Sie hat einen hysterischen Anfall!« flüsterte mir Piotr Stepanowitsch zu. »Man müßte ihr schnell ein Glas Wasser geben.«
Er hatte recht gehabt; schon eine Minute später waren alle in Aufruhr; man brachte Wasser. Lisa umarmte ihre Mama, küßte sie stürmisch, weinte an ihrer Schulter, wich dann sofort wieder ein wenig zurück, sah ihr durchdringend ins Gesicht und begann von neuem zu lachen. Schließlich fing auch die Mutter an zu plärren. Warwara Petrowna führte beide, so schnell sie konnte, zu sich in die anderen Räume, und zwar durch dieselbe Tür, durch die vor kurzem noch Darja Pawlowna eingetreten war. Aber die Damen blieben dort nicht lange, höchstens etwa vier Minuten ...
Ich gebe mir jetzt Mühe, mich an jede Einzelheit der letzten Augenblicke jenes denkwürdigen Vormittags zu erinnern. Ich besinne mich darauf, daß, als wir damals allein geblieben waren (Darja Pawlowna nicht mitgerechnet, da sie sich nicht einmal von ihrem Stuhl erhoben hatte), Nikolaj Wsewolodowitsch an jeden von uns herantrat und jeden persönlich begrüßte, mit Ausnahme Schatows, der immer noch in seiner Ecke saß und den Kopf noch tiefer gesenkt hielt als vorher. Stepan Trofimowitsch begann mit Nikolaj Wsewolodowitsch irgendein sehr geistreiches Gespräch, aber dieser verließ ihn hastig und begab sich zu Darja Pawlowna. Unterwegs jedoch ergriff ihn Piotr Stepanowitsch an der Hand und schleppte ihn fast mit Gewalt zum Fenster, wo er ihm rasch etwas zuzuflüstern begann, was nach dem Gesichtsausdruck der beiden und den Gesten, die das Geflüster begleitete, anscheinend sehr wichtig war. Nikolaj Wsewolodowitsch hörte sehr lässig und zerstreut zu, hatte sein förmliches Lächeln aufgesetzt und bekundete gegen das Ende sogar Ungeduld, so daß man den Eindruck hatte, als wollte er das Gespräch abbrechen und fortgehen. Er riß sich von Piotr Stepanowitsch los, gerade in dem Augenblick, als unsere Damen wieder zurückkamen. Warwara Petrowna überredete Lisa, ihren früheren Platz wieder einzunehmen und noch wenigstens zehn Minuten zu warten, da, wie sie behauptete, frische Luft den kranken Nerven wohl kaum guttun könnte. Sie war um Lisa außerordentlich besorgt und setzte sich sogar selbst neben sie. Zu ihnen beiden sprang sofort der nunmehr freigewordene Piotr Stepanowitsch hin und knüpfte ein lebhaftes und heiteres Gespräch an. Gerade in diesem Augenblick trat Nikolaj Wsewolodowitsch mit seinen ruhigen Schritten an Darja Pawlowna heran; Dascha erbebte förmlich bei seiner Annäherung und stand dann in sichtlicher Erregung hastig auf. Ihr Gesicht war von einer tiefen Röte Übergossen.
»Man kann Ihnen wohl gratulieren ... oder noch nicht?« fragte er, wobei sich auf seiner Stirn eine merkwürdige Falte bildete.
Dascha antwortete ihm etwas, was wir aber nicht verstehen konnten.
»Verzeihen Sie mir die Indiskretion,« sagte er mit erhobener Stimme, – »aber Sie wissen doch wohl, daß ich ausdrücklich davon benachrichtigt worden bin. Wissen Sie das?«
»Ja, ich weiß es.«
»Ich hoffe jedoch, daß ich durch meinen Glückwunsch keinen Schaden angerichtet habe,« meinte er lachend, »und wenn Stepan Trofimowitsch ...«
»Wozu, wozu wünschen Sie hier Glück?« fragte Piotr Stepanowitsch, der auf einmal ebenfalls hinzusprang. »Wozu soll man Ihnen Glück wünschen, Darja Pawlowna? Bah! Wohl zu demselben Ereignis? Ihre Röte bezeugt mir, daß ich mich nicht geirrt habe. In der Tat, wozu soll man unseren schönen jungen und tugendhaften Damen auch am meisten Glück wünschen und über welche Gratulationen und Glückwünsche pflegen sie am häufigsten zu erröten? Nun, dann nehmen Sie auch meinen Glückwunsch entgegen, wenn ich richtig geraten habe, und bezahlen Sie Ihre Schuld, denn Sie haben die Wette verloren. Wissen Sie noch, wie Sie in der Schweiz gewettet haben, Sie würden nie heiraten ... Ach ja, da wir nun schon einmal von der Schweiz sprechen ... Was mache ich nur! Denken Sie sich: ich bin ja gewissermaßen auch deshalb hierhergekommen und habe es doch beinah vergessen! Sag mir doch bitte,« wandte er sich schnell an Stepan Trofimowitsch, »wann fährst du denn nach der Schweiz?«
»Ich ... nach der Schweiz?« erwiderte Stepan Trofimowitsch erstaunt und verlegen.
»Wie? Willst du denn nicht hinfahren? Aber du heiratest doch auch ... Du hast es mir ja selbst geschrieben!«
»Pierre!« rief Stepan Trofimowitsch.
»Was heißt hier, Pierre ... Sieh mal, wenn es dir eine Freude macht, so will ich dir sagen, daß ich hauptsächlich deshalb hierhergeflogen bin, um dir mitzuteilen, daß ich gegen deine Heirat nicht das geringste einzuwenden habe, da du doch nun einmal gewünscht hast, meine Meinung so schnell wie möglich zu erfahren. Wenn es schon durchaus notwendig ist, dich zu ›retten‹,« schüttete er seine Worte wie Erbsen heraus, »wie du in demselben Brief schreibst, und um was du mich inständig bittest, so stehe ich auch darin ganz zu deinen Diensten. Ist es wahr, daß er heiratet, Warwara Petrowna?« wandte er sich hastig an sie. »Ich hoffe, daß ich nicht indiskret bin; er schreibt mir da selbst, daß es schon die ganze Stadt weiß und daß ihm alle Glück wünschen, und daß er, um den Gratulationen auszuweichen, nur nachts aus dem Hause geht. Den Brief habe ich hier in der Tasche. Aber glauben Sie wohl, Warwara Petrowna, daß ich gar nicht klug daraus werden kann? Sag du mir nur das eine, Stepan Trofimowitsch, was soll ich tun: dir gratulieren, oder dich ›retten‹? Denken Sie sich nur, Warwara Petrowna, neben Zeilen, die die höchste Glückseligkeit atmen, schreibt er wieder andere nieder, die voll ärgster Verzweiflung sind. Erstens bittet er mich um Verzeihung; nun, das liegt allerdings in seiner Art ... Übrigens kann ich es auch nicht verschweigen: denken Sie sich nur, der Mensch hat mich nur zweimal in seinem Leben und auch dann nur ganz zufällig gesehen und bildet sich jetzt, da er seine dritte Ehe eingehen will, plötzlich ein, daß er dadurch irgendwelche Vaterpflichten mir gegenüber verletze und fleht mich auf tausend Werst Entfernung an, ihm deshalb nicht böse zu sein und es ihm zu erlauben! Fühle dich bitte nicht gekränkt, ich begreife, daß es eben der Geist deiner Zeit ist, ich bin großzügig und verurteile niemand so leicht. Das Ganze macht dir vielleicht Ehre, aber die Hauptsache ist, daß ich eben die Hauptsache nicht verstehe. Da steht in deinem Brief etwas von irgendwelchen ›Sünden in der Schweiz‹. ›Ich heirate‹, schreibst du, ›Sünden‹ oder ›fremde Sünden‹! Ich weiß nicht mehr genau, wie es da heißt, jedenfalls behauptet er, ›Sünden‹ zu heiraten. ›Das Mädchen‹, schreibt er, ›ist eine Perle, ein Diamant‹, nun, und er ist natürlich ›ihrer unwürdig‹, das ist so sein Stil; wegen gewisser Umstände und Sünden aber, sei er gezwungen ›zu heiraten, um nach der Schweiz zu fahren‹, und deshalb müßte ich ›alles stehen und liegen lassen‹ und hierherfliegen, um ihn zu ›retten‹. Können Sie daraus klug werden? Übrigens aber ... übrigens merke ich an dem Ausdruck der Gesichter,« er drehte sich mit dem Briefe in der Hand herum und betrachtete mit unschuldigem Lächeln die Anwesenden, »daß ich wie gewöhnlich auch hier wieder einmal einen Bock geschossen habe ... infolge meiner dummen Offenherzigkeit oder, wie Nikolaj Wsewolodowitsch es nennt, Übereilung. Ich dachte doch, daß wir hier unter guten Freunden sind, unter Menschen, die sich einander nahestehen, das heißt, dir nahestehen, dir, Stepan Trofimowitsch, denn ich bin ja im Grunde genommen ein Fremder und sehe ... und sehe, daß alle etwas wissen, was gerade mir unbekannt ist.«
Er sah sich immer noch um.
»Hat Ihnen Stepan Trofimowitsch wirklich geschrieben, daß er ›fremde, in der Schweiz begangene Sünden heirate‹ und daß Sie hierher eilen müßten, um ihn zu ›retten‹? Hat er wirklich diese Ausdrücke gebraucht?« fragte Warwara Petrowna, die plötzlich aufstand und an Piotr Stepanowitsch herantrat. Sie war ganz gelb geworden, ihre Gesichtszüge hatten sich verzerrt, und ihre Lippen bebten.
»Das heißt, sehen Sie wohl ... wenn ich da etwas nicht verstanden habe,« erwiderte Piotr Stepanowitsch anscheinend sehr erschrocken und redete noch hastiger als zuvor, »so ist natürlich er daran schuld, weil er so schreibt. Hier ist sein Brief. Wissen Sie, Warwara Petrowna, er schreibt unendlich lange Briefe und ohne Aufhören! In den letzten zwei, drei Monaten hat er mir Brief auf Brief geschickt, und ich muß gestehen, daß ich sie schließlich mitunter gar nicht zu Ende gelesen habe. Nimm mir das nicht übel, dieses dumme Bekenntnis, aber gestehe doch, bitte, daß du diese Briefe zwar an mich adressiert, sie aber doch mehr für die Nachkommenschaft geschrieben hast; so daß es dir doch wohl gleichgültig sein kann ... Nun, nun, fühle dich nicht gekränkt, wir beide sind uns doch nicht fremd! Aber diesen Brief, Warwara Petrowna, diesen Brief habe ich zu Ende gelesen. Diese ›Sünden‹, diese ›fremden Sünden‹, das sind gewiß irgendwelche kleine Sünden, die er selbst begangen hat, und ich möchte darauf wetten, daß es Sünden unschuldigster Art sind, denen zufolge er aber plötzlich auf den Einfall gekommen ist, eine furchtbare Geschichte mit hochedler Färbung daraus zu machen! Und gerade dieser hochedlen Färbung wegen hat er diesen Einfall in die Tat umgesetzt. Außerdem, sehen Sie wohl, will bei uns im Rechnungswesen etwas nicht recht stimmen, – das muß schließlich auch eingestanden werden. Wir sind nämlich ein wenig mit einer Leidenschaft für das Kartenspiel behaftet ... Übrigens ist das überflüssig, was ich da sage, sogar ungehörig, entschuldigen Sie, ich bin zu schwatzhaft, aber bei Gott, Warwara Petrowna, er hat mich erschreckt, und ich habe mich tatsächlich dazu bereit gemacht, ihn zu ›retten‹. Schließlich schäme ich mich auch selbst. Setze ich ihm denn etwa das Messer an die Kehle? Bin ich vielleicht ein unerbittlicher Gläubiger? Er schreibt da etwas von einer Mitgift ... Willst du denn auch wirklich heiraten, Stepan Trofimowitsch? Es ist doch auch möglich, daß du das ganze Gerede nur eben der schönen Worte wegen angefangen hast ... Ach, Warwara Petrowna, ich bin überzeugt, daß auch Sie mir vielleicht zürnen, und zwar ebenfalls meiner Ausdrucksweise wegen ...«
»Im Gegenteil, im Gegenteil, ich sehe, daß Sie Ihre Geduld verloren haben; und gewiß haben Sie nicht ohne Grund so gehandelt«, fiel ihm Warwara Petrowna boshaft ins Wort.
Sie hatte mit rechter Schadenfreude dem ganzen »wahrheitsgemäßen« Wortschwall zugehört. Piotr Stepanowitsch spielte offenbar irgendeine Rolle. Was das für eine Rolle war, wußte ich damals noch nicht. Aber daß er eine Rolle hatte, unterlag keinem Zweifel, denn er spielte sie sogar ziemlich plump.
»Im Gegenteil,« fuhr sie fort, »ich bin Ihnen sogar außerordentlich dankbar dafür, daß Sie sich ausgesprochen haben; ohne Sie hätte ich das alles gar nicht erfahren. Zum erstenmal seit zwanzig Jahren gehen mir die Augen auf. Nikolaj Wsewolodowitsch, Sie sagten soeben, daß auch Sie ausdrücklichst benachrichtigt worden sind. Hat Stepan Trofimowitsch etwa auch an Sie in diesem Sinne geschrieben?«
»Ich habe von ihm einen sehr unschuldigen und ... und sehr edel verfaßten Brief bekommen ...«
»Sie finden nur mit Mühe das richtige Wort, Sie sind verlegen – genug! Stepan Trofimowitsch, ich erwarte von Ihnen, daß Sie mir einen außerordentlichen Gefallen tun werden«, wandte sie sich plötzlich mit funkelnden Augen an meinen Freund. »Haben Sie die Güte, uns jetzt sofort zu verlassen. Und in Zukunft ersuche ich Sie, nie wieder über die Schwelle meines Hauses zu treten!«
Ich bitte den Leser, sich an die vorherige »Exaltation« Warwara Petrownas zu erinnern, die auch jetzt noch nicht vorüber war. Allerdings war Stepan Trofimowitsch tatsächlich sehr schuldig! Was mich aber damals entschieden verblüfft hatte, war die bewundernswerte Würde, mit der er sowohl die »Enthüllungen« seines Petruscha als auch den »Bannfluch« Warwara Petrownas, ohne sie zu unterbrechen, über sich ergehen ließ. Woher hatte er auf einmal soviel Mut und Geistesgegenwart genommen? Ich hatte nur bemerkt, daß er vorher unzweifelhaft und tief gekränkt worden war, namentlich bei den ersten Umarmungen mit seinem Sohn. Das war ein tiefes und seiner Ansicht nach echtes Herzeleid. Auch hatte er in diesem Augenblick noch ein anderes Leid, nämlich das peinliche Bewußtsein, daß er immerhin eine gemeine Handlung begangen hatte. Das gestand er mir später ganz offen selbst. Das wirkliche, echte, unzweifelhafte Leid aber kann sogar einen ganz außerordentlich leichtsinnigen Menschen mitunter gesetzt und standhaft machen, wenigstens auf kurze Zeit. Ja, sogar noch mehr: durch ein wirkliches, echtes Leid wurden bisweilen sogar Dummköpfe klug, natürlich ebenfalls nur für eine kurze Zeit. Das ist nun einmal eine Eigenschaft eines solchen Leides. Wenn dem aber so ist, was konnte da alles mit einem solchen Menschen wie Stepan Trofimowitsch geschehen? Doch eine ganze Umwälzung, – natürlich gleicherweise nur für eine gewisse Zeit.
Es verbeugte sich würdevoll vor Warwara Petrowna und erwiderte kein Wort. Allerdings blieb ihm auch nichts weiter übrig. Er wollte schon so stumm fortgehen, konnte sich aber doch nicht beherrschen und trat an Darja Pawlowna heran. Diese schien das bereits selbst geahnt zu haben, denn sie begann sofort ganz erschrocken als erste zu sprechen, wie wenn sie ihm zuvorkommen wollte.
»Ich bitte Sie, Stepan Trofimowitsch, um Gottes willen sagen Sie nichts,« begann sie in fieberhafter Eile und mit schmerzlichem Gesichtsausdruck; sie streckte ihm dabei hastig die Hand entgegen, »seien Sie überzeugt, daß ich Sie immer noch genau so achte ... und immer in gleicher Weise schätze und ... denken Sie auch von mir gut, Stepan Trofimowitsch; das wird mir sehr, sehr viel wert sein ...«
Stepan Trofimowitsch machte ihr eine tiefe, tiefe Verbeugung.
»Du hast freien Willen, Darja Pawlowna, du weißt, daß du in der ganzen Sache immer volle Freiheit hattest und hast! So war es, so ist es jetzt, und so wird es auch in Zukunft sein«, erklärte Warwara Petrowna mit großem Nachdruck.
»Bah! Nun begreife auch ich alles!« rief Piotr Stepanowitsch und schlug sich vor die Stirn. »Aber ... aber in was für eine Situation bin ich denn hineingestellt worden? Darja Pawlowna, bitte, verzeihen Sie mir! ... Was hast du nur mit mir gemacht?« wandte er sich an seinen Vater.
»Pierre, du könntest dich mir gegenüber etwas anders ausdrücken, nicht wahr, mein Freund?« sagte Stepan Trofimowitsch leise, sogar sehr leise.
»Schrei doch bitte nicht so«, rief Pierre und machte eine abwehrende Handbewegung. »Glaube mir, an allem sind deine alten, kranken Nerven schuld, und das Schreien wird zu nichts führen. Sag' du mir lieber, warum hast du mich nicht von vornherein von allem in Kenntnis gesetzt, da du dir doch selbst sagen mußtest, daß ich gleich davon zu sprechen anfangen werde?«
Stepan Trofimowitsch sah ihn durchdringend an.
»Pierre, du, der du soviel von dem weißt, was hier vorgeht, solltest du wirklich von dieser Sache nichts gewußt, nichts gehört haben?«
»Wa–a–as? Was sind das nur für Menschen! Nicht genug, daß wir alte Kinder sind, wir sollen also außerdem auch noch schlechte Kinder sein? Warwara Petrowna, haben Sie gehört, was er gesagt hat?«
Es erhob sich ein großer Lärm; aber hier geschah plötzlich etwas, was niemand hätte erwarten können.
Vor allen Dingen muß ich erwähnen, daß in den letzten paar Minuten Lisaweta Nikolajewna wieder unruhig geworden war; sie flüsterte hastig mit ihrer Mama und mit Mawrikij Nikolajewitsch, der sich zu ihr herabgebeugt hatte. Ihr Gesicht drückte zwar eine Erregung, gleichzeitig aber auch eine große Entschlossenheit aus. Schließlich stand sie von ihrem Platz auf, hatte es offenbar eilig, wegzufahren und drängte auch ihre Mutter, der Mawrikij Nikolajewitsch beim Aufstehen aus dem Sessel behilflich war, zur Eile. Aber es schien ihnen wohl nicht beschieden zu sein, wegzufahren, ehe sie alles bis zu Ende gesehen hatten.
Schatow, der von allen vergessen in seiner Ecke nicht weit von Lisaweta Nikolajewna saß und anscheinend selbst nicht wußte, weshalb er hier geblieben war, erhob sich plötzlich von seinem Stuhl, ging ohne Eile, aber mit festen Schritten durch das ganze Zimmer zu Nikolaj Wsewolodowitsch hin und sah ihm dabei gerade ins Gesicht. Dieser hatte ihn schon von weitem bemerkt und lächelte leise; als aber Schatow dicht vor ihm stehen blieb, hörte er auf zu lächeln.
Sobald sich Schatow ihm genähert hatte und nun die Augen ganz unverwandt auf ihn richtete, fiel das allen auf (Piotr Stepanowitsch zuletzt), und alle verstummten. Lisa und die Mama blieben mitten im Zimmer stehen. So vergingen etwa fünf Sekunden; der Ausdruck dreister Verwunderung auf dem Gesicht Nikolaj Wsewolodowitschs wurde von dem Ausdruck des Zorns abgelöst, er zog die Brauen zusammen, und plötzlich ...
Und plötzlich holte Schatow mit seinem langen, schweren Arm aus und schlug Stawrogin aus voller Kraft auf die Backe. Nikolaj Wsewolodowitsch schwankte und taumelte.
Schatow hatte aber auf eine besondere Weise geschlagen, ganz und gar nicht so, wie man sonst zu ohrfeigen pflegt, wenn man sich so ausdrücken darf. Er schlug nicht mit der flachen Hand, sondern mit der ganzen Faust, und seine Faust war groß, schwer, knochig, mit rötlichen Härchen und vielen Sommersprossen. Hätte er die Nase getroffen, so wäre wohl die Nase zerschmettert gewesen. Aber der Schlag traf die Backe und den linken Mundwinkel und somit auch die Oberzähne, aus denen sofort Blut zu fließen begann.
Ich glaube, es erscholl ein blitzartiger Aufschrei. Vielleicht hatte ihn Warwara Petrowna ausgestoßen, ich kann mich daran nicht genau erinnern, weil alle sofort wieder wie erstarrt standen. Übrigens dauerte der ganze Auftritt nicht länger als etwa zehn Sekunden.
Nichtsdestoweniger ereignete sich in diesen zehn Sekunden ungemein viel.
Ich erinnere den Leser wieder daran, daß Nikolaj Wsewolodowitsch zu denjenigen Naturen zählte, die keine Furcht kennen. Beim Duell konnte er vor der Pistole seines Gegners ganz kaltblütig dastehen, dabei selbst zielen und mit einer geradezu brutalen Ruhe töten. Hätte ihn jemand geohrfeigt, so würde er, glaube ich, den Beleidiger gar nicht erst zum Duell gefordert, sondern gleich auf der Stelle getötet haben. Er war nun einmal so beschaffen und hätte den Totschlag mit vollem Bewußtsein begangen und keineswegs in sinnloser Erregung. Mich dünkt sogar, daß er jene Zornesausbrüche, die den Menschen blind machen und ihm die Überlegung rauben, gar nicht kannte. Trotz der grenzenlosen Wut, die sich seiner mitunter bemächtigte, war er dennoch imstande, sich vollkommen zu beherrschen und sich somit durchaus bewußt zu sein, daß man ihn für einen nicht im Duell verübten Totschlag unbedingt zur Zwangsarbeit nach Sibirien verschicken würde; trotzdem aber hätte er den Beleidiger, ohne im geringsten zu zaudern, umgebracht.
Ich habe Nikolaj Wsewolodowitsch in dieser letzten Zeit ganz genau studiert und weiß infolge besonderer Umstände, während ich das niederschreibe, sehr viel Tatsachen über ihn. Ich hätte ihn vielleicht mit einigen der Herren aus der noch nicht weit zurückliegenden Vergangenheit verglichen, die in unserer Gesellschaft bis auf den heutigen Tag geradezu legendäre Erinnerung hinterlassen haben. Man erzählte zum Beispiel, daß der Dekabrist L–n das ganze Leben lang die Gefahr absichtlich aufgesucht habe, sich stets an dem Gefühl dieser Gefahr berauschte und diese Empfindung zu einem Bedürfnis seiner Natur gemacht hatte; in seiner Jugend sollte er sich oft ganz ohne jeden Grund duelliert haben; in Sibirien pflegte er nur mit einem Messer bewaffnet auf die Bärenjagd zu gehen und stieß in den sibirischen Wäldern sehr gern mit entlaufenen Sträflingen zusammen, die, nebenbei gesagt, noch viel furchtbarer sind als der Bär. Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese legendären Herren durchaus fähig waren (und vielleicht sogar im hohen Maße), Furcht zu empfinden, – sonst wären sie viel ruhiger gewesen und das Gefühl der Gefahr wäre nicht zu einem Bedürfnisse ihrer Natur geworden. Aber es reizte sie eben, die in ihnen steckende Feigheit zu überwinden. Es zog sie die ununterbrochene Siegestrunkenheit an und das Bewußtsein, daß es keinen Stärkeren gäbe. Dieser L–n hatte schon vor seiner Verbannung eine Zeitlang mit dem Hunger zu kämpfen gehabt und mußte sich sein Brot durch schwere Arbeit verdienen, einzig und allein, weil er sich den Forderungen seines reichen Vaters, die er für ungerecht hielt, nicht fügen wollte. Also faßte er den Kampf recht vielseitig auf; nicht nur den Bären gegenüber und nicht nur in Duellen schätzte er seine Festigkeit und seine Charakterstärke.
Aber seit jener Zeit sind immerhin sehr viele Jahre vergangen, und die nervöse, abgequälte und zerspaltene Natur der Menschen unserer Zeit kann jetzt überhaupt kein Bedürfnis nach jenen starken, unmittelbaren und vollen Empfindungen aufkommen lassen, nach denen damals manche in ihrer Tätigkeit so unruhig sich gebärdenden Herren der alten guten Zeit begierig waren. Nikolaj Wsewolodowitsch hätte den L–n vielleicht von oben herab behandelt und ihn wohl gar einen immer tapfer tuenden Feigling und ein Hähnchen genannt; allerdings würde er es vielleicht nicht laut ausgesprochen haben. Nikolaj Wsewolodowitsch hätte ebenfalls im Duell seinen Gegner erschossen und wäre auch allein auf die Bärenjagd gegangen, wenn es not getan hätte, und er würde sich auch im Walde eines Räubers erwehren können, alles genau so erfolgreich und ebenso furchtlos wie L–n, dafür aber ohne die geringste Lustempfindung und einzig und allein der unangenehmen Notwendigkeit zufolge, träge, matt und sogar gelangweilt. Somit war er, was Bosheit anbelangt, dem L–n und sogar Lermontow weit überlegen. Wut und Bosheit hatte Nikolaj Wsewolodowitsch wohl mehr in sich als diese beiden zusammen, aber die Bosheit war eine kalte, ruhige, und, wenn man so sagen darf, eine vernünftige, also die widerlichste und furchtbarste, die es geben kann. Ich wiederhole: ich hielt ihn damals und halte ihn auch jetzt noch, wo alles schon zu Ende ist, gerade für so einen Menschen, der, wenn er geohrfeigt wäre, oder eine ähnliche Beleidigung von gleicher Stärke empfangen hätte, seinen Gegner unverzüglich, sofort, auf dem Fleck und ohne jede Herausforderung zum Duell einfach umgebracht hätte.
Und doch geschah jetzt etwas ganz Anderes und Seltsames.
Kaum hatte er sich wieder gefaßt und aufgerichtet, nachdem er, infolge der erhaltenen Ohrfeige getaumelt und sich so schmählich, beinah bis zur Hälfte seiner Höhe zur Seite gebeugt hatte, als noch, wie es mir schien, der gemeine und gewissermaßen feuchte Klang von dem Faustschlag im Zimmer nicht ganz verhallt war, da faßte er sofort Schatow mit beiden Händen an den Schultern ... Aber gleich darauf, fast im selben Augenblick, zog er seine beiden Arme wieder zurück und verschränkte sie hinter seinem Rücken. Er schwieg, sah Schatow durchdringend an und wurde immer blasser und blasser, bis er so bleich war wie sein Hemd. Aber seltsam: sein Blick schien erloschen zu sein. Nach zehn Sekunden waren seine Augen kalt und – ich bin überzeugt, die Wahrheit zu erzählen – ganz ruhig. Er sah nur entsetzlich blaß aus. Ich weiß natürlich nicht, was in ihm vorging, ich sah nur die Außenseite. Es dünkt mich, daß, wenn es jemanden gäbe, der, um seine Standhaftigkeit zu erproben, eine rotglühende eiserne Stange ergriffen und in seiner Hand etwa zehn Sekunden lang festgehalten hätte, diese ganze Zeit mit dem entsetzlichen Schmerz gekämpft und ihn schließlich überwunden hätte, dann würde, glaube ich, dieser Mensch etwas Ähnliches empfunden haben wie jetzt Nikolaj Wsewolodowitsch in diesen zehn Sekunden.
Als erster senkte Schatow die Augen und offenbar, weil er sich gezwungen sah, zu Boden zu blicken. Dann wandte er sich langsam um und ging aus dem Zimmer, aber keineswegs mehr mit demselben Gange, mit dem er noch kurz vorher an Nikolaj Wsewolodowitsch herangetreten war. Er entfernte sich langsam, mit eigentümlich und unbeholfen hochgezogenen Schultern, mit gesenktem Kopf und wie mit sich selbst über etwas streitend. Bis zur Tür gelangte er ohne an etwas anzustoßen oder etwas umzuwerfen und öffnete sie nur ein ganz klein wenig, so daß er durch die entstandene Öffnung beinah seitwärts durchkriechen mußte. Während er hindurchschlüpfte, fiel der auf seinem Hinterkopf hochstehende Haarbüschel besonders stark auf.
Dann erscholl vor allen anderen Aufrufen ein ganz furchtbarer Schrei. Ich sah, wie Lisaweta Nikolajewna ihre Mutter an der Schulter und Mawrikij Nikolajewitsch an der Hand faßte, die beiden zwei- oder dreimal hinter sich aus dem Zimmer zu reißen versuchte, dann aber plötzlich aufschrie und ganz steif ohnmächtig zu Boden sank. Bis heute ist es mir noch, als höre ich, wie sie mit dem Hinterkopf auf den Teppich aufschlug.